23. Juli 1987 - Aargauer Kurier

„Ich bin kein Gipfelsammler“

Er stand schon auf den höchsten Bergen Nordamerikas und Perus, durchquerte Spitzbergen und beging zuletzt im Alleingang mit den Skies das afrikanische Atlasgebirge. Immer aber war ihm das Erlebnis „Natur“ wichtiger als die Höhenmeter. „Ich bin kein Gipfelsammler“, sagt Kurt Haberstich denn auch von sich – und das will der 39jährige Alpinist aus Oberentfelden doppelt unterstrichen wissen.

„Der Wind riss an unserem Notbiwak, unerbittlich türmte sich der Schnee, der Sturm wollte und wollte nicht nachgeben, wir sassen stundenlang fest in der eisigen Kälte“, schildert Kurt Haberstich die bangen Momente vor fünf Jahren am Mount McKinley in Alaska, dem höchsten Berg Nordamerikas und dem kältesten der Welt dazu. Damals bewegte er sich in einer jener Grenzsituationen zwischen Leben und Tod, die viele Extremalpinisten schon erlebt haben – sie aber trotzdem immer wieder suchen. Das kommt nicht von ungefähr: „Was bietet denn unser Alltag noch an echten Bewährungsproben, wir kennen die elementaren Probleme kaum mehr, es ist ja alles geregelt, versichert?“ stellt Kurt Haberstich beinahe vorwurfvoll fest. Dazu kommt bei ihm ein schier unstillbarer Freiheitsdrang sowie eine Prise Abenteuerlust, wie er mit funkelnden Augen offen zugibt. „Berge bezwingen und dem Tod von der Schippe springen, kann aber nur, wer sich selbst wirklich kennt und fähig ist, sich mit der Umwelt zu solidarisieren“, hat Haberstich erfahren. Nicht umsonst bezeichnet er sich als Alpinist, und nicht als Sportkletterer. „Bei mir steht immer das Naturerlebnis im Vordergrund.“ Haberstich gehört deshalb auch nicht zu den Rekordjägern, die möglichst viele Trophäen zu Tale tragen wollen. Dies, obwohl er den weltbesten Kletterern in punkto Fitness bestimmt in nichts nachsteht. „Ich gehe nur auf Touren, wenn ich hundertprozentig in Form bin.“ Und dafür tut der diplomierte Betriebsfachmann wohl ebensoviel wie ein Spitzensportler: Velofahren, Jogging, Schwimmen und Skitouren stehen auf seinem Programm. Diese Schinderei ist für ihn bloss Mittel zum Zweck. „Damit ich das Risiko so klein halten kann wie möglich“, verrät Haberstich. Ja, er kenne zwar Angst, aber nicht dieselbe wie im Alltag – droben im Berg sei’s eine andere, eine zufriedene: „Wenn die Natur halt stärker ist, würde ich sogar den Tod akzeptieren.“

Beweis genug also, dass „droben“ eine andere Welt sein muss. Eine ursprüngliche, wo der Mensch Hand in Hand gehen muss mit der Natur, will er wieder heil nach Hause kommen. In dieser Welt kommen Kurt Haberstich jeweils ganz tiefe Gedanken, die er dann bei nächst bester Gelegenheit aufschreibt. Auf diese Weise sind schon einige illustrierte Bücher entstanden, die seine Empfindungen wiedergeben – hoch oben über dem Alltag, wo die vielen Probleme des zivilisierten Lebens plötzlich so nichtig erscheinen und klein.

Überhaupt: Für Haberstich ist der Kopf mindestens gleich wichtig wie die Beine. So enthielt beispielsweise die Vorbereitung zur Besteigung des höchsten Berges von Peru, des 6768 Meter hohen Huascaran, neben Fitness-Training auch Spanischunterricht („damit ich nicht wie ein blöder Tourist ins Land einfallen musste“).

Wieder zu Hause, verarbeitet Haberstich seine vielen Eindrücke, archiviert sie in Wort sowie meisterhafte Bildern und geht auf Vortragsreisen. „Um den Leuten etwas von der Faszination der Bergwelt zu vermitteln, die nicht die Möglichkeit haben, an Expeditionen teizunehmen.“ Denn das ist fürwahr kein billiges Hobby. Neben dem vielen Trainingsschweiss kostet es auch ein gerüttelt Mass an Geld. „Ohne das Verständnis meiner Freundin ginge das nie“, gibt Haberstich zu und blickt dankbar zu seiner Lebensgefährtin Ilse. Sie, die seit kurzem – so könnte man vermuten – noch mehr Angst haben muss. Denn neuerdings steigt Haberstich nicht mehr zu Fuss von den Bergen, sondern segelt per Gleitschirm zu Tale. Aber wie gesagt: Die Angst des Alpinisten ist eine andere; eine, die so natürlich ist wie in der Urzeit, als Tod und Vergänglichkeit noch keine Tabus waren. Daher ist die Angst auch kein Thema, wenn Kurt Haberstich dereinst mit dem Gleitschirm Richtung Kaukasus verreist, wo der höchste Berg Europas wartet. Gleich stellt der Aargauer aber klar: „Den will ich nicht in erster Linie besteigen - sondern eben erleben!“

Stefan Aerni