Sprüche mit Tradition

Land und Wetter

LandLiebe, Frühlingserwachen 2022 / Sabrina Glanzmann

Waren Bauernregeln für den landwirtschaftlichen Alltag einst unverzichtbar, sind sie durch die modernen Wetterprognosen in den Hintergrund gerückt. Was ist heute noch dran an den Weisheiten in Reimform? Auf Wetterfühlung mit Volkskundler Kurt Haberstich und Meteorologin Eva Laiminger.

Was war das nur für ein Sommer! Regen, Regen, Regen, tagelang hintereinander und ohne einen Sonnenstrahl in Sicht. Giesskannen und Gartenschläuche konnten getrost im Trockenen bleiben. Die Landwirte standen im Regen und schauten besorgt zum Himmel, aus dem das Wasser in Rekordmenden fiel. Durchnässte Böden kamen der Getreideernte in die Quere, fehlender Sonnenschein brachte die Vegetationsperioden der Pflanzen durcheinander. Hoffnungsvolle Blicke auf den Wetterbericht waren auf den Bauernhöfen an der Tagesordnung, um zu sehen, wann denn endlich eine trockenere Phase mit Sonne anbrechen würde.
Auf den Arbeitsablauf der Bauern hat Wetter seit jeher einen direkten Einfluss, auf das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen, auf die Ernte und letztlich auf ein erfolgreiches Wirtschaften. Bevor es Lehrbücher und meteorologisches Wissen gab, mussten die Bauern einen Weg finden, das Wetter besser vorhersagen zu können. Also beobachteten sie die klimatischen Zusammenhänge am Verhalten des Windes, der Wolken, der Lufttemperatur, der Luftfeuchtigkeit und an der Tier- und Pflanzenwelt. Ihre Erkenntnisse gaben die Landleute von Generation zu Generation weiter. Und aus diesen mündlich überlieferten Erfahrungswerten entstanden nach und nach die Bauernregeln, kleine Weisheiten in Reimform, die hilfreiche Hinweise lieferten für das Wetter im landwirtschaftlichen Kalender. In Jahren mit schneereichem März zum Beispiel beobachteten die Bauern geringe Frucht- und Traubenernten: «Märzenschnee tut Frucht und Weinstock weh». Anders sah es aus, wenn es im April stürmte und regnete: «Aprilensturm und Regenwucht künden Wein und gold‘ne Frucht.»
Die bedeutendsten dieser Regeln wurden in so genannten «Lostagen» geordnet. Nach dem Volksglauben sind das für die Wettervorhersage bedeutsame, mit Glück verbundene Tage und besonders wichtig zum Säen und Ernten. Lostage sind leicht zu merken, weil sie sich auf Namenstage von Heiligen (Schutzpatronen) oder auf Kirchenfeste beziehen. In Zeiten, als die meisten Menschen keinen Kalender besassen, waren Lostage eine willkommene Orientierungshilfe. Ihr Name rührt daher, dass diese Tage früher als eine Art «Los» angesehen wurden, das man «zieht». Vom «Los», vom Geschehen an diesem Tag, schloss man auf zukünftige Ereignisse wie etwa die Wetterentwicklung. Einer anderen Erklärung zufolge leitet sich der Begriff vom althochdeutschen Wort «hlosen» für «hören» ab. Lostage sind demnach Tage, auf die man hören, die man beachten sollte, um eine Wettervorhersage für die kommende Zeit machen zu können.
Die meisten heute überlieferten Bauernregeln und Lostage stammen aus dem Mittelalter. Sie wurden im Zug der Christianisierung von der Kirche verbreitet, schliesslich waren Feld- und Gartenarbeiten wichtige Tätigkeiten für die Mönche in den Klöstern. «Hauptsächlich finden sich Bauernregeln in den Alpenländern, ich selbst kenne nur deutschsprachige», sagt Kurt Haberstich. Und diese kennt er so gut wie seine Westentasche - oder vielmehr wie seine Bergstiefel und seinen Flughelm: «Als begeisterter Bergsteiger und Gleitschirmflieger war die Wetterentwicklung für mich natürlich immer sehr wichtig. Für das Gleitschirmbrevet gehörte auch Meteorologie zum Prüfungsstoff, und ich fragte mich immer mehr, wie die Leute das früher wohl gemacht haben. Ich wollte mehr darüber wissen, wie die ländliche Bevölkerung das Wetter gedeutet hatte, lange bevor es wissenschaftliche Methoden dafür gab.»
Schon als kleiner Bub fand der gebürtige Aargauer, der heute in Appenzell lebt, das Naturgeschehen spannend. Damals sei er mit seinem Vater und seinem Grossvater oft draussen auf einem Bänkli gesessen und hätte ihnen beim Wetterfachsimpeln gebannt zugehört. «Zwar war ich auf keinem Bauernhof aufgewachsen, aber Natur und Wetter, Bauern- und Brauchtum auf dem Land, das faszinierte mich als Kind immer sehr», sagt der 73-Jährige.
Beruflich zog es den gelernten Konstruktionsschlosser später zwar in die Personalberatung und ins Coaching, aber Wetter und ländliches Brauchtum blieben für ihn grosse Steckenpferde – so grosse, dass er 1990 damit begann, Bauernregeln im grossen Stil zu sammeln und aufzuschreiben. Via Zeitungsinserat suchte Haberstich dafür alte Kalender und Bauernpraktiken, wo solche Wetterregeln aufgeführt waren. Mit Erfolg: Bald standen ihm aus der ganzen Schweiz viele solcher Chroniken zur Verfügung, und daraus konnte er gegen 2500 Bauern- und Wetterregeln zusammentragen. Daneben beobachtete er die Naturereignisse selbst regelmässig und betrieb Nachforschungen bei Bauern, Imkern, Winzern, Waldarbeiten und Jägern. Heute, dreissig Jahre und zahlreiche Bücher zum Thema später, gehört Kurt Haberstich zu den gefragtesten Experten, wenn es um Bauernregeln geht.
Zwar würden sich die heutigen Landwirte nach den modernen Wetterprognosen richten und wenn, dann würde sich nur noch die ältere Generation mit Bauernregeln befassen. Aber pauschale Urteile, dass sie längst überholt und sowieso unwissenschaftlicher Unsinn seien, lässt Kurt Haberstich nicht gelten. «Lange Zeit galt die Lehrmeinung, dass Bauernregeln nur selten richtig liegen. Als man aber Ende des zwanzigsten Jahrhunderts begann, sie statistisch zu überprüfen, und dabei auf das Entstehungsgebiet der jeweiligen Regel achtete, stellte man fest, dass die überlieferten Vorhersagen mit den meteorologischen Erkenntnissen oft recht gut übereinstimmen.» Als Beispiel nennt Haberstich den Lostag «Heiliger Rupert» am 27. März. «Hält St. Rupert den Himmel rein, so wird es auch im Juli sein.» Ist es um den 27. März herum wirklich sonnig, so wird der Juli mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit heiter und schön. Ist es hingegen trüb, so wird es zu sechzig Prozent auch im Juli trüb sein.» Zu diesem Schluss sei Professor Horst Malberg vom Institut für Meteorologie der Freien Universität Berlin gekommen, der sich ausgiebig mit Bauernregeln beschäftigte. Anhand meteorologischer Daten aus über hundert Jahren untersuchte er Wettertrends und Erntevorhersagen und stellte für viele Bauernregeln eine Trefferquote bis zu siebzig Prozent fest.
In seinem Wohnort Appenzell ist Kurt Haberstich nicht der einzige, der sich mit Donner, Regen und Sonne befasst. In der Kantonshauptstadt ist auch die Schweizer Niederlassung von Europas grösstem privaten Wetterdienst zu Hause. Bei der Meteo Group erstellen Meteorologinnen und Meteorologen Prognosen für die ganze Welt und betreiben unter anderem eine telefonische Hotline, bei welcher die Anruferinnen und Anrufer rund um die Uhr die aktuellsten Wettervorhersagen bekommen. Zum Team gehört auch Eva Laiminger. Wie Kurt Haberstich hat das Wetter die 29-Jährige schon als Kind gepackt. «Vor allem die verschiedenen Klimazonen der Erde und wie unterschiedlich sie vom Nordpol bis zum Äquator sind, das fand ich in der Schule total interessant.» Bauernregeln kannte die gebürtige Tirolerin von ihrer Grossmutter. «Meine Oma hatte immer einen dieser Bauernkalender bei sich in der Küche hängen. Daraus zitierte sie beim Spazierengehen dann oft die jeweiligen Wetterregeln des Tages. Im Winter hoffte ich damals ja immer, dass die Regeln vor allem viel Schnee prophezeien würden», erzählt Eva Laiminger lachend.
Und was hält die Meteorologin, die Wissenschaftlerin heute von Bauernregeln? «Sie haben wenig mit der Realität unserer täglichen Arbeit zu tun und mit den konkreten Vorhersagen, die wir für die unmittelbar nächsten Tage machen.» Zweifelsohne seien die Regeln früher für die Bauern im groben Jahresüberblick eine wertvolle Orientierung gewesen, zumal sie vor der Industrialisierung zu einer Zeit entstanden seien, als sich das Wetter Jahr für Jahr um einiges gleichförmiger präsentiert habe als heute.
Aus meteorologischer Sicht orientieren sich viele Bauernregeln an den Terminen bestimmter so genannter Singularitäten, vom lateinischen Wort «singularis», einzigartig. Damit sind Witterungsregelfälle gemeint, die zu einer bestimmten Zeit im Jahr mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auftreten - als Abweichungen vom sonst normalen Witterungsverlauf um diese bestimmten Termine herum. Bekannte Beispiele dafür sind die Eisheiligen im Mai, die Schafskälte im Juni «oder das Weihnachtstauwetter, etwas vom Sichersten, das jedes Jahr wiederkommt», sagt Eva Laiminger.
Was die Bauernregeln angeht, haben diese angesichts der weitrechenden globalen Klimaveränderungen keinen leichten Stand. Dass viele Regeln ihre Gültigkeit verloren haben, beobachtet Kurt Haberstich schon seit zwanzig Jahren. «Gerade in der aktuellen Zeit der Rückbesinnung auf die Natur ist es umso wichtiger, sie festzuhalten. Damit diese Brauchtum auch den nächsten Generationen erhalten bleibt.»