20. Sept. 2016 - Mirjam Bächtold, Appenzeller Volksfreund

Jeder Gipfel eine Geschichte

Kurt Haberstich hat in seinem Leben über 1000 Berge bestiegen und wandert auch im Ruhestand weiter
Man nannte ihn den Aargauer Reinhold Messner – bis ein schwerer Gleitschirmunfall seiner Bergsteigerei ein Ende setzte. Die Berge rufen Kurt Haberstich aber immer noch. Wandernd verbringt er fast jede freie Minute im Alpstein.

Er steht morgens um 4 Uhr auf, schnürt seine Wanderschuhe und marschiert los. «Schnell mal auf den Säntis», wie Kurt Haberstich es bezeichnet. Was für andere bereits eine strenge Wanderung ist, macht der 68-Jährige vor dem Mittagessen. Um 12 Uhr ist er bereits wieder zurück in Appenzell. Stillsitzen ist ein Wort, das Kurt Haberstich nicht kennt. Er könnte seinen Ruhestand auch lesend im Sessel verbringen, doch das passt ihm nicht. «Ich muss aktiv sein, mich bewegen können», sagt er.

Abenteuer in der Kälte
Schon als Kind hatte er diesen Bewegungsdrang. Im Kunstturnen konnte er diesen ausleben. Und dann kam der Moment, der seinem Leben eine neue Richtung gab: Während einer Wanderung sah Kurt Haberstich eine Gruppe, die sich von einer Felswand abseilte. «Das war damals noch etwas Aussergewöhnliches, nicht so alltäglich wie heute», sagt er. Es war etwas, das er auch ausprobieren wollte, also meldete er sich zu einem Kletterkurs an. Das war der Beginn seiner Leidenschaft. «Danach habe ich einen Gipfel um den anderen bestiegen.»
Einer war der kälteste Berg der Welt: der 6194 Meter hohe Mount McKinley in Alaska, heute bekannt unter seinem indianischen Namen Denali. «Wir brauchten länger als geplant, weil es etwa sechs Meter Neuschnee gegeben hatte», erzählt Kurt Haberstich. Der Wind hatte die Zelte der Bergsteiger zerfetzt, so dass sie Iglus graben mussten. «Wir hatten Hunger und in den Iglus hatten wir wenig Sauerstoff und waren kurz vor dem Einschlafen. Wenn nicht ein Kollege alle geweckt hätte, wären wir erfroren.»

Mit 35 das Testament geschrieben
Jede Expedition ist eine Geschichte, die Kurt Haberstich spannend erzählt. Als er 35 Jahre alt war, gründete er mit anderen Bergsteigern die Schweizer Spitzbergen Expedition. Gemeinsam bestiegen sie etliche Gipfel am Polarkreis, die zwischen 1500 und 1700 Meter hoch sind. «Das klingt nicht sehr hoch. Aber so nahe am Polarkreis herrschen auf den Bergen Bedingungen wie auf einem Viertausender», erklärt Kurt Haberstich. Vor dieser Expedition hatte er sein Testament geschrieben. «Ein ziemlich waghalsiges Unternehmen. Unsere Funkgeräte waren kaputt, in einem Notfall hätten wir den verletzten Kollegen wahrscheinlich seinem Schicksal überlassen müssen.»
Für Kurt Haberstichs Frau Ilse war das nicht immer einfach. «Ich musste ihn einfach gehen lassen, auch wenn ich Angst um ihn hatte», sagt sie. «Wenn er weg war, konnte ich nur auf Gott vertrauen.» Kurt Haberstich hatte damals sein ganzes Leben nach den Bergen ausgerichtet: die Ernährung, das Training, alles war auf sein extremes Hobby abgestimmt. Oft packte er am Freitag gleich nach Feierabend seine Ausrüstung und fuhr los in die Berge, um erst am Sonntagabend spät zurück zu kommen.

Kein Gipfelsammler
Kurt Haberstich hat die Gipfel nie bestiegen, um sie danach auf einer Liste abzuhaken und zu sagen, «den habe ich auch geschafft.» «Ich bin kein Gipfelsammler, ich bin immer einfach aus Freude geklettert. Die Medien gaben ihm den Titel Aargauer Reinhold Messner, weil er damals noch im Aargau wohnte. Nach Besteigungen in Peru und Marokko hatte er weitere Pläne, trainierte für den höchsten Berg Südamerikas, doch dann kam der Tag, der seine Bergsteigerei beendete. Bei einem Gleitschirmflug geriet er in Turbulenzen, hatte den Schirm nicht mehr unter Kontrolle und prallte mit 60 Stundenkilometer in eine Felswand. Wäre nicht ein Fluglehrer mit Schülern am selben Ort gewesen, hätte Kurt Haberstich kaum überlebt. «Mein Sprunggelenk war zehn Mal gebrochen, Ellenbogen gequetscht, Schulter und Hüfte ausgekugelt.» Nach dem Unfall konnte er lange Zeit überhaupt keinen Sport mehr machen. «Ich brauchte eine neue Beschäftigung.» Sobald er seine Hände wieder bewegen konnte, begann er, seine Gedanken niederzuschreiben. Daraus sind bis heute mehrere Bücher entstanden. Das Schreiben ist Kurt Haberstichs zweite Leidenschaft.

Sorgen vergessen
Noch heute spürt Kurt Haberstich die Folgen seines Unfalls. Sein rechter Fuss ist teilweise steif. Trotzdem kann er wieder wandern, was er auch fast täglich tut, wenn das Wetter stimmt. Vor kurzem sind er und seine Frau nach Appenzell gezogen. «Der Ort hat am ehesten unseren Bedürfnissen entsprochen», sagt er. Den Alpstein kennt er schon sehr gut. «Wenn man nicht nur aufs Klettern fixiert ist, sieht man, wie vielseitig der Alpstein ist.» Zum Wandern nimmt er nur das Nötigste mit. «Auf den Bergen werde ich leichter», sagt er. «Es ist wie im Lied von Reinhard Mey: alle Sorgen werden in der Höhe unwichtig und klein.»