Aufbruch zu neuen Horizonten

Unterwegs in den Bergen

Der Biancograt: „Himmelsleiter“ am Piz Bernina (mit Jürg Krieg und Claudius Bader)
Mit 4049 Meter über Meer ist der Piz Bernina der einzige Viertausender des Kantons Graubünden. Der imposante Berg bietet Alpinisten die mannigfaltigsten Aufstiegsmöglichkeiten, von der langen, aber im Allgemeinen unschwierigen Gletscherwanderung bis zu anspruchsvollen Eis- und Felsklettertouren. Das Glanzstück aber wird immer die Crast’ Alva, wie die romanische Bezeichnung für den Biancograt lautet, bleiben.
Die klassische Bergfahrt, welche eine gerade und vollkommene Überschreitung des Berges darstellt, beginnt bei der Station Pontresina. Durch dichten Lärchenwald und urchigen Arvenbestand führt der Anmarsch ins liebliche Rosegtal, zieht auf ausgetretenem Saumpfad über den steilen Moränenhang und endet auf der 2573 Meter hoch gelegenen Tschierva-Hütte.
Nächtlicher Start
Kurz und schlaflos ist die Nacht im wehrhaften Steinbau. Bereits um zwei Uhr früh poltern die ersten Übernachter über die Holztreppe in den rohgezimmerten Aufenthaltsraum. Ein schneidender Wind, vom nahen zerklüfteten Tschierva-Gletscher her, prallt auf uns, als wir in den sternenklaren, noch jungen Tag hinaustraten. Heller Mondschein ersetzt unserer Dreierseilschaft den bei jedem Schritt unruhig tanzenden Lichttupfer der Stirnlampen.
Im rotlich-fahlen Dämmerschein der aufsteigenden Sonne überschreiten wir, mit Steigeisen und Pickel bewehrt, den klaffenden Bergschrund. Über einen steilen Eishang, der in eine Firnmulde leitet, erreichen wir die Fuorcla Prievlusa auf 3430 Meter. Weiter verfolgen wir den sich alsbald verflachenden Felsgrat, der schräg hinab auf den Anschluss des Firngrates mündet. Hier ist die Sicht frei auf den schönsten Grat des Piz Bernina und einen der einzigartigsten der ganzen Alpen - den Biancograt. Wie eine silberne Leiter, die Himmel und Erde miteinander verbindet, leuchtet seine eisfunkelnde Schneide aus der schon südlichen Himmelsbläue. Als aufblitzende Mittellinie trennt sie Licht und Schatten, schwebt gleichsam zwischen zwei Abgründen pfeilsgleich steil empor und gipfelt schliesslich im Piz Alv (Piz Bianco 3995 m). Es kostet Überwindung sich von diesem überwältigenden Anblick loszureissen und weiterzugehen, doch ist der Gipfel noch fern und das gesteckte Ziel bei weitem nicht erreicht. Voll konzentriert steigen wir Schritt für Schritt auf der steilen Firnnaht höher. Meistens findet nur gerade ein Fuss auf dem zeitweise regelrecht zugespitzten, weissen Wellenkamm Platz.
Von Abgründen umsäumt
Links und rechts daneben schiessen glatte Eisflanken in die Tiefe und tauchen in die zerrissenen Gletscherschründe. Gleichgewicht und absolut sicheres Gehen ist angesagt. Hier verträgt es kein verheddern des Seils und kein Stolpern mehr. Die kleinste Unachtsamkeit kann einen Sturz auslösen, der für die ganze Gruppe sowie für eventuell nachfolgende Bergsteiger, verheerende Folgen haben kann. Nach etwa anderthalb Stunden, noch bevor der Schnee sonnenweich ist, erreichen wir den im jungfräulichen Weiss strahlenden Kegel des Piz Bianco.
Über wohlgestufte Felsen klettern wir nach der ausgesetzten Firnpartie zur „Scharte“, einer Einsenkung vor einem wuchtigen Felsturm. Durch eine Verschneidung auf der Nordseite wird dieser Riesenzahn überschritten. Dann trennen uns nur noch wenige Meter aus bestem Granit vom höchsten Punkt.
Freude, beglückende Harmonie und Bergkameradschaft prägen die wenigen Minuten Gipfelrast. Aufkommender Wind und einsetzender Graupelschauer mahnen zum raschen Aufbruch, stehen uns doch noch etwa sieben Stunden Abstieg bevor.
Frisch angeseilt nehmen wir den aperen Spalla- oder Südgrat unter die Füsse. Bald darauf lassen wir das unwirtliche, auf italienischer Seite liegende Rifugio Marco e Rosa hinter uns zurück. Danach erschweren uns schleichende Nebelschwaden, die mit tückischen Schneebrücken durchzogene Bellavista-Terrasse zu begehen. Auch die anschliessenden Abseilmanöver über die vereisten Bänder der Fortezza hinder zusätzlich am zügigen Vorwärtskommen. Dafür bieten die aufgezwungenen Wartezeiten oftmals willkommene Verschnauf- und Erholungspausen. Dann, nach der Isla Persa, sind die grössten Schwierigkeiten vorbei.
Auf fast endlos erscheinendem Marsch auf dem verblockten Moränenkamm des Morteratsch Gletschers treffen wir auf den Fahrweg und gelangen schliesslich zur Station Morteratsch. Hier ist unsere herrliche Hochgebirgstour zu Ende. Ohne Hast wird die Ausrüstung im Rucksack verstaut.
Sechzehn Stunden sind seit dem Verlassen der Tschierva-Hütte vergangen. Sechzehn Stunden mit einem gerüttelt Mass an Anstrengung und Durchhaltewillen, aber auch mit überwiegender Mischung aus Begeisterung und eindrücklichen Erlebnissen.
Ausklang
Ein letzter halbstündiger Fussmarsch, dann bin ich bei meinem Auto, mit dem ich kurz darauf den einen Kameraden abhole. Nachdem ich diesen schlafenden Kameraden in Zürich ausgeladen hatte, ging’s nun endgültig nach Hause, damit ich mich vor meinem Arbeitsbeginn noch zwei, drei Stunden ausruhen konnte.
Um zwei Uhr früh öffnete ich die Haustüre, wo Ilse einmal mehr auf mich wartete. Und während ich bereits halb schlafend in der Badewanne liege, packt sie meinen Rucksack aus und versorgt die Ausrüstung im Kletterschrank, damit ich sie am nächsten Wochenende, wie gewohnt in aller Eile, für die nächste Tour einpacken kann. Was täten wir Bergsteiger wohl, wenn nicht ein liebendes Herz für uns sorgen würde...?

Viertausender unter Afrikas Sonne 29. März bis 12. April 1987
Etwas deplaziert betrete ich mit Skischuhen und Bergausrüstung die Abflughalle, in der mich eine Schar luftig gekleideter Mitpassagiere belächeln. Für die sonnenhungrigen Touristen wahrscheinlich unbegreiflich, dass ein meist für Badefreuden angepriesenes Land in winterfester Montur bereist wird.
Es ist Ende März, und ich bin auf dem Weg nach Marokko, westlichster Eckpfeiler Nordafrikas, einem Land mit ausserordentlichem Reichtum an landschaftlichen Gegensätzen und kulturellen Attraktionen, vorab bekannt für seine vier Königsstädte Fès, Marrakesch, Meknes und Rabat.
Ziel- und Angelpunkt meiner Exkursion aber ist das schneebedeckte Gebirge des Hohen Atlas mit seiner grandiosen Wildheit, die noch unberührte Heimat der Berber, der Ureinwohner Marokkos. Mehr als 40 Gipfel ragen hier über 3000 Meter empor. Die höchsten Erhebungen weist dabei der Zentralteil südlich von Marrakesch auf. Mit 4165 Meter Höhe ist der Djebel Toubkal höchster Berg des gesamten Gebirges und zugleich höchster Gipfel Nordafrikas.
Erster Eindruck
Marrakesch, zentraler Ausgangsort für die Reise in den 60 Kilometer entfern-ten Hohen Atlas, ist für die Berber wie auch für die Marokkaner allgemein, noch immer die „geistige Hauptstadt“. Ebenso ist sie das Mekka der Touristen, die sich an allen Sehenswürdigkeiten drängen, deren Zahl hier überbordet, von der Koutoubia-Moschee, der Nekropole der Saaditen, dem El Bahia-Palast mit den kunstvollen Kolonnaden, den andalusischen Gärten bis zur Medina, der Altstadt mit den Souks, den engen Basargassen, gefüllt mit sich hinwälzenden Menschenmassen.
Sie alle aber strömen unweigerlich zum „Herzen“ der Stadt, der berühmten „Djemaa el Fna“, dem „Platz der Gehenkten“, auf dem, der Sage nach, einst ein Kalif wochenlang die Köpfe Hingerichteter an Spiessen aufstellen liess.
Vorab wenn die Dämmerung sinkt, schlägt in diesem einstigen Zentrum des Schreckens ein verwirrender Puls: Händler, Gaukler, Schlepper im Gewoge, verwegene Gesichter unter leuchtend weissem Turban - alles überdeckt von einer Glocke an Stimmen, Schreien, Düften, Gerüchen. Es ist ein brodelnder Strudel, in den man eintaucht, dem man willenlos ausgeliefert ist, sich fasziniert treiben lässt.
Aufbruch ins Gebirge
Von Marrakesch aus rattere ich auf der Ladefläche eines Lastwagens auf fast schnurgerader Strasse dem in der Ferne aufragenden Atlas-Gebirge zu. Un-vermittelt wechselt die fruchtbare Ebene in wilde, von der Sonne durchglühte Felsschluchten. Die von Erosion zerrissenen Flanken wirken melancholisch, abweisend und dennoch fesselnd. Eng windet sich nun die zerfurchte Schot-terstrasse entlang dem ausgeschwemmten Bachbett und endet im 1740 Meter hoch liegenden Berberdorf Imlil, welches sich aus mehreren Weilern zu einem Kommunalwesen mit etwa 500 Einwohnern formt.
Aus spartanischen Behausungen treten herbe, in schwere Übergewänder (Burnusse) gehüllte Männer jeglichen Alters, mustern den Rumi (Fremden) und unterhalten sich lautstark in für mich unverständlichem Berberdialekt über meine modernen Ausrüstungsgegenstände.
Dankend lehne ich die Angebote ab, meine etwa 30 Kilogramm Gepäck mit einem Maultier zur Cabanne Neltner zu transportieren. Kopfschüttelnd wenden sich die Kapuzengestalten von mir ab und verziehen sich wieder in ihre Lehmhäuser.
Im Reich der Viertausender
Mitten durch urwüchsige Nussbaumbestände führt der vom Schmelzwasser durchweichte Saumweg ansteigend aus dem Dorf. Während dem erholsamen Marsch auf der gedeihlichen Hochfläche von Aremd, wo sesshafte Ackerbauern auf künstlich bewässerten Hangterrassen Getreide, Obst und Gemüse anbauen, gleitet der Blick über glitzernde Rinnsale, saftiggrüne Wiesen, wild-wachsende, violette Schwertlilien und rosa blühende Apfelbäume hinweg zu pechschwarzen Felsrippen, streift gleissende Firnfelder und bleibt an windum-wehten Schneegipfeln hängen. Ein wechselvolles Szenario in ureigener Landschaft. Hier ist der Charakter dieser von Touristen kaum berührten Region noch besonders spürbar.
Nach dem ersten grossen Zwischenhalt in Sidi Chamharouch, wo ein Marabut, ein Heiliger der Berber, in fast gänzlicher Abgeschiedenheit am Rand des Hochgebirges meditiert und Krankenheilungen verspricht, ändert sich der Wegcharakter. Niedere Büschelgräser und verdorrte Sträucher prägen die Vegetation. Dazwischen überdecken immer öfters Lawinenschneeresten den Serpentinenpfad. Stellenweise künden leuchtende Blumen den Bergfrühling an.
Durch enge Schluchten und über steile Geröllhalden fegt ein eisiger Fallwind. Hier herrscht ein anderes Klima als in der hitzeflimmernden Steppenlandschaft des Tales. Ich bin ins Reich der Viertausender eingetreten. Auf einem schneefreien Felsen in ca. 3300 Meter über Meer, etwa hundert Meter über der Neltner Hütte, baue ich mein Zelt auf.
Schneestürme und Saharastaub
Schlecht und recht habe ich mir die erste Nacht um die Ohren geschlagen. Etwas steif schäle ich mich aus dem wohlig-warmen Daunenschlafsack. Kurze Zeit danach steige ich in zügigem Tempo über die steilen Hänge gegen den Tizi N’Ouagane. Knirschend greifen die Harscheisen an den Skier in die windgepressten Schneeverwehungen. Nach dem Skidepot auf dem Pass überklettere ich einen luftigen Blockgrat und erreiche das Firnplateau, welches die beiden Gipfel Ouanoukrim (4089 m) und Timesguida (4083 m) beherbergt. Allein, nur den durchdringenden Wind als Begleiter, geniesse ich auf dem einen Gipfel den südlichen Tiefblick gegen die rötlichen Staubwolken über der Sahara, auf dem anderen in nördlicher Richtung die Farbkontraste der Vegetationsebenen des dicht besiedelten Ourikatales.
Zurück im Skilagerplatz wird die ruppige Abfahrt in Angriff genommen. Verhaltene Fahrweise ist angebracht, birgt doch ein Alleingang, dazu in einem entle-genen Gebiet genügendes Risiko.
Wiederum wartet der neue Tag mit azurblauem Himmel auf. Die heutige Tour ist somit besiegelt. Vorsichtig begehe ich die vereiste Flanke, welche über ein Tälchen in einen Firnkessel leitet. Noch eine Steilstufe, dann zwingen mich die Schneeverhältnisse, den Weiterweg ohne Skis fortzusetzen. Nach der gut begehbaren Westflanke und dem sichelartigen Südwestgrat stehe ich neben der metallenen Triangulationspyramide auf dem Djebel Toubkal in 4165 m über Meer.
Der Kälte und des andauernden Sturmwindes wegen bleibt die Gipfelrast in bescheidenem Rahmen. Ein Felszahn bietet etwas Windschatten, und ein paar kreisende Armbewegungen bringen wieder Leben in die klammen Finger. Im Sattel angelangt lockt der markante Westgipfel des Toubkal. Nach einem Abstecher auf diese grandiose Aussichtswarte stapfe ich im tiefen Bruchharsch dem Felsblock zu, wo meine Skis verankert sind. Langsam fahre ich über ver-harschten Grund zu Tal.
Rauschende Abfahrt
Die Zeltschnüre sind festgezurrt, die Ausrüstung kontrolliert und der Rucksack umhängebereit. Eine neue Tour steht bevor und somit auch ein neues Abenteuer. Abermals folgen meine Augen der ausgeprägten Rinne bis hinauf zum winzigen Einschnitt, wo das 45 Grad steile, bis ins Tal auslaufende Couloir beginnt.
Ob diese extreme Neigung mit Skiern noch befahrbar ist? Ein Versuch wird es zeigen. Etwa hundert Meter unter der Einsattelung versperrt eine Blankeisplatte den Durchstieg. So werden die Skier gegen die Steigeisen ausgetauscht. Nach schroffen Felswänden folgt ein exponierter Quergang über eine Schulter, danach ein lang gezogener, zerklüfteter Nordgrat, der direkt zum höchsten Punkt des 4043 Meter hohen Afella führt. Ein breiter Rücken verbindet den nur dreizehn Meter tieferen Südgipfel, der in einer weiteren halben Stunde erreicht ist.
Die Sonne steht dem Zenit schon beachtlich nahe, also nichts wie runter. Als-bald bin ich startklar. Konzentration - ein erster Schwung im engen Hals, und die rauschende Abfahrt in atemberaubend steilem Gelände nimmt ihren Lauf. Allzu schnell ist das Biwak erreicht.
Der die ganze Nacht über andauernde Sturmwind kündete einen Wettersturz an. Um sieben Uhr ziehe ich bereits durch die schmale Schneeschlucht, welche in ein grossflächiges Firnfeld mündet. Eine kleine Unachtsamkeit - und schon reisst mich eine heftige Sturmböe glatt zu Boden. Riesige Schneefahnen wer-den aufgewirbelt und rauben mir die Sicht und den Atem. Wie aus Gewehrläufen geschossen fliegen mir Eispartikel ins Gesicht. Keuchend schlage ich Stufen in den vereisten Nordgrat. Ein letztes queren, dann stehe ich in stiller Freude auf dem Akiud N’Bu Imrhas (4030 m), meinem siebten Viertausender unter Afrikas Sonne.
Einheimischer Besuch
Bereits am frühen Morgen steht Brahim, ein Wanderführer aus Aremd, vor meinem Zelt. Sein Maultier hat er bei der tiefer gelegenen Cabanne Neltner angebunden. Unbedingt will er meine Ausrüstung nach Imlil schaffen. Nach einigem hin und her erkläre ich mich bereit, das Gepäck dem „richtigen“ Lasttier anzuvertrauen. Unterwegs vereinbaren wir, dass ich bei Brahim‘s Eltern übernachte und wir danach gemeinsam zu Fuss in ausgedehnten Tagesetappen über die höchstgelegenen Berbersiedlungen Richtung Marrakesch wandern werden. Die genaue Route würden wir am Abend festlegen.
Am späten Nachmittag treffen wir in Aremd ein. Die Aussicht von diesen an die Hänge gebauten Lehmhütten ist einmalig. Wie ein Ehrengast werde ich begrüsst. Die Kunde vom Alleingänger hat sich wie ein Lauffeuer im kleinen Dörfchen verbreitet. Kurzerhand ist die gesamte Verwandtschaft anwesend, um den Bergsteiger zu begutachten. Brahims Vater ist Kadi (Gemeindevorsteher) von Aremd, und daher ein ehrwürdiger Mann, dem die ganze Bevölkerung mit grossem Respekt begegnet. Dieses Amt verleiht ihm uneingeschränkte Handlungsfreiheit. Fast alles was er anordnet wird ausgeführt, ohne dass irgendeine Angelegenheit in Frage gestellt wird.
Nach einem regelrechten Zeremoniell schenkt uns der Kadi frischen, sehr stark gesüssten Pfefferminztee ein. Danach gibt es Spiegeleier und in Olivenöl gebratenes Kaninchenfleisch, dazu frisch gebackenes, warmes Fladenbrot. Gegessen wird nach arabischer Manier ohne Besteck, mit der rechten Hand. Die linke Hand gilt als unrein, weil sie für „Hygienezwecke“ benutzt wird und darf deshalb nicht in die Nähe des Mundes geführt werden. Da keine WC’s existieren, wird das „Geschäft“ irgendwo im Freien verrichtet.
Später schlendern wir durch das Dorf, besichtigen die Wasserversorgung, die Spalierbäume und Gemüsepflanzungen auf den terrassierten Gärten. Zwischendurch erzählt mir Brahim immer wieder von den Lebensgewohnheiten, Sitten und Bräuchen der Berber. Dadurch erhalte ich Einblick in das harte und genügsame Dasein der mohammedanischen Bergstämme. In jedes Haus wer-den wir eingeladen und immer werden uns frischer Pfefferminztee und frisch zubereitete Speisen wie Reisbrei, Hafersuppe oder gebratenes Huhn mit Kartoffeln angeboten. Zum Nachtessen kochen die Frau und die alte Mutter meines Gastgebers Morokkos Nationalgericht: Cous-Cous. Während dem etwa dreistündigen Prozedere darf ich den kontaktscheuen aber selbstbewussten Hausfrauen über die Schulter gucken. Für uns wohlstandsorientierte Menschen ist es fast unvorstellbar, dass in einer der einfachsten Freiluftküchen die man sich vorstellen kann, ein derart fantastisches Mal überhaupt zubereitet werden kann. Aus Hirsemehl und Wasser wird in langwierigem Vorgang, durch Mischen mit den Händen, in einer Tonschale eine Art Kügelchen gewonnen. Diese werden gesiebt, wieder mit Wasser und Mehl vermischt und wieder gesiebt. Der Vorgang wiederholt sich so oft bis die Kügelchen die entsprechende Grösse, etwa der eines Stecknadelkopfes, erreicht haben. Dann werden sie in ein Eisengefäss geschüttet, mit Wasser übergossen und eine Stunde lang über dem Feuer gekocht. In dieser Zeit werden frische Karotten, Rettich, Tomaten, Kartoffeln, Gurken und Bohnen gerüstet und ebenfalls am offenen Feuer leicht gedünstet. Nach erstmaligem Aufkochen wird die Hirse abgeschüttet und kalt gestellt, mit Salz und Olivenöl gewürzt und danach wieder erwärmt. Wenn das Gemüse gar ist, kommt die Hirse auf eine grosse Platte und wird mit dem Gemüse darüber garniert. Gegessen wird wie immer am Boden sitzend, doch diesmal mit einem Löffel direkt aus der Schüssel. Nachdem ich die Kochleistung mitverfolgen durfte, wurde das Essen anstelle einer „normalen“ Mahlzeit zu einem wunderbaren kulinarischen Erlebnis.
Nach dem Abräumen, das übrigens wie alle Küchen- und Hausarbeiten von Frauen verrichtet wird, gibt es wieder Tee. Später, als Exklusivität, weil ein Gast im Hause ist, organisiert Brahim ein altes Kofferradio und sucht den ganzen Abend störfreie Sender, um uns mit orientalischer Musik zu unterhalten. Als mir zu später Stunde immer wieder die Augen zufallen, flüstert mir Brahim zu, dass der Gast die Zeit bestimme, wenn man schlafen gehe. Unverzüglich stehe ich auf - und binnen Sekunden haben sich alle Anwesenden in ihre Schlafräume verzogen. Zwei, drei Lagen dünn gewobene Berberteppiche werden auf dem Boden ausgebreitet, worauf ich mich kurze Zeit danach in meinen Schlafsack kuschele und sofort einschlafe. Zum meinem Schutz nächtigt das Oberhaupt der Familie im gleichen Raum.
Rückweg nach Marrakesch
Die weitere Tour steht nun fest. Von Aremd wollen wir über den Tizi n’Tamatert nach Ouaneskra und Tacheddirt, um dann in Tamguist zu über-nachten. Dann über den Tizi nou Addi nach Oukaimeden, Aït Lekak bis Tidli, wo die Schwiegereltern von Brahim wohnen. Anschliessend durch das Ourikatal nach Marrakesch. Für die gesamte Strecke müssen wir etwa eine Woche einplanen, wobei mit Tagesmärschen von bis zu zwölf Stunden zu rechnen ist.
Jeweils bei Tagesanbruch, wenn das Muli bepackt ist, ziehen wir in zügigem Tempo los. Nach Möglichkeit quartieren wir uns am Abend bei Verwandten von Brahim ein, bei denen ich einmal die Skier, ein anders Mal ein Teil der Bergsteigerausrüstung und -kleidung als Dank zurücklasse. Wenn auch mit etwas arabischer Reserviertheit, werde ich als Brahims Freund überall sofort in die Familie aufgenommen. Meistens ist kurz nach unserer Ankunft die halbe Einwohnerschaft vor dem Haus versammelt, weil, wie es heisst, seit mindestens drei Jahren kein Fremder mehr durch diese Gegend gezogen sei. In den einsamen Siedlungen, wo es weder Schulen, Post, Zufahrtstrassen oder sonstige Infrastruktur gibt, ist unser Ankommen für Jung und Alt eine willkommene Abwechslung im Alltag. Daher ist es auch verständlich, dass die Kinder kichern und die Frauen verstohlen zu Boden schauen, wenn sie mich sehen. Zum Nachtessen werden wir allerorts mit herrlichen Speisen verwöhnt, die wir fast immer auf den Dachgärten der einfachen Berberhäuser in der milden Abend-sonne geniessen. Oft haben wir danach einen Verdauungsmarsch nötig, bevor die Hausfrauen schon wieder mit weiteren Gaumenfreuden aufwarten.
Nach Kräften zehrenden Tagesetappen, nächtlichen Gewitterstürmen, einmalig erlebter Gastfreundschaft und zahlreichen intensiven Eindrücken von Menschen und Landschaft erreichen wir schliesslich Marrakesch. Weil Brahim wie viele Berber keinen Ausweis besitzt, also amtlich gar nicht registriert ist, muss er sich vor den Wächtern, die an den Stadttoren postiert sind und Personenkontrollen durchführen, in acht nehmen. Kein passender Ort also für lautstarke Abschiedsszenen. Nach einem kurzen Händedruck und einem leisen „mach’s gut“ ist er schnell im dichten Palmenhain verschwunden.
Nach einem letzten grandiosen Sonnenuntergang stehe ich am frühen Morgen in der Abflughalle von Casablanca. Die Erinnerung an die einsame Monumentalität des Hohen Atlas und die erfüllten Bilder, die sich sonst nur noch schwer finden lassen, erscheinen mir hier, mitten im geschäftigen Treiben, als seien sie nur ein irrealer Traum gewesen. Wehmütig nehme ich Abschied von einem faszinierenden Land und einem Naturvolk, das über Jahrhunderte hinweg trotz westlichem Einfluss seine Eigenständigkeit bewahrt hat.

Aufs Weisshorn über den Nordgrat (mit Peter Niffeler)
Ausgangspunkt der kombinierten Eis- und Felsklettertour auf das Weisshorn ist das kleine Walliser Dorf Zinal am Ende des wildromantischen Val de Zinal. Ein schmaler Bergweg windet sich vom südlichen Dorfausgang über Alpweiden und Flühe hinauf zur Tracuithütte, welche umgeben von Viertausendern auf der linken Seitenmoräne des Turtmanngletschers auf einer Felsterrasse steht. Auf 3256 Meter über Meer gelegen, bietet die SAC-Hütte vielen Bergsteigern ideale Unterkunft, besonders für die Touren auf das Bishorn und das Weisshorn.
Nach einer kurzen schlaflosen Nacht verlassen wir um drei Uhr früh das behäbige Steinhaus. In weiten Bögen umgehen wir die Spaltenzone des Turtmanngletschers und erreichen über die hartgefrorene Nordwetsflanke das 4153 Meter hohe Bishorn. In Berglerkreisen zählt dieser Viertausender im Normalaufstieg zu den leichtesten im gesamten Alpenraum. Erst ab hier, wo für die meisten Tracuit-Hüttengäste das Ziel schon erreicht ist, beginnt für uns der eigentliche Einstieg in den mit Eistürmen bewehrten Nordgrat des Weisshorns, welcher zu den anspruchvollsten und schönsten gezählt werden darf.
Der Abstieg gegen das Weisshornjoch (4058 m ü.M.) erfordert grosse Vorsicht, weil in der Dunkelheit die Spur schwer auszumachen ist und mit einem Abbruch der meterlang ausladenden Wechten jederzeit gerechnet werden muss. Abwechslungsweise überklettern wir Felsköpfe und vereiste Bänder im zweiten und dritten Schwierigkeitsgrad. Während wir über den Grat turnen, verblassen am Himmel langsam die Sterne. Fast schüchtern blinkt ab und zu noch ein einzelner aus dem immer fahler werdenden Firmament. Dann geht hinter der schemenhaften Silhouette der sanft geschwungenen Bergkette im Osten die Sonne auf. Gierig verschlingen die von nächtlichem Frost durchkühlten Granittürme die rotgold züngelnden Strahlen der aufsteigenden Feuerkugel. Die Nacht gibt sich geschlagen und weicht nun vollends dem neu anbrechenden Tag.
Ein steifer Gratwind pfeift uns ins Gesicht, als wir auf etwa 4300 Meter Höhe die Schlüsselstelle am grossen Gendarmen erreichen. Nach Überwindung dieses rauen, exponierten Gneiszahnes durch einen Kamin, steigen wir himmelwärts über die eisverkrustete, gewundene Gratschneide dem Gipfelkreuz zu, das sich markant über der weissen Kuppe gegen den tiefblauen Hintergrund abzeichnet. Ein letzter Steilaufschwung und wir stehen auf dem fünfthöchsten Gipfel des Alpenmassivs auf 4505 Meter über dem Meeresspiegel.
Ein überwältigendes Gefühl kommt in uns auf. Hervorgerufen durch den Anblick dieser imposanten Bergwelt, durch die zahlreichen Giganten im südlichen Zackenkamm, die bizarren Türme aus Eis und Schnee und nicht zuletzt aus Freude darüber, die ständig auftretenden Schwierigkeiten gemeistert zu haben.
Unsere Traversierung ist aber erst auf der Ostseite des Berges, auf der Weisshornhütte, beendet. So steigen wir nach der kurzen, aber intensiven Gipfelrast über den dachfirstartigen Ostgrat ab.
Aus dem fast 3000 Meter tief unter uns liegenden Mattertal grüsst das verträumte Dörfchen Randa herauf. Seine schwarzbraunen Holzhäuser laden zu gemütlichem Verweilen ein. Doch vorerst geht’s vorbei an gähnenden Schründen und mächtigen Eisabbrüchen. Danach erreichen wir den Felsgrat. Hinunterklettern, Sichern, Abseilen, mit jedem Schritt nähern wir uns der saftiggrünen Talsohle. Die gefährlichen Steinschlaghalden und die breiten Firnfelder erscheinen uns endlos. Doch dann gelangen wir schliesslich zur einladenden Weisshornhütte (2932 m ü.M.) und geniessen nach zwölfeinhalb Stunden konzentriertem und erfüllender Bergfahrt ausgestreckt auf den warmen Steinen liegend die verdiente Rast.

Switzerland Svalbard Expedition 30. Juni bis 30. August 1983
TeilnehmerInnen: Heidi Nussbaumer, Silvio Matter, Oskar Schwegler, Georg Eisler, Ferdi Staub, Kurt Haberstich
Donnerstag, 30. Juni
Nach fast anderthalbjähriger intensiver Vorbereitungszeit war es endlich soweit, dass wir zu unserem Unternehmen aufbrechen konnten. Um 12.30 Uhr starteten wir mit einer DC-9 der Scandinavien Airlines vom Flughafen Kloten. Aufenthalte und Umsteigen in Kopenhagen, Oslo, Trondheim, Bodø und Evenes verlängerten unsere Reisezeit um einiges. Nach 23 Uhr verliessen wir das Flughafengelände in Tromsø und suchten den Campingplatz auf.
Als die Zelte standen gingen Oski, Ferdi und ich zu Fuss in die Stadt zurück und verbrachten die erste Mitternachtsonnen-Nacht mit Fischern und Matrosen am Hafen. Weil sämtliche Restaurants in Tromsø ab 0.30 Uhr geschlossen waren, sassen wir um 3 Uhr auf der Hafenmauer und verzehrten frische Crevetten, die laufend von den neu ankommenden Fischern verkauft wurden. Gegen 5 Uhr waren wir wieder am Zeltplatz und verzogen uns wohlgenährt in die Schlafsäcke.
Freitag, 1. Juli – Sonntag, 3. Juli
Den Aufenthalt in Tromsø überbrückten wir mit Rundwanderungen auf die umliegenden Hügel und Berge.
Um 20.45 Uhr marschierten Silvio, Heidi, Ferdi und ich los zu einem 1230 Meter hohen Gipfel und waren acht Stunden später wieder bei den Zelten.
Montag, 4. Juli
Vom Campingplatz fuhren wir per Taxi zum Flughafen Tromsø. Um 1.15 Uhr startete die DC-9. Dichte Wolkenfelder liessen nicht erkennen, was sich unter uns befand. Vor der Landung kamen die schwarzen Berghänge und die Förderbänder von Svea-Gruva zum Vorschein. Pünktlich um 2.50 Uhr setzte die Maschine in Longyearbyen zur Landung an. Regen, Nebel und eine Temperatur von 5 Grad Celsius waren unser Empfangskomitee. Nach der Gepäckaufnahme schlugen wir im nahe gelegenen Zeltplatz unser Camp auf. Starker Regen setzte ein und liess uns in einen gesunden Schlaf sinken.
Dienstag, 5. Juli
Um 9 Uhr kroch ich aus dem Schlafsack. Mit leerem Magen machten wir uns auf zum Hafenschuppen, der etwa vier Kilometer vom Campingplatz entfernt liegt. Innert Kürze hatten Silvio und Georg unser gesamtes Gepäck ausgelöst. Ein Staplerfahrer stellte uns die weissen Kisten mit dem aufgemalten Expeditionssignet zur Hafenmauer, wo wir kurz danach mit dem Auspacken begannen. Bei der Store Norske Spitsbergen Kulkompani beschafften Oski und ich 940 Liter Benzin und 20 Liter Oel für unsere Ausserbordmotoren.
Zwei Mal fuhren wir mit geladenen Booten bis zum Ausläufer von Björndalen, deponierten die Ware und stellten unser Mannschaftszelt auf. Um 22 Uhr waren wir wieder im Camp beim Flughafen und genossen vor dem Schlafengehen noch einen Kaffee mit Guetzli.
Mittwoch, 6. Juli
Im Hafen von Longyear waren nur noch zehn Benzinfässer zum Transportieren. So gönnten wir uns einen Ruhetag und fuhren nach einem ergiebigen Frühstück mit einem Boot vom Campingplatz nach Longyear. Anschliessend besuchten wir das nördlichste Museum der Welt, das 1980 eröffnet wurde. Die Leiterin im Svalbard Museum, Frau Bolette Petri-Sutermeister, die aus Kriens im Kanton Luzern stammt, ist zudem Autorin vom Buch „Eisblumen“. Nach diesem interessanten Rundgang genehmigten wir uns im einzigen Restaurant eine Pizza, Kaffee und Kuchen. Den Rest des Tages verbrachten wir mit Kartenschreiben und fotografieren.
In der Nähe des Camps sahen wir zu ersten Mal wildlebende Spitzbergen Rentiere. Drei dieser weissgrauen Hirschart ästen an einem Hang direkt neben dem Flughafen. Bekanntschaft machten wir auch mit den aggressiven Küstenseeschwalben. Kaum näherten wir uns ihren Brutplätzen, peilten sie einen im Sturzflug an und überflogen mit lautem Kreischen die Köpfe der Störenfriede. Ähnlich erging es einem Polarfuchs, der die Nester der Zugvögel heimsuchte. Um 19 Uhr war es wieder stark verhangen und Regen setzte ein.
Donnerstag, 7. Juli
Täglich von 9 – 10 Uhr war das Flughafen-Cafe für Touristen geöffnet. Wir genehmigten uns einen letzten Kaffee, dann brachen wir die Zelte ab und beluden die Boote. Silvio, Heidi und Ferdi fuhren mit dem einen Boot zum ersten Lagerplatz, wir anderen nahmen drei Deutsche mit, die für das Bayerische Fernsehen einen Film unter dem Titel „Leben auf Longyearbyen“ drehten (Der Film wurde am 25. Juli 1983 im ersten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt).
In Longyear angelangt, verstauten wir noch die zehn Benzinfässer (700 Liter) auf dem Boot und tankten die zwei leeren Kanister voll. Nach einem Gang zur Post fuhren auch wir über den Jsfjorden Richtung Lagerplatz. Unterwegs fing es ziemlich an zu stürmen und die höher werdenden Wellen machten uns recht zu schaffen. Bei einer Wassertemperatur von 3 Grad bereitete uns das Ausladen der etwa 75 Kilo schweren Fässer einige Schwierigkeiten, weil das Boot durch den starken Wellengang hin und her schlenkerte. Die feine Suppe und die köstlichen Spaghetti Bolognese, die Heidi in der Zwischenzeit zubereitete, entschädigte uns aber reichlich für die Strapazen. Nach dem Essen wurden die drei Gewehre „eingeschossen“ und gegen 22 Uhr verzogen wir uns alle in die Schlafzelte.
Freitag, 8. Juli
Als ich ein Gemurmel von Draussen vernahm, war es bereits 10.30 Uhr. al-so schleunigst aufstehen und frühstücken. Ausser mir gingen alle nach Björndalen auf Foto-Safari. Nach dem Nachtessen diskutierten wir über das weitere Vorgehen. 4:2 entschieden wir uns für die sofortige Weiterfahrt nach Kapp Linne.
Samstag, 9. Juli
Um 1.30 Uhr waren wir auf den zwei Booten und fuhren mit je 6 Benzin- und Verpflegungsfässern südwärts aus dem Jsfjorden. Persönliches Material nahm jeder nur das Nötigste mit. Stürmische See umgab uns, was uns Laien-Bootsfahrern mächtig beeindruckte. Ein Wellengang von zirka 3.5 Metern liess das vor uns fahrende Boot oft für mehrere Sekunden verschwinden. Nach fünfstündiger Fahrt hatten wir etwa 45 Kilometer zurückgelegt und sichteten eine Landungsmöglichkeit. Wir umfuhren die Untiefen und Riffe und versuchten bei heftiger Brandung zu landen, was aber missglückte. Silvio stellte den Motor vorzeitig ab und ich sprang mit dem Ankerseil vom Bug zu früh an den Strand. Das steuerlose Boot wurde von einer mächtigen Welle angehoben und längsseits gegen den Strand gepresst. Mit ungeheurer Kraft wurde ich samt dem Boot mindestens zehn Meter weit an den Strand geschleudert. Passiert ist dabei niemandem etwas und wir zogen alle eine grosse Lehre daraus.
Die Boote wurden entladen und um 8 Uhr tuckerten wir wieder über die Bucht, um weiteres Material zu holen. Oski, Heidi und ich auf dem „Flagschiff“, die anderen auf dem kleineren Boot, das wir „Alk“ tauften. Bei hohem Seegang und riesigen Wellentälern kamen wir zwei Stunden später beim Basiszelt an. Wegen den starken Brechern konnten wir an diesen geraden Strand nicht landen und fuhren deshalb etwa zwei Kilometer weiter, wo uns dann auch das erste mustergültige Anlegen glückte. Durch die hohe Brandung wurden zwei Benzinfässer vom Ufer weggeschwemmt, die, als wir ankamen, wie kleine Spielbälle auf den schäumenden Wogen tanzten. Also mussten wir nochmals zum Boot zurück und die Fässer herausfischen. Nach 28 Stunden ohne Schlaf verzogen wir uns in die Zelte, wo ich gleich darauf vom Bootfahren nur noch träumte.
Sonntag, 10. Juli
Als Ferdi mit dem Pfannendeckel-Gong die Essenszeit ankündigte, war es 10 Uhr. Wir hatten also 19 Stunden geschlafen. Am frühen Morgen hatte es einmal geregnet, danach wurde es wieder hell und die Sonne verbreitete ih-re wohlige Wärme. Die See war ziemlich ruhig. Für uns hiess das zusammenpacken und das neue Basislager in Russekeila anzulaufen. Um 16 Uhr stachen wir bei fast spiegelglatter Wasseroberfläche in See. Die Boote waren bis unter die Plache des Spritzverdecks vollgeladen. Auf der Höhe von Grönfjorden wurde es welliger und rauer. Nach fünfstündiger Fahrt landeten wir bei sich überschlagenden Wellen etwas steif, jedoch wohlbehalten in der Bucht vor Kapp Linne. Sofort erstellten wir das Basiszelt, wo Heidi gleich mit der Kocherei anfing, während wir Männer das ganze Material abluden. Auf einem wunderbaren Aussichtsplateau richteten wir uns ein und genossen anschliessend das herrlich dampfende Nachtessen.
Montag, 11. Juli
Geschlafen wurde nicht, denn zum ersten Mal schien die Mitternachtssonne vollständig durch. Für Oski war das Grund genug zum Feiern, genau um Mitternacht öffnete er draussen den mitgebrachten Rotwein. Prost allerseits!
20 Minuten hinter dem Basislager befindet sich der Linne Vatnet, der grösste See von Spitzbergen. Nach und nach machte sich jeder mit seiner Fotoausrüstung auf den Weg, um die neue Umgebung auszukundschaften. Als ich am total zugefrorenen See ankam, ästen am Ufer friedlich vier rentiere. Mit Ruhe und Geduld kam ich bis auf fünf Meter an die Tiere heran. Ein unbeschreibliches Gefühl überflutete mich, derart ein zu sein mit der intakten Natur. Auf dem Rückweg stiess ich auf zwei kapitale Böcke, die sich ebenfalls problemlos porträtieren liessen. Mit neuen Erlebnissen erreichte ich das Basiszelt und braute mir einen Kaffee, dem sich auch Oski und Georg anschlossen. Später gesellte sich noch Ferdi dazu und bis gegen 6 Uhr erzählten wir uns unsere neusten Nachrichten. Dann ging es ab in den Schlafsack.
Das Flattern der Zelte liess keinen gesunden Schlaf aufkommen. Um 14 Uhr sassen wir dann alle beim Frühstück. Datum und Zeit spielten hier überhaupt keine Rolle. Es herrschte 24 Stunden vollständige Helligkeit. Gegessen wurde bei Hunger und geschlafen bei Bedarf.
Allmählich entwickelte sich das Lager zu einer wohnlichen Siedlung. Im Mannschaftszelt zimmerten wir aus Treibholz Gestelle und draussen eine Waschgelegenheit. Um 17.30 Uhr verliessen alle ausser mir das Lager, um die Isfjord Radio Station auf Kapp Linne aufzusuchen. Ich blieb im Zelt und meinen Tagebuchrückstand nach. Beim Nachtessen gegen 21 Uhr waren wir alle wieder beisammen. Als es auf Mitternacht zuging, querten wir mit einem Boot die Linnéeva, der Abfluss vom Linne Vatnet, legten am Ufer an und begaben uns auf einen Marsch gegen Kapp Starostin.
Dienstag, 12. Juli
Schlag 24 Uhr ertönte ein fünfstimmiges „Happy Birthday“. Anschliessend gratulierten mir meine Kameraden zum 35. Geburtstag. Für mich ein würdiger Ort, meinen Geburtstag zu feiern. Aus meinem Zelt holte ich die Flasche Sekt, die ich extra für diesen Anlass mitgenommen hatte. In gemütlicher Runde plauderten wir bis in den Morgen hinein. Grundfragen des Lebens bildeten einen Grossteil des Lageralltags. Die Diskussionen wurden mit jedem Mal angeregter. Jeder der von einer Erkundungstour kam, brachte neben spannenden Erlebnisberichten auch Denkanstösse mit. Alle setzten sich mit den Schilderungen des Erzählenden auseinander. Auch Übermut und Witz sprudelten mitunter aus der Runde.
Um 11 Uhr stand ich auf und bereitete das Frühstück zu. Nach dem Abwaschen ging es nochmals nach Isfjord Radio. Ferdi, Georg und ich aus Schusters Rappen, die andern drei mit dem Boot. Unterwegs fotografierte ich brütende Eiderenten, die ihre Nester um die ganze Station angelegt hatten. Auf Isfjord Radio Station betreuen zwei Frauen und zwei Männer die Anlagen und die Poststation. Von da konnten wir auch eine Karte an unsere Lieben zu Hause schreiben. Nach einem Kaffee, der uns in der gemütlichen Stube serviert wurde, gingen wir über Kapp Mineral, wo um 1920 eine englische Zinkmine betrieben wurde, zum Basislager zurück, wo Oski mit einem fantastischen Nachtessen aufwartete. Danach verzog ich mich mit über-schwerem Bauch ins Zelt und schrieb am Tagebuch. Den ganzen Tag hatten wir mässigen Südwind und Nieselregen bei 4 Grad.
Mittwoch, 13. Juli
Um 11 Uhr aufgestanden. Am Nachmittag Steine gesucht und auf einer Rundwanderung zum Linne Vatnet sehr schöne Rentier Geweihe gefunden. Ein bisschen fotografiert, wieder sehr gut gegessen und um 22 Uhr in den Schlafsack.
Donnerstag, 14. Juli
Um Mitternacht ertönte der Gong und Ferdi verkündete lauthals „Mitternachts-Kaffee“. Ausser Heidi standen wir alle auf und wirklich, auf dem Tisch im Mannschaftszelt standen eine Kanne frischer Kaffe und eine Schale gefüllte Biberli. Danach gab es noch Salami und Käse. Der Hock dauerte bis zwei Uhr, dann huschten wir wieder ab in unsere Schlafzelte.
Nach dem Morgenessen um 12 Uhr wanderten wir vier Stunden durch die riesige Ebene rund um Kapp Linne. Dabei kamen wir an zwei Rentier Kadavern vorbei, die den harten Winter nicht überstanden hatten. Auf dem Rückweg konnten Georg und ich eine brütende Schnepfe fotografieren. Furchtlos liess uns der niedliche, gut getarnte Vogel bis auf etwa einen halben Meter an sich herankommen. Nach 20 Uhr bereitete ich das Nachtessen zu. Heute gab es Suppe, Linsen mit Speck und Wurst.
Freitag, 15. Juli
Um halb drei Uhr kam ich mit Ferdi von einer Nachtwanderung bei Nieselregen zurück und haute mich in die Pfanne. Um 9 Uhr wurde gefrühstückt und danach die Sachen hergerichtet für den Materialtransport zum Bellsund. Bei ziemlich glatter See ging es um die Mittagszeit aufs Wasser. Auf Grondsteindalen wurde ein „Brunzhalt“ eingeschalten. Gegen den Bellsund wurde es immer rauer und stürmischer, sodass wir im umdrehten und Kapp Martin anliefen.
Anderthalb Stunden später fuhren wir weiter und kamen um 22 Uhr, nach mehr als neun Stunden, steif und nass in der Väsolbukta an. Sofort wurde das Mannschaftszelt aufgerichtet und gekocht.
Samstag, 16. Juli / Sonntag, 17. Juli
2.30 Uhr, ein Gläschen Gognac und die gesunde Müdigkeit trugen dazu bei, dass nicht lange wach im Schlafsack lag. Der Gong ertönte um 13 Uhr. Nach dem Frühstück diskutierten wie, was als nächstes zu tun war.
Danach beschlossen wir das Restmaterial zu holen. Heidi und Silvio blieben im Basislager. Wir anderen fuhren mit einem Boot im Schlepptau zurück. Prächtige Stimmungsbilder wurden uns bei ruhiger See offenbart. Nach viereinhalbstündiger Fahrt landeten wir in Russekeila, beluden die Boote und fuhren nach einem Imbiss geradewegs zurück. Das Prachtswetter und die glatte See mussten unbedingt ausgenützt werden. Ich fuhr lange Zeit alleine mit dem kleinen Boot voraus, bis mich Georg ablöste. Ein kühler Nordwind bliess, doch die herrliche Mitternachtssonne liess etwas Wärme aufkommen, wenn auch nur gefühlsmässig. Nach genau sechsstündiger Fahrt waren wir um 5.45 Uhr wieder zurück im Basislager, wo wir von Silvio empfangen wurden und Heidi mit einem feudalen Mal aufwartete. Mit voll gestopftem Bauch legte ich mich an diesem Sonntagmorgen aufs Ohr und schlief bis 17 Uhr. Danach holte ich den Rückstand im Tagebuchschreiben nach und „duschte“ mich.
Zwischen 20 Uhr bis Mitternacht erlebte ich einmalige Naturschauspiele. Zuerst wurde ich von Raubmöwen angegriffen. Im Sturzflug stürzten sie sich auf mich nieder und sausten ein paar Zentimeter über meinen Kopf hinweg. Umringt von 28 Rentieren beobachtete ich einen Polarfuchs beim Vogelnester suchen. Kurz danach sass ich in einer Geröllhalde inmitten von Krabbentauchern. Zu Hunderten umflogen sie mich mit lautem Kreischen und setzten sich dann unmittelbar neben mich auf die Steine.
Die zahlreichen kleinen Blümchen und Pflänzchen faszinierten mich. Wir „grossen“ Menschen müssen uns schon zu ihnen hinunterbücken, wenn wir ihre Schönheit bewundern wollen. Reich beschenkt kehrte ich nach vier Stunden zum Zelt zurück.
Montag, 18. Juli
Nach dem Essen, etwa um 2 Uhr, hielten wir erneut eine Lagebesprechung ab. Wir vereinbarten, dass wir nach dem Aufstehen von hier in Camp Bell aus zum Fridtjofbreen fahren würden, um Robben zu fotografieren. Tags darauf könnten wir eine Skitour oder eine Wanderung unternehmen und danach in die Nähe der Malbukta unser Basislager verschieben.
Bei schönem Wetter aber ziemlich kaltem Wind gingen Silvio, Ferdi und ich um 3.30 Uhr noch auf einen einstündigen Rundgang, um Möwen zu fotografieren. Wieder war es ein Erlebnis der besonderen Art. Die Altmöwen verteidigten ihre Nachkommen bis aufs Äusserste indem sie jeden Störenfried in ihrem Brutgebiet mit schmerzhaften Schnabelhieben attackieren. Als ich mich zwei hellgrauen Daunenknäuel näherte, überflog mich ein Altvogel und hackte mich auf den Kopf, dass der Filzhut ein Loch hatte und darunter eine ordentliche Beule wuchs.
Um 11 Uhr bereitete ich im Mannschaftszelt das Frühstück zu. Danach mussten die Boote geputzt und auf der Kielaussenseite etwas geklebt werden. Dann machten wir einen Ausflug und fuhren mit beiden Booten durch den Akselsundet zum Fridtjofbreen. Als Oski, Georg und ich mit unserem Alk um die Halbinsel Hamnodden am rechten Ufer gegen den Fridtjofbreen zuhielten, sahen wir auf dem Eis etwa 200 Robben liegen, die das herrliche Sommerwetter genossen. Zu einer einzelnen Robbe, die auf einer Eisscholle lag, kamen wir mit Paddeln bis auf vier Meter heran. Bei spiegelglatter See konnten wir die schönsten Bilder dieser treuäugigen Salzwasserkreaturen schiessen. Auf dem Rückweg hielten wir bei Hamnodden und beobachteten die Kücken der Küstenseeschwalben. Dann steuerten wir die Insel Akseløya an, wo wir schöne Versteinerungen fanden. Mit schönen Erinnerungen ging es zum Basislager zurück, wo Georg und Ferdi mit einer herzhaften Rösti auf uns warteten.
Dienstag, 19. Juli
Nach der reichhaltigen Mahlzeit schlenderten Ferdi, Oski und ich noch bis 5 Uhr an der Küste entlang bis Skjerpodden. Dann ging’s ab in die Klappe. Geschlafen hatte ich bis 13. Uhr. Nach dem Morgenessen machten wir uns auf zum Flynibba, mit 775 Metern der höchste Berg in dieser Gegend, der vom Basislager aus gut sichtbar war. Nach zwei Stunden über lockere Geröllfelder waren wir auf dem Gipfel und genossen die grandiosen Tiefblicke bis uns der Nebel einhüllte. Unten angekommen hatten Oski und ich Waschtag. Kurz darauf flatterte unsere Wäsche an der Leine waagrecht im steifen Nordwestwind.
Nach 22 Uhr ging nochmals alleine zum Vogelfelsen, an dessen Steilklippen die lustigen Tordalken brüteten, und hoffte, gutes Fotomaterial mitzubringen. Neugierig und verdutzt wurde ich von hunderten schwarz-weiss gefiederten Meerestauchern beobachtet und umschwirrt. Ohne Unterbruch vernehmen wir im Basislager ihr Kreischen und Krächzen, das sich anhört wie ein tosender Wasserfall. Auf dem Rückweg kam ich bei den Möwenjungen vorbei und war erstaunt, wie gross und mollig sie in der kurzen Zeit gewor-den waren.
Mittwoch, 20. Juli
Um 2 Uhr ging ich in mein Zelt, konnte aber bis 5 Uhr nicht einschlafen. Wahrscheinlich machte der Kaffee von seiner bekannten Wirkung Gebrauch. Um 11.30 Uhr ertönte der Essens-Gong. Ich genehmigte mir lediglich eine Ovomaltine und legte mich einmal für zwei Stunden aufs Ohr. Während des Nachmittags wurden die Boote beladen, sodass wir gegen 17.30 Uhr startklar waren. Bei schönstem Wetter und kurzem Wellengang fuhren wir vorerst gegen die Westküste von Nathorstland uns liefen später Linenes in der Malbukta an. Als wir den besichtigten fuhren wir um Reinodden herum bis nach Svarthamaren.
Kaum waren wir an Land, hielt Silvio uns vier Männern eine Standpauke. Über das, was ihn dazu bewegte, konnten wir nur spekulieren. Wir vermuteten, dass es etwas damit zu tun haben musste, weil er der einzige war, der mit seiner Partnerin dabei war. Vielleicht war er überfordert, die Verantwortung für Heidi in dieser Wildnis übernehmen zu müssen. Was auch immer der Auslöser für sein Verhalten war, zu einem kameradschaftlichen Klima hat es nicht beigetragen und sollte bis zum Ende der Expedition die Wirkung behalten.
Nach dieser ernüchternden Predigt beschlossen wir, das Lager hier aufzubauen. Es sollte für die nächsten 4–5 Wochen stehen bleiben, darum war ein guter Ausgangspunkt notwendig. Die Ladung wurde gelöscht und bei ruhigem Wasser landeten wir eine Stunde später schon wieder in Camp Bell.
Donnerstag, 21. Juli
Nach dem Essen hielt ich mich noch bis halb sechs Uhr am Strand auf und beobachtete das wunderbare Zusammenspiel von Wolken Wind und Wellen. Mit einer Handvoll gesuchter kleiner Kieselsteinen kehrte ich zum Zelt zurück. Gegen 9 Uhr setzte auf einmal heftiger Wind aus Südost ein. Regen und bis sturmartige Winde hinderten uns fast den ganzen Tag über unsere Zelte zu verlassen. Mit Dösen und Lesen ging auch dieser Tag vorbei.
Freitag, 22. Juli / Samstag 23. Juli
Bis um die Mittagszeit rüttelten sturmartige Böen am Zelt. Im Laufe des Nachmittags wurde es windstill und wir konnten zusammenpacken. Um 22.30 Hur fuhren wir mit dem Restmaterial über den Bellsund dem neuen Basislager entgegen. nach knapp dreistündiger, ruhiger Fahrt ohne Mitternachtssonne entluden wir die Boote am Strand von Loegerneset. Nach Schweizer Art wurden vor dem Essen sämtliche Fleissarbeiten verrichtet. Ohne Wind und Vogelgekreische schlief ich um 7.30 Uhr friedlich ein.
Um 14.30 Uhr wurde ich durch Schnauben und Blasen wach. Eine Herde Belugas (Weisswale) zog mit ihren Jungen einige Meter vom Ufer entfernt an unserem Camp vorbei. Wieder ein Markstein in der Tierserie, die wir hier bis anhin erleben durften. Als wir uns satt gesehen hatten ging es an die Arbeit. Emsiges Treiben kam auf in unserem Lagerleben. Ein Steinofen zum Brot backen wurde gebaut und sibirisches Treibholz zu Feuerholz verarbeitet. Danach machten sich Georg und ich zu einem dreistündigen Rundgang Linenes auf, wo wir auf einer kleinen Anhöhe eine Schürftafel von 1905 fanden, die wir bei der Rückkehr im Svalbard Museum abgeben wollen. Am späten Abend weihten wir den Ofen ein. Als das Muster ordentlich gelang, wurden noch 8 weitere Brote geformt und gebacken.
Sonntag, 24. Juli
Zirka um 3 Uhr gab es ein regelrechtes Schlemmerfestival: aufgetischt wurde frischgebackenes Roggenbrot, Käse und Trockenfleisch. Der Kafi Chrüter zum Nachtisch gab uns die nötige Bettschwere. Gegen Abend setzte bei dichtem Nebel teils heftiger Regen ein. Zeit zum Lesen und Träumen war angesagt.
Montag, 25. Juli
Punkt Mitternacht hörte es auf zu Regnen. Oski und ich machten uns auf den Weg zu einem Fuchsbau. Bis auf zwei Meter kam Meister Reinecke an mich heran und versuchte mich mit kläglichem Heulen wegzujagen. Zum fotografieren war es etwas zu düster, doch das Erlebnis war hell beleuchtet. Zurück im Camp legte ich mich nach dem Verzehr einer Fleischpastete und einem Thonsalat um 4 Uhr schlafen.
Gefrühstückt wurde um 16 Uhr. Ferdi, Georg und ich wanderten gegen den Recherchebreen, wo wir auf halbem Weg auf eine windschiefe, verlotterte Mannschaftshütte von einstigen Grubenarbeitern stiessen.
Dienstag, 26. Juli
Trotz Regen und Nebel hänge ich um 2 Uhr meine gewaschene Wäsche an die Wäscheleine vor dem Zelt, bevor ich mich wieder in die Daunen lege und mich meiner mitgenommenen Literatur zuwende. Nach 9 Uhr stand ich hinter der Kochkiste und bereitete frischen Bohnenkaffee und Griesbrei mit Rosinen für das Frühstück zu. Danach montierten wir die Bindungen, die wir separat mitführten, auf die Skier. Aus dem Ofen duftete es vom frischen Brot, das wir vor dem Aufbruch an die Ostküste noch backten.
Mittwoch, 27. Juli
Etwa 100 Meter neben unseren Zelten haben wir eine „Gründeponie“ erstellt. Als ich nach dem Nachtessen die Abwaschschüssel leerte, tummelten sich sechs Polarfüchse darum. Ohne Schwierigkeiten kam ich bis auf zwei Meter an die Tiere heran. Dann war ich mit Packen beschäftigt, legte mich um 5 Uhr schlafen und weckte um 11 Uhr die andern zum Frühstück. Nach dem Aufräumen beluden wir die Boote und fuhren bei Sonnenschein durch den verhältnismässig schmalen Van Keulenfjorden. Ganze fünf Stunden be-nötigten wir zu sechst auf einem Boot bis zum Abbruch des Nathorstbreen. Auf einer Moräne stellten wir unser Lager auf.
Donnerstag, 28. Juli
Bis zwei Uhr paddelten Oski und ich zwischen riesigen Eisbrocken den mächtigen Gletscherabbruch entlang. Mit grosser Geduld kamen wir auch diesmal wieder bis auf etwa vier Meter an eine Robbe heran, die sich auf einer Eisscholle räkelte.
Im Laufe des Morgens trugen wir das Material über Gletschermorast aufs Eis, von da wir um 12.30 Uhr mit den Schlitten über den Liestölbreen loszogen, auf dem wir nach fünf Stunden zirka 15 Kilometer zurückgelegt hat-ten. Als Nebel aufkam schlugen wir die Zelte auf, kochten und verzogen uns in die Schlafsäcke.
Freitag, 29. Juli
Als wir um halb elf Uhr aufstanden, war immer noch alles im Nebel. Doch wir wollten weiter. Nach Mittag zogen wir gegen den Pass. Zum Nebel gesellte sich noch Nieselregen hinzu, der uns den restlichen Tag über beglei-tete. Nur noch mit Kompass konnte die ungefähre Richtung bestimmt werden. Die Karte 1:100'000, die wir von diesem Gebiet besassen, war eine schwarz-weiss Kopie. Nach dem Pass gerieten wir an ein Spaltengewirr, wo Oski und ich einen Durchschlupf suchten. Gletscherbäche und -sümpfe erschwerten ein zügiges Vorwärtskommen. Unendlich lang zog sich der Jemilianovbreen gegen Osten der Küste zu. kurz vor Mitternacht, nach zehneinhalb Stunden, schlugen wir völlig durchnässt die Zelte auf. Bis zur Ostküste fehlten noch etwa dreieinhalb Kilometer.
Samstag, 30. Juli
Zum dritten Mal gab es Rösti, dazu von Oski einen Becher Eichhof hell. Als wir die Sachen zum trocknen ausgebreitet hatten, versuchten wir um 2.30 Uhr auf den feuchten Schlafsäcken liegend doch noch etwas Schlaf zu fin-den. Doch wurde bis um 16 Uhr, als wir aufstanden ein hin- und herdrehen. Die Sicht verbesserte sich ein wenig, sodass wir nach Absprache um 18 Uhr gegen die Ostküste losmarschieren wollten. Als wir aufbrachen kam der Nebel wieder. Nach etwa einer halben Sunde Marschzeit sahen wir das Treib-eis, dahinter sogar die Packeisgrenze. Kurz vor 20 Uhr hatten wir unser zweites Expeditionsziel erreicht. Wir gratulierten einander und genossen den „Spezialtrunk“, den Heidi von ihrer Freundin extra für diesen Augenblick geschenkt bekam. Bis in den späten Abend hinein verweilten wir an der Küste, stiegen auf die zahlreichen Treibeisklötze und sammelten Steine. Dann kehrten wir wieder zu den Zelten zurück, die ungefähr eine Stunde entfernt standen.
Von unserem Ausgangspunkt am Van Keulenfjorden bis zur Ostküste hatten wir etwa 35 Kilometer zurückgelegt.
Sonntag, 31. Juli / Montag, 1. August / Dienstag, 2. August
Zur Feier des Tages beschenkte uns Ferdi mit Kirschschokolade, Caramelcreme, und einem ordentlichen Schluck Cognac. Eine schöne Geste, zum ganzen material dazu noch solche Überraschungen mitzuschleppen. mittlerweile war es 3 Uhr. Wir berieten, wie wir unsere weitere Route fortsetzen wollten. Vorerst nächtigten wir noch einmal.
Um 14.30 Uhr stand ich auf, kochte und richtete die Sachen für den Weitermarsch her. Punkt 17 Uhr starteten wir auf der gleichen Route wie beim Anmarsch wieder zurück. Nach etwa 2 Stunden ragte ein herrlicher Skigipfel aus dem Nebel. Die Sonne brach durch und wir beschlossen, einen Abstecher auf den Berg zu machen. Knappe 2 Stunden später erreichten wir bei Windstille und angenehmen 8 Grad den höchsten Punkt und genossen die Sicht bis zum Treibeis. Grosse Freude kam auf, als wir feststellten, dass das eine Erstbegehung war. Ein kleiner Wehmutstropfen blieb: Auf einem Eishang stürzte ich und zog mir ohne Handschuhe tiefe Verletzungen an den Fingern zu. Über den Verbindungsgrat stand ich eine Stunde später auf dem Nachbargipfel, ein ebenfalls noch jungfräulicher Berg. Von hier gab es eine schöne Abfahrt, für Spitzbergen ein eher seltenes Vergnügen. Das Bergsteigermanko war somit etwas ausgeglichen. Unten angekommen wurden wieder die Steigfelle montiert, die Schlitten angehängt und weiter ging’s. Eine Stunde vor dem Steilhang rasteten wir und kochten. Dann nahmen wir auch dieses Hindernis in Angriff. Vor 5 Uhr erreichten wir das Plateau, wo wir die Zelte aufstellten. Georg und ich sahen von da aus nochmals eine Chance für eine Erstbegehung und starteten mit durchnässten Schuhen zum Aufstieg.
Was für ein Nationalfeiertag. Um 7 Uhr standen wir als erste Menschen auf diesem Berg. Ein schönes Gefühl, so etwas erleben zu können, wenn auch im Nebel. Um 8 Uhr ging ich zufrieden in den Schlafsack und konnte seit langem wieder einmal durchschlafen.
Bis 19 Uhr wurde gepennt, danach gefrühstückt und gepackt. Um 21.15 Uhr standen wir angeschnallt vor den Schlitten. Scheinbar unendlich zog sich der breite Liestölbreen gegen die Küste. Lange Mulden mussten durchquert werden, einmal oben angelangt, folgte schon die nächste Senke. Doch auch diesmal war der Durchhaltewille stark genug, denn um 4.15 Uhr erreichten wir unseren Ausgangspunkt, den wir sechs tage zuvor verlassen hatten.
Bei fast glatter See tuckerten wir um 19 Uhr Fjord auswärts. In der Nähe von zwei Robben, die auf einer Eisscholle trieben, stellten wir den Motor ab und trieben langsam auf die fettleibigen Säugetiere zu. Trotz einiger Beunruhigung liessen sie sich ablichten. Auf der Höhe des Finsterwaldbreens landeten wir bei einer Hütte des Polar Institutes. Wir schrieben uns ins Gästebuch ein und fuhren weiter. Wind kam auf und hohe Wellen schlugen gegen den Bug. Etwas steif aber glücklich wieder „daheim“ zu sein, stiegen wir um Mitternacht aus unserem Alk.
Mittwoch, 3. August
Ein grandioses Essen wurde uns von Oski zubereitet und von uns mit herzhaftem Appetit verschlungen. Dann wurde bis in die frühen Morgenstunden ausgepackt, die Sachen getrocknet und wieder einquartiert. Alleine im eigenen Zelt kam sich jeder wie der grösste Krösus vor. Bei schönstem Wetter betrug die Wassertemperatur nur 1.5 Grad und die erste Eisschicht auf der Oberfläche kündete bereits den Herbst an. Auch die filigranen Blumen waren während unserer Abwesenheit fast verwelkt.
Um zehn Uhr machte ich mich auf zum Fuchsbau. Unterwegs wurde ich Zeuge eines dramatischen Naturschauspiels. Zwei Raubmöwen jagten einen kleinen Vogel, eine schwarz-weisse Finkenart. Abwechslungsweise hackten sie im Zick-Zack-Flug auf ihn ein, bis er zu Boden ging und folglich das Opfer dieser gefrässigen Raubvögel wurde. Kurz vor dem Fuchsbau begegnete ich Vater oder Mutter Reinecke, als er mit einer Beute im Fang den Welpen zu trottete. Mit Schwanzwedeln und Fiepen wurde er von der Jungmannschaft empfangen. Dann wurde die erbeutete Raubmöwe verzehrt. Mutter Natur hatte somit den Ausgleich geschaffen nach dem Motto: Jagen und gejagt werden.
Um 16 Uhr wurde ich im Zelt durch heftigen Wind geweckt, Windböen preschten an die Plane, ich schlief aber bis zum Frühstück um 21 Uhr wieder ein.
Donnerstag, 4. August
Ausser Oski, der Blasen an den Fersen hatte, stiegen wir um Mitternacht bei starker Bewölkung über die steile Firnrinne auf den 696 Meter hohen Jarnfjellet. Nieselregen kam auf. Heidi und Silvio entschieden sich für den Abstieg. Ferdi, Georg und ich gelangten über den Südgrat zu einem weiteren Gipfel, den 655 Meter hohen Maria Theresiat P. gegen halb fünf Uhr waren wir wieder im Basislager, wo Oski einmal mehr mit einem Supermenu auf uns wartete. Danach starteten wir drei aufs Neue Richtung Jarnfiellet, wobei wir einzigartige Blumen entdeckten. Ferdis Müdigkeit nahm zu und er verabschiedete sich. Georg und ich stiegen durch ein Couloir zwischen Jarnfjellet und Okernuten und entdeckten auf halber Höhe ein altes Bergwerk. Ofen, Amboss, Ventilator und viele Werkzeuge liessen viel von der einst harten Arbeit erahnen. Auf dem Rückweg fand ich eine unbeschädigte Schürftafel aus dem Jahr 1905.
Um 13 Uhr waren wir bei den Zelten und legten uns schlafen. Als ich um 21 Uhr aus dem Zelt schlüpfte, sah es aus, als wären wir eingeschlossen. Der ganze Bellsund war voller Treibeis. Vom Lager aus sah die weisse Barriere aus wie eine riesige Gletscherfront. Ein natürliches Laboratorium in Echt-zeit. Unser geplanter Vorstoss zum Hornsund war vorerst ins Eis gefallen.
Freitag, 5. August
Das Frühstück mit dem frischen Brot, das Heidi und Silvio gebacken hatten, tröstete uns darüber hinweg, dass wir hier festsassen. Das Eis machte keine Anstalten, sich zu verziehen. Im Gegenteil, der Gürtel wurde immer breiter. Der ganze Fjord war mit Treibeis übersät, sodass die Ausfahrt aus dem Bellsund blockiert war. Nebel und Regen taten das Übrige dazu, dass keine grosse Lust aufkam, irgendetwas zu unternehmen. Im Laufe des Tages stellte ich mein Zelt abseits des Lagers auf einen weicheren Untergrund. Der frühere Standort mit den spitzen Steinen war nicht das Beste für den Zeltboden. Danach schlenderte ich weit nördlich an der Küste entlang und fotografierte.
Samstag, 6. August
Der Fjord präsentierte sich höchst arktisch. Mit Getöse wurden die Treibeis-schollen aneinandergedrückt. Der Bellsund war wieder offen, dafür hatte sich das Eis gegen den Recherchefjorden gedrängt und machte unseren Hafen unpassierbar. Ausser Kochen, Holzsägen und Fotografieren, verlief der ganze Tag ohne nennenswerte Begebenheiten. Ein Highlight jedoch gab es zu verzeichnen: Für mich backten meine Kameraden den verspäteten Geburtstagskuchen.
Sonntag, 7. August
Es wurde ziemlich warm im Schlafsack. Nach vier Tagen kalter Luft und teilweisem Nieselregen schien wieder einmal die Sonne durch vorüberziehende Wolkenfelder. Gemäss unserem Plan sollte wir heute Richtung Hornsund starten können, sonst könnte es knapp werden.
Um 13.30 Uhr tuckerten Oski und ich im kleinen, die andern im grossen Boot durch das unendlich scheinende Treibeisfeld im Recherchefjorden gegen Calypsobyen davon. Auf der Höhe von Revardodden verschwand die Sonne und schlagartig nahm der Wellengang zu. Mit halber Kraft umfuhren wir Kapp Lyell, Bellpynten und Klokkodden, wo der weissgesäumte Strand vom angeschwemmten Treibeis aufleuchtete.
Bei zunehmendem Südwind erreichten wir nach zweieinhalbstündiger Fahrt durch ein Untiefengewirr mit paddeln den Strand von Kvitfiskpynten. Hoher Seegang, dazu grosse Treibeisfelder hinderten uns am Weiterkommen. Wir entluden die Boote, schlugen die Zelte auf und verzogen uns die die windgeschützten Behausungen. Kaum waren wir untergeschlüpft, prasselte der stärkste Regenschauer hernieder, seit unserer Anwesenheit auf Svalbard. Hier liess es sich gut weilen, während draussen gehässige Windstösse Graupeln und Schlosse gegen die Planen trieben. Vorläufig blieb uns nicht viel anderes übrig, als versuchen zu schlafen.
Montag, 8. August
Wie ein gewaltiger Wasserfall hörte sich das Tosen der Brandung an. Riesige Brecher stürzten sich gegen den Strand und lösten sich in schäumende Gischt auf. Der Wind hatte während der Nacht nachgelassen, doch das Meer war immer noch sehr unruhig. Während des ganzen Tages hüteten wir das Zelt, unterhielten uns mit Geschichten erzählen und einem Würfelspiel. Gegen Abend überraschte uns Heidi mit einem aromatischen„Jagertee“ und danach besuchten uns vier von sechs englischen Kanuten, die mit ihren schmalen Booten ebenfalls den Hornsund zum Ziel hatten.
Dienstag, 9. August
Das Wetter blieb rau, der Wind, von eisigen Regenschauern schräg durchpfeilt, setzte nur aus, wenn Nebel die See einhüllte. Wasserwände rasten aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu. Laut dröhnend prallten sie zusammen, liessen die Gischt hoch aufsprühen. Der Strand war ein Gürtel aus Schaum. Um die Mittagszeit statteten wir den Kanufahrern einen Besuch ab, die jedoch alle schliefen.
Ein angeschwemmtes Fass verschaffte uns eine kleine Beschäftigung. So hatten wir wenigstens etwas zum Holzen. Etwa um 17 Uhr klarte es auf. Bald einmal legten wir uns schlafen, denn um 2 Uhr wollten wir neue Lagebesprechung halten.
Mittwoch, 10. August
Schlaftrunken und steif standen wir um 2 Uhr am Strand und beobachteten das Wetter. Es schlugen zu hohe Wellen an den Strand, sodass an eine Weiterfahrt nicht zu denken war. Also wieder ab in die warmen Daunen. Vier Stunden später erneutes Ausschau halten. Das Wetter schien sich zu bessern und wir beschlossen, nach dem Frühstück aufzubrechen. Mit Paddeln mussten wir durch die vielen Untiefen das offene Eismeer erreichen, dann ging es mit Motorkraft südwärts. Etwa fünf Meter hohe Dünungswellen waren zu bewältigen, wobei unser Frachtgut etlichen Schlägen ausgesetzt war. Vorbei an Kapp Klaveness gegen Kapp Borthen am nördlichen Ende des Torellbreen steuerten wir den Hornsund an. Nach fünfstündiger ununterbrochener Fahrt erreichten wir den Strand der Jsbjörnhamna am Westende des Hansbreen. Hier war seit 1979 eine Polnische Forschungsstation eingerichtet, von der sofort zwei Mann beim entladen unserer Boote mithalfen. Anschliessend waren wir bei ihnen zum Kaffee eingeladen. Mit einer selten gekannten Gastfreundschaft wurden wir bewirtet. Später er-klärte uns der Forschungsleiter sämtliche Untersuchungen den jeweiligen Arbeitsplätzen. Ungewohnt in einer warmen Stube zu sitzen, gingen wir mit erhitzten Köpfen wieder zu unseren Zelten zurück.
Ferdi, Georg und ich stiegen danach noch auf den 569 Meter hohen Fugleberget, wo wir eine herrliche Aussicht auf den Hornbreen geniessen konnten. Beim Abstieg scheuchten wir eine Schar Schneehühner auf.
Donnerstag, 11. August
Als ich um 10 Uhr aufwachte, tropfte es wieder einmal aufs Zeltdach. Die Gipfelregionen der umliegenden Berge waren weiss gezuckert. Der Nebel hing tief bei vollständiger Windstille. Hinter unserem Lager watschelte eine Schar Gänse vorbei. Unter ihnen befand sich ein Albino.
Nach 18 Uhr wanderte ich durch Regen und Nebel am Strand entlang zum Hansbreen. Auf dem Rückweg über die Moräne schwammen in einem Süsswasserteich 35 Nonnengänse, darunter 10 Jungtiere. Beim Aufstieg zum Vogelberg begegnete ich einem Polnischen Ornithologen. Nach einem interessanten Gespräch lud mich Lech in die Trapperhütte ein, die er an der Küste bewohnte.
Während dem Essen von dreiminuten-Eiern, Brot, Butter und Fleisch erklärte mir Lech, welche Vogelarten auf Svalbard vorkommen. Anhand meiner Schilderungen war er der Meinung, dass wir bereits sämtliche Arten kennen gelernt hatten. Um Mitternacht verabschiedete ich mich, herzlich für die Gastfreundschaft dankend, und ging durch erstes Schneegestöber meinem Zelt entgegen.
Freitag, 12. August
Während der ganzen Nacht stürmte es. Doch nicht allein das Flattern der Zeltplanen hielt mich bis 5 Uhr wach, vielmehr war es der von den Polen gebraute Schwarztee. Ferdi, Heidi und Silvio wollten den Hornsund erkunden. Wir halfen ihnen das Boot klarmachen. Ich ging allein nach Ariedalen. Von da hatte ich einen guten Überblick und entschied mich für die Besteigung des 733 Meter hohen Skoddefjellet. Auf halbem Weg stiess Georg zu mir, so stiegen wir gemeinsam auf. Schöne Blumen säumten den Weg. Bei aufklarendem Wetter und einer grandiosen Fernsicht kamen wir um 17.45 Uhr auf den Gipfel, der erstmals 1972 bestiegen wurde. stark aufkommen-der Wind mahnte uns zur Rückkehr.
Samstag, 13. August
Nach unseren Wetterbeobachtungen schätzten wir, dass die Aufhellung für ein paar Stunden anhalten sollte und beschlossen aufzubrechen. Bei Jan Cisak im Polencamp bedankten und verabschiedeten wir uns. Um 14 Uhr starteten wir den 35 PS Aussenbordmotor, der bis anhin ohne eine Panne seinen Dienst verrichtete. Abwechslungsweise steuerten wir das Gummiboot durch kurzen Wellengang unserem Basislager zu. Zum Abschied zeigte sich der Hornsund in frisch verschneiter Gipfelpracht. Wir fuhren in eine Nebelfront, wo uns sofort riesige Wellen umgaben. Als dickes weisses Gespinst schob er sich vor uns her. Die Umgebung war nur mehr eine dichte Nebelküche, in der auch alles Geräusch bis zur Unhörbarkeit gedämpft war. Doch auch diese Passage wurde bewältigt. Nach gut 6 Stunden legten wir triefend von Spritzwasser in Loegerneset an. Wir waren froh, die 130 Kilometer ohne Halt zurückgelegt zu haben.
Sonntag, 14. August
Ein vertrautes Geräusch weckte mich auf. Regentropfen trommelten wieder einmal auf das Zeltdach. Es schien somit keinen Sonntagsausflug zu geben. Stattdessen war Duschen und Wäsche waschen angesagt. Irgendwann fing es bis auf Meereshöhe an zu schneien.
Montag, 15. August
Etwa um 14 Uhr durchfuhren Silvio, Heidi, Ferdi und ich mit dem kleinen Boot den Recherchefjorden. Nach einer knappen Viertelstunde hatten wir die sieben Kilometer bis südlich von Calypsobyen zurückgelegt. Hier trennten sich unsere Wege und Interessen. Wir vereinbarten, dass wir uns hier um 20.30 Uhr wieder treffen wollten.
Ich entschied mich für die Besteigung des Activekammen und zwar für den 538 Meter hohen Nordgipfel. Vorerst marschierte ich der Moräne entlang gegen den Renardbreen. Über Schutthalden und lockere Grate war ich nach zweieinviertel Stunden bei leichtem Schneefall und aufkommendem Nebel auf dem Gipfel. Auf dem Rückweg querte ich den Renadbreen bis zur Moräne von Bollingryggen und gelangte so zum Vorlandsaum bis zum Fluss vor Renardotten. Vorbei an der alten zerfallenen Minensiedlung Calypsobyen war ich um 19.30 Uhr wieder am vereinbarten Ausgangspunkt. Nach der Überfahrt kochte ich ein feines Curry-Reis, Ferdis Leibspeise.
Dienstag, 16. August
Um 11 Uhr packte ich den Rucksack und stieg bei schönem Sonnenschein über ein Firncouloir gegen den Okernuten (717 m). In zügigem Tempo er-reichte ich den ersten Berg von meiner geplanten Dreigipfel-Überschreitung. Weiter über den zerklüfteten und brüchigen Nordgrat stand ich nach zweieinhalb Stunden auf dem zweiten Gipfel, dem 805 Meter hohen Magnethögda. Immer dichter werdender Nebel hüllte mich ein. Über den nächsten nördlich verlaufenden Verbindungsgrat gelang ich eine Stunde darauf den 771 Meter hohen Durochertoppen. Frisch verschneit wies der Grat hochalpinen Charakter auf und bot bergsteigerisch gesehen die grössten Schwierigkeit aller bisher unternommenen Besteigungen. Nun nahm mir der Nebel vollends die Sicht und ohne lange zu verweilen stieg ich über den Westgrat gegen die Moräne am Recherchebreen ab. Entlang der Küste war ich fünf Stunden später wieder wohlbehalten im Lager.
Mittwoch, 17. August
Den ganzen Tag über war es windig und neblig bei 3 Grad. Mit Lesen und Schnitzen vertrieb ich mir die Zeit. Ferdis Leistung bezüglich „Verpflegung“ honorierte ich mit einer geschnitzten Löffel-Gabel-Kombination, hergestellt aus einer angeschwemmten Fasstaube. Für mich selbst fertigte ich aus Sibirischem Treibholz ein Essbesteck, bestehend aus Messer, Gabel und Löffel.
Donnerstag, 18. August
Gleiches Wetter wie gestern. Nebel, teilweise Schneefall und Nordwestwind, dazu ziemlich raue See. Ich beschäftigte mich wieder mit meinem hölzernen Besteck, das langsam Form annahm.
Freitag, 19. August
Das andauernde Schlechtwetter hielt uns von weiteren Unternehmungen ab. Es wehte immer noch ein heftiger, kalter Nordwind. Gegen Abend wurde der Ofen eingeheizt und ein jeder fertigte auf seine Art eine Pizza an. Aus Mais- und Brotmehl mischten wir den Teig. Meine Zutaten für die Füllung bestanden aus Thon, Hackbraten, Salami, Käse, Spargeln, Tomatensauce, und vielen Gewürzkräutern. Ich hackte alles fein, mischte es zu einem Brei und strich die Masse auf den rund ausgewalzten Teig. Für meinen Geschmack kam nach etwa 15 Minuten Backzeit eine kulinarische Köstlichkeit aus dem Naturbackofen, die ich genussvoll verspeiste.
Samstag, 20. August
Um 1 Uhr ging ich schlafen, wachte aber kurz danach mit heftigen Zahnschmerzen auf. Am 27. Juli hatte ich mir ein Stück von einem Stockzahn ausgebissen. Verursacher war ein kleines Steinchen, das am Brotboden haftete. Seither hatte ich ständig etwas Zahnweh, aber nie derart heftig wie in dieser Nacht. Wahrscheinlich rührte es vom gestrigen Abend her, als ich lange am Ofen sass und die Entzündung durch die Wärme schneller fortschreiten konnte.
Nach dem Morgenessen räumten wir unseren Lagerplatz zusammen, damit wir bei einer Wetterbesserung schneller aufbruchbereit wären. Der Abfall war verbrannt, das Mannschaftszelt gewaschen und sämtliche Putzarbeiten erledigt. Ein jeder hatte nun seinen Kocher im Zelt und versorgte sich selbst.
Am Nachmittag setzte wieder starker Regen ein und der Wind hatte sich um 180 Grad gedreht. Aus Süden her wehten dunkle Wolken über den Fjord und entluden ihre Feuchtigkeit teils als Schnee.
Sonntag, 21. August
Während der Nacht nieselte es ununterbrochen. in periodischen Abständen hielt ich Ausschau nach dem Wetter, um bei einer allfälligen Aufhellung die anderen wecken zu können. Erst gegen morgen klarte es auf. Die See war ruhig, die langen Wellen geschmeidig wie Öl – ideales Bootswetter. Um 9 Uhr war dann offizielle Tagwache. Wir räumten zusammen und fuhren in nördlicher Richtung über den Bellsund. Die 30 Kilometer bis Kapp Martin wurden aber doch noch zu einer Wellenfahrt. Nach dem Kapp herrschte aber wieder fast glatte See, dafür wurde der Nebel immer dichter, sodass immer gerade noch die nächsten Klippen und Untiefen ausgemacht werden konnten. Auf halben Weg setzte wider Nieselregen ein, was die Fahrt nicht besonders attraktiv machte. Nach zirka acht Stunden ununterbrochener Fahrzeit landeten wir um 20 Uhr in Russekeila, der Ort, an dem wir bei der Hinfahrt bereits ankerten. Die Kanufahrer von Kvitfiskpynten hausten ebenfalls hier. So kamen wir doch noch zu dem von ihnen versprochenen Kaffee.
Montag, 22. August.
Seit langem weckte mich wieder einmal die Sonne. Fast bei windstille frühstückte ich vor dem Zelt. Kurze Zeit danach mischte sich Meister Blasius wieder ins Wettergeschehen ein. Nach dem Mittag nahm ich im Linnéeva ein Bad. Als ich wieder einmal richtig sauber und frisch angezogen war, wanderte ich zum Linnevatnet. Von dessen Ausfluss weg steuerte ich Punkt 187 an. Oben angelangt hatte ich eine schöne Aussicht auf das Eismeer und Prinz Carls Vorlandet. Auf dem Rückweg entlang der Hügelkette hatte ich nochmals Gelegenheit Rentiere zu fotografieren. Seit unserer Ankunft hatten sich die Tiere ihrer zottigen, gefleckten Fellhaare entledigt. Nun spannte sich eine glänzend silbergraue Decke über ihre runden Bäuche. Auf dem Weg zum Zelt trippelte ein halbwüchsiger Fuchs neben mir her.
Ein grandioser Sonnenuntergang beendigte den Tag, an dem ich in Gedanken oft zu Hause bei meiner lieben Ilse weilte, die heute Geburtstag feiern konnte. Hoffentlich hatte auch sie einen erlebnisreichen Tag.
Dienstag, 23. August
Etwa um 16 Uhr erwachte ich durch das heftige Zeltgeflatter. Dramatische Wolkengebilde kündeten einen Sturm an. Ich ging hinaus und beschwerte die hintere Zeltschnur mit einem schweren Stein. Weil ich den Reissverschluss nicht zuzog hatte der Wind eine derartige Angriffsfläche, dass eine der Verbindungsstangen zu Bruch ging. Ich räumte das Zelt ab und zügelte in die Trapperhütte, in der schon Oski, Georg und Ferdi hausten.
Während draussen der Sturm tobte, sass ich in der geheizten Hütte und schnitzte aus Treibholz ein weiteres Andenken. Am Abend vertrieben wir uns die Zeit zu viert mit einem Würfelspiel bei Kerzenlicht.
Mittwoch, 24. August
Der Sturm hatte sich ausgetobt, um 7 Uhr schien bereits die Sonne. Gegen Mittag machten sich Georg, Ferdi und ich auf den Weg zum Vardeborg und überschritten dessen Grat in seiner gesamten Länge von West nach Ost. Schon während des Aufstiegs auf den höchsten Punkt von 588 Metern genossen wir die Wärme und die Weitsicht. Ein wunderbares Geschenk, wurden wir doch den ganzen Monat über nicht verwöhnt mit Sonnenschein. Aufgeräumt stiegen Georg und ich ab, während Ferdi noch eine verlängerte Gipfelrast hielt.
Donnerstag, 25. August
Etwas wehmütig verliessen wir um halb ein Uhr das heimelige Trapperhäuschen in Russekeila, das uns für drei Tage und Nächte Unterschlupf bot. Blauer Himmel und ziemlich ruhiges Wasser begleiteten uns auf der fünfstündigen Fahrt bis zum Campingplatz beim Flughafen von Longyear. Wir hatten gerade angelegt, als auch schon der Vize-Sisselmann, Jvar Bredeli, mit dem Auto auf uns zusteuerte. Unsere Expedition wurde mit der Nummer 75 gekennzeichnet. Er überbrachte uns die in der Zwischenzeit eingetroffenen Briefe von unseren Angehörigen. Ich freute mich riesig an den vier Luftpostcouverts, die an mich adressiert waren und konnte es kaum erwarten, sie zu öffnen. Doch zuerst mussten die Boote ausgeladen werden. Danach setzte ich mich ins neu aufgestellte Zelt und verschlang Zeile um Zeile, die mein lieber Schatz zu Hause aufgesetzt hatte. Es tat gut zu wissen, dass daheim alles in Ordnung war und jemand auf mich wartete.
Leider hatte der Sisselmann nicht nur gute Nachrichten zu überbringen. In Ferdis Familie schlug hart das Schicksal zu. Ein Telegramm vom 22. August besagte, dass er nach dem Eintreffen in Longyear sofort mit seinen Angehörigen zu Hause Kontakt aufnehmen sollte. Am Telefon teilte ihm seine Schwester dann die tragische Nachricht vom plötzlichen Tod seiner Mutter mit. Ein sehr harter Schlag traf unseren Kamerad und ein Schatten legte sich auf die sonst erfolgreich verlaufene Expedition. Das einzige, was wir für Ferdi tun konnten, war Mithilfe an der Möglichkeit für einen vorzeitigen Abflug, was zum Glück auch gelang. Unsere Gedanken begleiteten ihn auf seiner schweren Reise und wir hofften, dass er Trost fand und das Unabänderliche annehmen konnte.
Freitag, 26. August
Für uns ging der Alltag hier weiter. Wir wechselten Geld, besorgten Souvenirs, besuchten das Cafe und wollten dem Svalbard Museum einen Besuch abstatten. Wir hatten bei Frau Petri die gefundenen Gegenstände (Marmor, Asbest und eine Schürftafel) abzugeben, was Georg erledigte. Als Oski und ich später im Museum bei der Leiterin eintrafen, gab es einen herzlichen Empfang. Nach der Öffnungszeit nahm sich Frau Petri Zeit, uns die vielen fragen zu beantworten. Für Samstagmittag wurden wir sogar bei ihr zu Hause eingeladen, was wir natürlich gerne annahmen.
Am Hafen interessierte sich ein Arbeiter für eines unserer Boote, entschied sich dann aber für ein günstigeres Angebot. Nach dem Genuss einer Pizza gingen wir zurück zum Zeltplatz, der eine gute Stunde Marschzeit vom Restaurant entfernt war.
Samstag, 27. August
Mit stechenden Zahnschmerzen lag ich im Schlafsack. Genau vor einem Monat passierte das Missgeschick im Van Keulenfjorden. Bis ich einen Zahnarzt aufsuchen konnte, musste ich mich noch ein paar Tage gedulden.
Im Laufe des Nachmittags begaben sich Oski, Georg und ich zu Frau Petri, die nur zehn Minuten hinter dem Campingplatz ein Häuschen von einer Freundin bewohnte. Mit Bier und Tee wurden wir bewirtet. Bei anregender Diskussion verging der Nachmittag im Flug. Über sämtliche Fragen erhielten wir Antworten und erfuhren überdies viel Wissenwertes über Spitzbergen, das in keinem Buch steht. Zum Abendessen wurde Frau Petri von zwei Freundinnen abgeholt, sonst wären wir wahrscheinlich noch lange am knisternden Feuer beim Plaudern gesessen. Danach verzog ich mich ins Zelt und widmete mich den Büchern, die ich im Museum gekauft hatte.
Sonntag, 28. August / Montag, 29. August
Nach fünf Stunden Schlaf stand ich auf, weil ich mir im Flughafengebäude ein Sonntagsfrühstück gönnen wollte. Die Tür war leider geschlossen. Da-her marschierte ich die eineinviertel Stunden nach Longyear ins Restaurant, das jedoch erst ab 15 Uhr öffnete. Ich schlenderte zurück zum Museum und stöberte in Frau Petris Reich in Büchern und Nachschlagwerken herum. Anschliessend genehmigte ich mir dann eine Pizza im Beizli. Später gesellte sich Oski dazu und so plauderten wir bis gegen Abend.
Frisch „aufgetankt“ verspürte ich Lust auf etwas Bewegung und verliess um 20 Uhr das Restaurant. Vorbei an den Siedlungen stieg ich den Masten entlang gegen Grube 6 und 7. dann zog es mich in die höheren Regionen. Über Punkt 372 zum Punkt 443 gelangte ich auf den Gruvefjellet auf 472 Meter über Meer. Leicht ansteigend über riesige Flächen näherte ich mich östlich vom Larsbreen dem Trollsteinen auf 837 Metern. Ein herrlicher Sonnenuntergang über den Jsfjord wurde mir beschert. Im Schnee versinkend stieg ich über den westlichen Verbindungsgrat weiter zum 878 Meter hohen Lars Hiertafjellet. Bei kaltem Nachtwind stapfte ich gegen ein Uhr durch Schneefelder und Moränenschutthalden gegen Grube 4, wo ich kurz danach die ersten Häuser von Longyear erreichte. Zufrieden wanderte ich die staubigen Strassen entlang und traf etwa um drei Uhr beim Zelt ein. Die Wärme der Daunen tat ausser meinem defekten Zahn dem ganzen Körper wohl.
Montag, 29. August
Erst gegen sechs Uhr übermannte mich der Schlaf. Bis dahin hielten mich die zuckenden Pulsschläge im rechten Oberkiefer wach. Heute war unser Packtag, also mussten wir um 9 Uhr aufstehen. Wir beluden die Boote und fuhren zum letzten Mal nach Longyear in den Hafen. Hier hiess es Material ausladen, Motoren und Boote reinigen, dann sämtliches Material in die drei Kisten verpacken. Genau um 16 Uhr war der letzte Nagel im Deckel versenkt. Nach einem kleinen Abschiedstrunk gingen wir zu Fuss zum Flughafen zurück.
Dienstag, 30. August
Damit im Flugzeug nicht sämtliche Passagiere meine „Duftstoffe“ einatmen mussten, durchbrach ich an einem kleinen Bach die Eiskruste, zog mich aus und wusch mich. Es war gerade nach Mitternacht, als ich mit klammen Fingern frische Wäsche anzog. Mit dem Handgepäck begab ich mich zur Abflughalle, wo sich auch der Rest der Gruppe zum Checken einfand. Um vier Uhr startete die DC-9 gegen Tromsø. Noch während die Maschine emporstieg, hüllte uns dichter Nebel ein. Svalbard zeigte sich nicht mehr. Was blieb, waren die Erinnerungen an die einmalige Landschaft, die Flora und Fauna.
Die gesteckten Ziele hatten wir alle erreicht. Unbeschadet kehrten wir in die Zivilisation zurück. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verliessen wir Svalbard, in der Hoffnung, diese wunderbare Pforte zum Nordpol ein anders Mal bewundern zu können.
Mit den Booten legten wir insgesamt 1050 Kilometer zurück, mit einem Zeitaufwand von 87 Stunden.
Weisse Nacht im Hohen Norden
Wie schlicht steht es im Lexikon: „Mitternachtssonne = die Erscheinung, dass die Sonne in den Polargebieten im Sommer auch um Mitternacht über dem Horizont bleibt“.
Zu nüchtern klingt das für den arktischen Sommer, für das Erlebnis Sonnenwende, den endlosen, immerwährenden Tag.
„Weisse Nacht“ im Hohen Norden, das ist die Zeit ohne Finsternis - flammendes Zwielicht, gedämpft durch schweigende Nebelschleier. Jede Nacht gibt neue Geheimnisse frei. Offenbart sich in einem anderen Anstrich, verschwenderisch in rot und gold, blau, lila oder grün.
Das Licht spielt in den Kulissen der Berge, der Gletscherflanken und der Fjorde. Namen wie Hornsund, Nathorstbreen, Russekeila, Kapp Linne und Bellsund erzählen von Stille und Abenteuer. Leuchtende Moosteppiche, die Sonne auf den wasserümspühlten Klippen, die verlassene Trapperhütte - ankommen und bleiben - einen Sommer lang.
Der Wind weht Bernstein-Gold auf das Eismeer, die Berge legen ihre Schat-ten auf die Wasserzeilen. In der sanften Strömung driftet ein Eisberg. Und diese eisige Festung leuchtet Blau, in einem unendlichen, durchsichtigen Märchenblau, dass alles Bedrohliche weicht und nichts bleibt, als ein dahin-schwindendes Segel.
Nein - dieses Licht kann nicht wehtun, auch in den hellsten Nächten ist ihm das Gleissende, das Schmerzende genommen durch kobaltblaue Dunstränder.
Man muss seinen eigenen Massstab suchen vor so viel Himmel, soviel Weite, soviel Theatralik in den Wolkenspielen. Denn hinter dieser Stille, hinter dieser menschenleeren Schönheit liegt die Wirklichkeit; und zwischen den Flügelschlägen der Ruhe spürt man das Gleichgewicht von Schwermut und Freude, von Nüchternheit und Mut für die kargen Lebensbedingungen, die dieses hocharktische Eiland prägen.
Und wenn wir abreisen nehmen wir ein Stückchen Unsterblichkeit mit, Erinnerung an das Licht der Mitternachtssonne, die leuchtend unseren Winter erhellen wird - in uns.

Codillera de los Andes Peru 9. Juli bis 10. August 1985 (mit Jürg Krieg)
Nur wenige Länder können eine derart unterschiedliche Fülle an Landschaften bieten wie Peru. Das abwechslungsreiche Spektrum reicht von den kahlen Bergrücken und weiten Geröllhalden der kühlen Küstenwüste über einsame Hochgebirgssteppen und kaum bezwingbaren eisgepanzerten Bergriesen bis zum endlosen Urwaldmeer Amazoniens.
Zu den Sehenswürdigkeiten altamerikanischer Indianerkulturen gesellt sich das reiche Erbe der Kolonialzeit. Da sind noch die faszinierenden Zeugnisse alter Handwerkskunst. Hier stehen die imposanten Reste ehemaliger Festungsanlagen und geheimnisumwitterte Ruinenstädte, die mit ihren ungelösten Rätseln heute noch die Phantasie der Gelehrten beschäftigen. Und nach wie vor sind da die in ihre Trachten gehüllten Indios, die wie in Urzeiten ihre hochgelegenen Felder bestellen, ihre traditionellen Märkte abhalten und ihre exotischen Feste feiern.
Doch inmitten dieser raren Hinterlassenschaft, zwischen all dieser mannigfachen Ursprünglichkeit, über die die ganze Welt staunt, herrscht Armut und Leid, sind Krankheit und Hunger ständige Begleiter, ist Kindersterben an der Tagesordnung...
Darüber hinweg täuschen weder die unbeschreibliche Farbenfülle, welche das Alltagsleben der Indios ausstrahlt, noch ein unbekümmerter Junge, der leichtfüssig durch eine Gasse läuft. Auch nicht die blankpolierten Limousinen vor den Nobelhotels.
Beklagenswert ist das Los vieler Kinder!
Unschuldig hineingeboren in ein System, in dem es vielfach am Lebenswichtigen mangelt, fristen manche ein beschwerliches Dasein: In Höhen bis zu 5000 Meter über dem Meeresspiegel, wo die Temperaturen nachts auch im Sommer unter den Gefrierpunkt sinken, hüten sie, oft auf sich allein gestellt, ihr Vieh. Mit einer Handvoll Puffmais als Wegzehrung, treiben sie ihre klägliche Herde über die karg bewachsenen Hänge. Häufig kränklich und schwach, kennen sie weder Schule noch Fürsorge, erhalten sie selten Hilfe von Organisationen, die sich um arme und vergessene Kinder am Rande der Welt kümmern. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade diese Kinder, trotz allem, mit ihrer Fröhlichkeit und ihrer Unbeschwertheit alles schwer zu Ertragende erleichtern.

Mit einem Linienflug ab Frankfurt über Madrid, Caracas, Bogota landeten wir um 11.30 Uhr in Lima. Am Flughafen erwartete uns Alberto Callupe, ein Peruanischer Bergsteiger aus Chiquian, den wir von der Schweiz aus für unser Unternehmen ver-pflichten konnten. Mit einem alten VW fuhr uns sein Freund Juan ins Hotel Castellana. Nach diversen Einkäufen besuchten wir das berühmte Goldmuseum. Ausgestellt waren eine überwältigende Fülle an Goldschmuck und Kultgegenständen der Kulturen von Chavin, Mochina, Chimu, Paracas und Tiahuanaco. Ein Waffenmuseum mit beeindruckender Vollständigkeit gehörte ebenfalls dazu. Nachher machten wir einen Abstecher ins Zentrum von Lima, bestaunten die Plaza de Armas mit dem Präsidenten- und Erzbischofpalast, das Kloster San Francisco mit den darunter liegenden Katakomben und bummelten durch die wichtigste Geschäftsstrasse der Altstadt, die Avenida Union.
In unserem Hotel waren fünfzehn Deutsche einquartiert, die nach Huaraz unterwegs waren. Wir mussten in die gleiche Richtung, und obwohl es in ihrem Bus noch genügend freie Plätze hatte, liessen sie uns nicht mitfahren. Daher legten wir nach dem Frühstück die ersten 180 Kilometer mit einem Taxi entlang der nebligen Küstenwüste auf der Panamericana Norte durch weite Baumwoll- und Zuckerrohrfelder zurück. Vorbei an den Ortschaften Ancon, Huacho, Huaura, wo uns Strassenhändler einen selbst gebrannten Likör aus Sauerkirschen anboten, der Guinda genannt wird. Schliesslich erreichten wir den lang gestreckten, nüchternen Ort Barranca. Hier wechselten wir in einen Bus, der sich zum 4020 Meter hoch gelegenen Passo Conococha hochschraubte. Bis nach Huaraz waren es noch etwa 80 Kilometer. Wir verliessen hier die geteerte Hauptstrasse und fuhren auf einer Lastwagenbrücke zur Lagune hinab und überquerten auf dem staubigen, schlaglochreichen Naturweg eine Hochebene. Nach insgesamt acht Stunden Fahrzeit erreichten wir um 19 Uhr in stockdunkler Nacht unser heutiges Reiseziel. Das 3000 Seelen zählende Dorf Chiquian auf 3400 Meter über Meer.
Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts war hier die Hauptsprache noch Quechua in einer stark variierenden Form des Ancashino-Quechua. Jetzt dominiert Spanisch, und Quechua wird fast nur noch von den Älteren gesprochen, was sich auch durch den Zuzug von weissen Küstenbewohnern erklärt, die nur spanisch sprechen. Genutzt wird Chiquian aber eigentlich nur als Ausgangsort für Trekkingtouren in und um den nördlich gelegenen Huayhuash. Mit nur etwa 30 Kilometer Ausdehnung ist die Cordillera Huayhuash eine kleine Berggruppe. Höchster Gipfel ist der Yerupaia mit 6634 Metern Höhe. Alle Berge sind bekannt für ihre schwierigen Eiswände und die zerrissenen Gletscher, dazu kommen eine grosse Anzahl sauberer türkisfarbener Seen. Um diese Berggruppe herum führt eine etwa 170 Kilometer lange Trekkingroute mit mehreren Schwierigkeitsgraden. In südlicher Richtung sieht man den Tucu, dessen Schneebedeckung stark schwankt.

Trecking um die Cordillera Huayhuash 14. Juli bis 27. Juli 1985
1. Etappe (von Chiquian über Llamac nach Pocpa)
Als Alberto und der Eseltreiber Benedicto die Esel bepackt hatten, verliessen wir den gastfreundlichen Ort und kehrten der Zivilisation für die nächsten zwölf Tage den Rücken. Im Verlauf der ersten zehn Kilometer fällt der Saumpfad zum Rio Quero auf etwa 2750 Meter ab, leitet dann wieder aufwärts nach Llamac auf 3250 Meter. Anfänglich der Blick auf die schneeweisse Cordillera Huayhuash, dann die Tiefblicke in die steilen, dunklen Gebirgsschluchten, erste blühende Blumen, stachelige Agaven sowie herrliche Säulen- und Gliederkakteen liessen uns darüber nachdenken, ob wir genügend Fotomaterial mitgenommen hatten.
Durch das fruchtbare, breite Tal dem Rio Llamac entlang erreichten wir bei einbrechender Nacht das Dörfchen Pocpa auf 3450 Meter, dem Heimatort von Sonja. Nach gekochten Süsskartoffeln und Käse, von Albertos Schwiegereltern angeboten, verzogen wir uns bald einmal ins Zelt, das wir im Hühnerhof aufgeschlagen hatten.
2. Etappe (von Pocpa nach Quartelaing)
Nach ein paar Wortwechseln mit den Einheimischen und den am Wegrand auf Süssigkeiten wartenden Kindern, wenden wir uns dem nächsten Teilstück zu. Ab jetzt werden wir bis zum sechsten Treckingtag nach Huayllapa kein Dorf mehr zu Gesicht bekommen. Vorerst schlängelte sich der Saumweg eben durch die gewaltige Schlucht, danach ansteigend dem quellfrischen Fluss entlang. Dann weitete sich das Hochland aus und gab den Blick auf die ersten Eisriesen frei. Zu den braunen mit Punagras bewachsenen Hochebenen und den darauf weidenden Pferden und Kühen, boten der 5807 Meter hohe Ninashanca und der 5879 Meter hohe Rondoy mit den zerfransten Schneegraten geradezu ideale Fotomotive. Vorbei an selbstversorgenden Indiosippen erreichten wir unser zweites Nachtlager in Quartelaing, genau 4000 Meter über dem Meeresspiegel gelegen.
3. Etappe (von Quartelaing über Cacanampunta, 4700 m, nach Mitacocha)
In der heutigen Etappe hatten wir den 700 Meter hohen Aufstieg zum Passo Cacanampunta zu bewältigen. Zur Belohnung standen blühende Lupinen, Arnika und Zeitlosenarten am steinigen Wegrand. Oben angekommen, liess uns die grandiose Aussicht über die endlos scheinenden Hochtäler die vorgängige Aufstiegsmühe schnell vergessen. Bis zum nächsten Camp vor der Laguna Mitacocha in 4300 Meter Höhe fehlten uns noch etwa zwei Stunden. Nach dem gut begehbaren Abstieg tauchte hinter dem Bergrücken ein Felskoloss nach dem Anderen auf, bis schliesslich das gesamte Panorama freistand. In diesem Naturtheater thront Perus zweithöchster Berg, der Yerupaja. Eine Bastion aus Fels und Eis, mit einer schwindelnden Höhe von 6634 Meter, türmt sich hier über der mit Lachsforellen belebten Lagune auf. In staunender Betrachtung wanderten wir noch eine halbe Stunde zu unserem Nächti-gungsplatz, wo wir sogleich die Zelte aufschlugen und mit dem Zubereiten des Abendessens anfingen.
4. Etappe (von Mitacocha über Pass Carhuac, 4650 m nach Carhuacocha, 4240 m)
Am heutigen Tag auf dem Weg zur Laguna Carhuacocha konnten wir uns Zeit las-sen. Gemächlich schlenderten wir in einer breiten Talmulde die 350 Meter nach Punta Carhuac aufwärts und genossen in einer Höhe von 4650 Metern während der Mittagsrast die Ruhe und Abgeschiedenheit in natürlicher Umgebung. Als Alberto von seinem Mittagschläfchen erwachte, setzten wir unseren Marsch fort, damit wir am Spätnachmittag das gesetzte Tagesziel auf 4240 Meter erreichten. Waschtag stand heute auf dem Programm. Nachdem die Wäsche an den Zeltschnüren im leichten Wind fächelte, lud uns das östliche Seeufer zu prachtvollen Abendstimmungsbildern ein.
5. Etappe (von Carhuacocha nach Siulacocha, 4320 m, über Pass Carnicero, 4850 m, zum Lager Huayhuash, 4350 m / Burros über Pass Atocshaico 4500 m)
Klare Nächte bedeuteten in dieser Höhe fast immer Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, die meistens bis etwa um acht Uhr anhielten. Eine beachtliche Raureifschicht zwang uns deshalb, das Morgenessen in eine warme Jacke eingehüllt einzunehmen. Heute standen uns zwei Varianten zur Verfügung. Benedicto schlug mit den Eseln den einfacheren und kürzeren Weg über den 4500 Meter hohen Passo Atocshaico nach Huayhuash ein. Wir drei wählten die anspruchsvollere aber landschaftlich lohnenswertere Route. Frisch gestärkt verliessen wir unser Lager vor beeindruckender Kulisse. Am Nordufer der Laguna Carhuacocha entlang erreichten wir eine grossflächige Ebene, auf der eine Pferdeherde weidete. Auf der entgegengesetzten Seite der Yerupaja Ostwand stiegen wir über die Moräne zur tiefblauen Laguna Siula und weiter zur milchiggrünen Gletscherlagune Quesillacocha. Die farblichen Gegensätze, die auf der Naturpalette gemischt wurden, zwangen uns förmlich, den gleichmässigen Aufstieg zu unterbrechen. Als wir unsere Kamera „gefüllt“ hatten, nahmen wir den letzten Geröllhang zum 4850 Meter hohen Passo Carnicero unter die Füsse. Im Abstieg konnten wir zwischen Blockgestein die flinken Chinchillas beobachten. Die vielen Eindrücke des zu Neige gehenden Tages wiegten uns nach einem dampfenden Nachtessen in den wohlverdienten Schlaf.
6. Etappe (von Huayhuash über Pass Portachuelo de Huayhuash, 4650 m, nach Laguna Viconga 4600 m)
Leicht ansteigend zog sich eine Art Karrenweg nach Portachuelo de Huayhuash hinauf. Vom höchsten Punkt aus, auf 4750 Metern, blickten wir in südöstlicher Richtung über schneebedeckte Gipfel der Cordillera Raura hinweg. Auf dem Weiterweg zur 250 Meter tiefer gelegenen Laguna Viconga wurde uns wieder einmal die scheinbar unendliche Weite des Peruanischen Hochlandes bewusst. Für eine Stunde Aufstieg musste noch einmal Energie mobilisiert werden, dann war am heutigen Tagesziel im Camp Viconga wieder Zeit für Musse vorhanden. Bereits lag die halbe Strecke unserer Cordilleren-Umwanderung hinter uns.
7. Etappe (von Campo Viconga über Pass Cuioc, 5000 m, nach Campo Base de Puscanturpa, 4650 m)
Nach einem 400-metrigen Aufstieg waren wir auf dem Pass Cuioc exakt auf 5000 Meter über Meer. Zum Vergleich stellten wir uns den höchsten Berg der Alpen, den Mt. Blanc mit seinen 4807 Metern vor. Während man auf seinem eisigen Gipfel in schweren Bergschuhen, Daunenjacke, Mütze und dicken Handschuhen und ausgerüstet mit hochalpiner technischer Gerätschaft steht, sitzen wir hier, noch 200 Meter höher, in leichter Bekleidung und Wanderschuhen auf schneefreiem Erosionsgestein, geniessen die herrliche Rundsicht und lassen uns von der starken Einstrahlung der Aequatorialsonne verwöhnen.
Besteigung des Puscanturpa Sur oder Punta Cuioc, wie der 5442 Meter hohe Gipfel auch genannt wird. Um 5 Uhr ab Camp, um 13 Uhr, 15 Meter unter dem Gipfel wegen riesiger, pilzartiger Wechte umgedreht. 16 Uhr im Camp.
8. Etappe (von Campo Base de Puscanturpa nach Huayllapa, 3600 m, und Aufstieg nach Camp 4000 m)
Bis nach Huayllapa, dem ersten bewohnten Dorf seit unserem Abmarsch in Pocpa, fällt das Gelände bis auf 3600 Meter stetig ab. Über die Hochebene Guanacpatay, die von Schafherden genutzt wird, gelangten wir neben einem tosenden Wasserfall in die tiefe Gebirgsschlucht des Rios Huayllapa. Blühende Kakteen und glockenblumenartige Schönheiten bereicherten diese Etappe. Ein kurzer Aufstieg gab uns Gelegenheit, die zurückgelegte Strecke zu verfolgen. Nach ein paar Lebensmitteleinkäufen im Indio-Dorf ging es noch einmal 400 Meter aufwärts, bis der sich bemerkbar machende Bärenhunger im aufgeschlagenen Camp gestillt werden konnte.
9. Etappe (von Camp 4000 m über Pass Tapush, 4800 m, nach Gashpapampa, 4560 m)
Während Benedicto die hoch oben grasenden Esel zusammentrieb, brachen wir das Lager ab. Sobald den Tieren die Lasten aufgebunden waren zogen wir los. In gemächlichem Tempo strebten wir dem 4800 Meter hohen Punta Tapush zu. Unsere Akklimatisation war mittlerweile so gut, dass wir gar nicht mehr daran dachten, uns mehr als 4000 Meter höher zu bewegen, als in unserem gewohnten Leben zu Hause. Die herrlichen Landschaftsbilder, die bizarren Eisgebilde des nahen Berges Diablo Mudo (Stummer Teufel) sowie die farbig beladene Eselkarawane brachten unsere Fotoapparate mehrmals zum Klicken. Mitten auf der Kuh- und Schafweide in Gashpapampa (4560 Meter) stellten wir die Zelte auf und genossen das herrliche Nichts-tun.
10. Etappe
Überschreitung des Diablo Mudo (5340 Meter) von West nach Nord. Um 5.30 Uhr ab Gashpapampa in wunderbarem Büssereis um 10.15 Uhr auf dem Gipfel. Nach Abstieg um 14 Uhr in Jahuacocha, 4050 m.
Die Gegend um die reizende Laguna Jahuacocha auf 4050 Metern, kann als Perle der gesamten Umrundung bezeichnet werden. Der Schilfgürtel am Ufer der Lagune, die weidenden Schaf- und Pferdeherden, der direkte Einblick in die senkrechten Wände von Rondoy, Jirishanca, Yerupaja und Tsacra, der lange, verwechtete Grat des Rasac und die Weitsicht über die Hochebene, welche vom mäandrierenden Rio Achin durchflossen wird sowie die rundum intakte Natur, werden uns am nächsten Morgen Mühe bereiten, diesen grandiosen Ort zu verlassen.
11. Etappe (von Jahuacocha über Pass Pampa Llamac, 4300 m, nach Llamac, 3250)
Hinter der Eselkolonne überquerten wir die breite Flusslandschaft des Rio Achin. Durch relativ dichten Baumbestand, der in dieser Gegend sehr selten ist, ging es aufwärts zum Pampa Llamac, dem letzten Passübergang, den wir auf unserer Umrundung zu bewältigen hatten. Bevor wir zum höchsten Punkt auf 4300 Meter gelangten, zwang uns Perus „Nationalpflanze“, die Cantuta, ein zwei bis drei Meter hoher Strauch mit langen, glockenförmigen Blüten aus der Familie der Sperrkrautgewächse, der in 1200 bis 3800 Metern Höhe wächst, zu Verschnaufpausen, damit wir sie fotografisch festhalten konnten. Ein ziemlich steiler und staubiger, aber gut begehbarer Weg zog sich in Serpentinen hinunter nach Llamac, das uns vom Anmarsch her noch in bester Erinnerung war. Zum letzten Mal wurde der Kocher in Betrieb genommen, damit wir auch an diesem Abend etwas zu beissen hatten.
12. Etappe (von Llamac Abstieg zum Rio Quero und Aufstieg nach Chiquian)
Zeitig machten wir uns auf den „Heimweg“ nach Chiquian. Fast endlos erschien uns jetzt der Saumpfad vom tiefsten Punkt am Rio Quero an bergauf. Brachte uns der Abstieg am ersten Treckingtag Erleichterung, wurde er von Jürg in dieser umgekehrten Richtung als perfider Akt bezeichnet, doch mit der erworbenen Kondition wurde der Ausgangsort problemlos gemeistert. Die anschliessende „Dusche“ am nahe gelegenen Bach weckte zudem die Lebensgeister wieder auf.
Nach fast zweiwöchiger Abgeschiedenheit waren wir froh, dass wir nicht gleich in die Zivilisation hineinplatzen mussten. Die Erlebnisse vom „einfachen Leben“ der vergangenen Tage waren derart intensiv, dass eine übergangslose Konfrontation mit dem hektischen Treiben urbaner Orte unseren Verhaltensapparat bestimmt durcheinander gebracht hätte.
In den Gassen gab es viel zu erzählen, bis die Neugier der äusserst friedfertigen Einheimischen gestillt war. Auf dem Hauptplatz mischten wir uns unter die unbeschreibliche Farbenfülle eines Indiomarktes. Hier wurde noch gefeilscht. Handgewobene Teppiche mit Kultzeichen aus der Inkazeit, Jacken, Pullover, Ponchos und Mützen aus Alpakawolle, geschnitzte Kalebassen sowie zahlreiche Souvenirs aller Art standen hier auf Tischen und Kisten zur Auswahl bereit. Interessante Begegnungen mit dem für uns fremden Volk und seiner jahrhundertealten Kultur, gestikulierende Händler und Preisverhandlungen, bei denen meistens der Käufer das letzte Wort hatte, die unkomplizierte Art der Ansässigen und vieles mehr, werden uns sicher noch lange in Erinnerung bleiben.

Auf zum Huascaran, 6768m
Von Chiquian über Mancos nach Musho, 300 m. (30. Juli 1985)
Basislager auf 4200 m (31. Juli)
Campo I, 5200 m; Moränenlager, 4750 m; Gletscherfuss, 5000 m (1. August)
Campo II, 5850 m (2. August)
Campo Garganta 5960 m (3. August)
Gipfel, 6768 m (4. August)
Abstieg Garganta-Musho (5. August)
Rückreise nach Huaraz (6. August)
Rückreise nach Lima (7. August)

Für uns ging eine unbeschwerte und erlebnisreiche Zeit zu Ende. Kurz vor Mittag mussten wir uns zum Check-Inn auf dem Flughafen Jorge Chavez einfinden. Mit einem letzten Blick auf die immer kleiner werdende Stadt an der Küste nahmen wir Abschied von einem wunderbaren Land und seiner durchschnittlich armen aber zufriedenen Bevölkerung.

Stürmische Tage am Mt. McKinley (19. Mai bis 16. Juni 1982)
Tagebuchbericht von der Besteigung des kältesten Berges der Welt
Teilnehmer: Michael Boos, Ruedi Sütterlin, Jürg Krieg, Kurt Haberstich

Der Traum
Jeder Mensch, der sich intensiv mit einer Materie beschäftigt und sich mit den daraus folgenden Einzelheiten auseinandersetzt, verfolgt ein Ziel. So ergeht es auch manchem Bergsteiger, der seine Freizeit dazu benützt, sich vollends mit seinem Hobby identifizieren zu können.
Je länger ich in bekannten Gebieten herumkletterte und dadurch die heimatlichen Berge besser kennen lernte, desto stärker wuchs in mir der Drang zum fernen Unbekannten.
In schlaflosen Biwaknächten oder in nachdenklichen Stunden, sah ich mich oft im Himalaja und im Pamir, dann wieder fuhr ich über stiebende Neuschneehänge in Kanada, kletterte durch unbekanntes Gebirge in Peru oder im Hohen Atlas. Die Vorstellung auf einem fernen Gipfel zu stehen wurde immer deutlicher. In meiner Gedankenwerkstatt fing ich an Pläne zu schmieden. Durch Literatur und Informationen über Expeditionen wurde das Feuer jeweils frisch gescheuert. Ich versuchte mich auf ein Gebiet, respektive auf einen Berg zu konzentrieren, doch das Angebot ist gross und die Möglichkeiten in die entlegendsten Winkel zu gelangen fast unbegrenzt.
So blieb vorerst alles nur ein Traum.

Welcher Berg
Um in einer derart reichhaltigen Auswahl den richtigen Berg zu treffen, bedarf es einer gewissenhaften Analyse. Diese geschah nach technischen, physischen und psychischen, finanziellen sowie privaten Eigenschaften. Die Prioritäten setzte ich anhand der damaligen Lage fest. Sämtliche Aspekte stufte ich nach bestem Wissen und Gewissen in Klassen ein. Das Resultat der erreichten Werte verglich ich mit den Erfordernissen, die verschiedene Bergbesteigungen verlangen und erhielt dadurch einige Touren vorgeschlagen.
Ich entschied mich für die Besteigung des 6194 Meter hohen Mt. McKinley in Alaska, höchster Berg von Nordamerika und kältester Berg der Erde. Er wurde nach dem 25. US-Präsidenten William McKinley benannt. Ein alternativ verwendeter Name des Berges ist Denali, ein Wort aus dem Athapaskischen, das der Große oder der Hohe bedeutet. Während sich der Name Denali in den USA inzwischen im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, wird im deutschsprachigen Raum meist die alte Bezeichnung benutzt. Der Mount McKinley bildet den höchsten Gipfel der Alaskakette und liegt im nach ihm benannten Denali-Nationalpark.
Die Erstbesteigung des Mount McKinley gelang dem amerikanisch-britischen Forscher Hudson Stuck und drei Begleitern am 7. Juni 1913, nicht bereits 1906 dem US-Amerikaner Frederick Cook, wie dieser behauptet hatte. Der erste dokumentierte Versuch einer Besteigung erfolgte im Jahr 1903 durch James Wickersham über die Nordwand (inzwischen nach ihm Wickersham Wall benannt). Diese Route gilt als extrem gefährlich und wurde erst 1963 erfolgreich durchstiegen. Ein langjähriger Erforscher dieses Berges war Bradford Washburn, der 1960 eine Karte im Maßstab 1:50.000 erstellt hat.

Wer kommt mit
Durch ein kleines Inserat im Novemberheft 81 „Die Alpen“, suchte Michael Boos aus St. Gallen, Teilnehmer für eine Mt. McKinley-Besteigung mit Skis. Sofort schrieb ich an den Inserenten und erhielt kurz darauf Antwort mit den informativen Unterlagen.
Hier ein Ausschnitt aus dem Programm von Michael Boos. Er ist Bergführer und kennt drei Routen dieses faszinierenden Berges von Besteigungen im Frühsommer 1981 her:
Die Besteigung des 6194 Meter hohen Mt. McKinley, eine der eindrucksvollsten aber auch härtesten Skitouren, ist in jeder Hinsicht anspruchsvoll. Die grosse Höhe von fast 6200 Meter über Meer, wovon 4120 Höhenmeter aus eigener Kraft im Auf- und im Abstieg zurückgelegt werden müssen, die enorm niederen Temperaturen von bis Minus 50 Grad Celsius, oft verbunden mit starkem Wind oder Sturm, und das Tragen von schweren Rucksäcken erfordern eine sehr gute Gesundheit, eine gute Kondition, die sichere Beherrschung der Alpintechnik und eine einwandfreie und optimale Ausrüstung, damit der Gipfel und danach die Heimat sicher und mit einem Höchstmass an Erlebnis und Genuss erreicht werden. Es gibt viele verschiedene anspruchsvolle Routen zum Gipfel. Die klassische Besteigung erfolgt über den West Buttress im Auf- und Abstieg. Etwas länger und wesentlich härter ist die Überschreitung: Hier nimmt man nach dem Gipfel zuerst den Harpers Clacier, später den Muldrow Gletscher unter die Füsse und erreicht über den McGonagall Pass den Mt. McKinley Nationalpark.
Anforderungen an die Teilnehmer:
Bergsteigen bedeutet grösste Freude und Genuss, wenn es nicht am Rande der Erschöpfung sondern gut trainiert betrieben wird. Wir werden auf keinem einzigen Streckenabschnitt „rasen“, aber die dünne Luft (dünner als auf gleicher Höhe in Äquatornähe) und unsere schweren Lasten bilden einen genügenden Widerstand, mit dem es fertig zu werden gilt. Eine Gruppe ist so stark wie ihr schwächstes Mitglied. Damit die Gruppe stark ist, werden folgende Anforderungen gestellt:

Nach eingehender Prüfung dieses Schreibens meldete ich mich Mitte Januar 1982 definitiv für die Überschreitung an. Wer meine weiteren Kameraden sein würden, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Anfangs März wurde mir von Michi mitgeteilt, dass wir insgesamt zu viert sein werden. Das wären ausser ihm und mir noch Ruedy Sütterlin aus Allschwil und Jürg Krieg aus Basel.
Über Ostern wurde eine erste Trainingstour abgemacht, sozusagen ein Beschnuppern. Während dieser wenigen Tage lernten wir uns gegenseitig kennen und schätzen und ich war begeistert, bei diesem Quartett mitmischen zu können.

Körpertraining

Schon ein Jahr vor der Abreise nach Alaska, zurzeit, als mein Interesse für eine grosse Bergbesteigung anwuchs, begann ich mit einem regelmässigen Training. Gezielt konnte ich es nicht betreiben, weil ich mich damals noch für kein Unternehmen entschieden hatte. Mit Radfahren, Waldläufen, Schwimmen und Kraftübungen versuchte ich vorerst eine gute Grundkondition zu erhalten. Hinzu kamen noch die laufenden Wochenenden, die ich sowieso mit Bergsteigen verbrachte. Auch Holzhacken, Gartenarbeiten und was sonst noch zwischendurch an Kleinarbeit anfiel, erledigte ich jeweils zu Trainingszwecken. So trug ich zum Beispiel innerhalb von fünf Tagen eine Tonne Holz mit einem „Räf“ auf eine Alphütte hinauf. Die Marschzeit betrug jedes Mal eine gute halbe Stunde und die Ladung je nach Holzart bis zu 90 Kilo.

Als ich mich für „meinen Berg“ entschieden hatte, hielt ich mich an einen speziell für diese Besteigung aufgebauten Trainingsplan. Hauptgewicht legte ich auf das Durchstehvermögen während den dreimal wöchentlichen Waldläufen von mindesten fünfzehn Kilometern Länge. Steigungen, die ich bisher immer etwas mied, wurden nun voll ins Laufpensum aufgenommen. Die Strecken der Radtouren betrugen ab jetzt immer über 50 Kilometer. Kraft- und Isometrische Übungen setzte ich täglich auf eine halbe Stunde an. Wechselbäder und kalte Duschen sollten die Durchblutung fördern. Mit Hilfe von Yoga erlernte ich eine Atmungstechnik, bei deren Anwendung der Körper beim Ausatmen nur wenig Feuchtigkeit abgibt, sodass die gespeicherte Flüssigkeit, die unter Belastung auftretende Körperaustrocknung vermindert. In den letzten drei Monaten vor der Abreise unternahm ich viele Tagesskitouren mit Aufstiegen von jeweils 2000 Höhenmetern. Steilhänge ging ich nicht mehr wie gewohnt in Serpentinen an, sondern bewältigte diese Passagen nach Möglichkeit in der Falllinie, immer darauf achtend, dass der Rucksack nicht zu leicht war. Um eine optimale Höhenadaption zu erhalten, bestieg ich eine Woche vor dem Abflug noch den Mt. Blanc mit den Ski.
Die gesamte Körperertüchtigung betrieb ich bei jeder Witterung und auch bei Unpässlichkeiten. Mit diesem Aufwand konnte ich gegen Trainingsende mit Skis und einem mittelschweren Rucksack gegen 900 Höhenmeter pro Stunde bewältigen.
Ob all dies ausreichen würde, sollte sich ja bald herausstellen.

Vorbereitungsarbeiten

Da Michi Boos Organisator des Unternehmens war, musste jeder von uns Dreien nur noch für seine persönliche Ausrüstung besorgt sein. „Nur noch“ bedeutete natürlich keineswegs, diese Vorbereitungen nicht gewissenhaft durchzuführen. Gerade unwesentlich scheinende Einzelheiten tragen oft viel zu einem Gelingen oder Nichtgelingen am Berg bei. Daher mussten auch die einfachsten Dinge mit grösster Sorgfalt behandelt werden. Sämtliches Material muss problemlos, meistens mit Handschuhen zu bedienen sein. Alles was zu Hause nicht richtig funktioniert, ist während der Besteigung unbrauchbar. So können zum Beispiel schlecht gängige Reisverschlüsse an Sturmjacken, Schlafsäcken oder am Zelt zu regelrechten Peinigern werden. Daher musste auch viel Neugekauftes durch Änderungen optimiert werden, bis es den persönlichen Bedürfnissen und technischen Erfordernissen entsprach. Diese Ergänzungsarbeiten trugen auch viel dazu bei, uns mit dem Material vertraut zu machen.
Holzskis, die wir nach der Überschreitung am McGonagall Pass aus Gewichts- und Umweltschutzgründen verbrennen würden, besorgten wir uns aus Brockenstuben. Sorgsam wurde der alte, spröde Kunstharzbelag von den Latten gekratzt, bis natürliches helles Eschenholz zum Vorschein kam. Den Skiern massen wir allgemein viel Bedeutung bei, weil sie für die geplante Überschreitung wichtige Ausrüstungsgeräte darstellten.
Nicht zu vergessen war ein ärztliches Gutachten über den gesundheitlichen Allgemeinzustand, sowie ein zahnärztliches Attest. Keimende Erreger gelangen unter körperlichen Strapazen viel häufiger zum Ausbruch als bei geringen Anstrengungen.

Mittwoch, 19. Mai
Abschied von zu Hause

Ilse begleitete mich zum Flughafen. Damit wir nicht mit dem ganzen Gepäck per Bahn nach Kloten mussten, holte uns mein Bruder Hans um 6.30 Uhr mit dem Auto von zu Hause ab. Nach einer Stunde standen wir schon in der Abflughalle und warteten auf meine drei Berggefährten. Nach einer herzhaften Begrüssung begaben wir uns, jeder mit seiner ganzen Bagage zum Check-Inn. Dann hiess es Abschied nehmen.
Dieser für uns lang ersehnte Moment war für unsere Angehörigen eine eher betrübliche Angelegenheit. Aus verständlichen Gründen, denn niemand konnte versichern, ob wir dieses Unternehmen schadlos überstehen würden.
Um 9 Uhr hob die Boeing 727 von der Piste ab und flog durch Nebel und Regen Richtung England davon. In London hatten wir einen dreistündigen Aufenthalt, bevor wir gegen 13.30 Uhr Ortszeit einen Jumbo Jet der British Airways bestiegen.
Die Fortsetzung der Reise führte uns vorerst über Manchester, Glasgow, Stornoway, dann überquerten wir nördlich von Island den Atlantik und bewunderten anschliessend zwischen Wolkenfeldern die faszinierende Eiswüste Nordgrönlands. Für diese Welt aus Eis und Schnee zu überfliegen, benötigte der Jumbo drei volle Stunden und das bei zirka 900 Km/h.
Tief unter uns entdeckten wir Eureka, anschliessend Mould Bay und einige Zeit darauf über der Beaufort Sea erstes Festland von Alaska. Als wir auf der Höhe von Fairbanks am Tanana River waren, ragte für einen Moment der Gipfelaufbau des Mt. McKinley hoch über dem regenverhangenen Tiefland Nordamerikas empor. Alsbald wurden Fahrgestell und Landeklappen ausgefahren, damit der Stahlvogel nach neun Stunden in Anchorage zur Landung ansetzen konnte.
Als wir nach Pass- und Gepäckkontrolle am Förderband unser Hab und Gut in Empfang nahmen, fehlten alle vier Eispickel. Nach langem hin und her wurde uns klar gemacht, dass es heute zwecklos sei, unser Eiswerkzeug zu suchen. Morgen wäre auch noch ein Tag. Wir mussten es einsehen, denn vom Schweizer Perfektionismus trennten uns mittlerweile ein paar Tausend Kilometer.
Auch das Auto, das Michi von zu Hause aus gemietet hatte, war nirgends auffindbar. Doch auch dieses Problem konnte mit der nötigen Ruhe gelöst werden. Mittlerweile war es 12 Uhr geworden und immer noch der 19. Mai. Unsere Uhren mussten wir gegenüber MEZ elf Stunden zurückstellen. Daher wollte es auch nicht Abend werden, trotz unserer zunehmenden Müdigkeit. Nach etlichen Einkäufen konnten wir uns im Hotel Voyager endlich in die Federn hauen. Mittlerweile waren wir seit 28 Stunden auf den Beinen.

Donnerstag, 20. Mai
Fahrt nach Talkeetna

Nach einem echten amerikanischen Frühstück komplettierten wir unsere Bergausrüstung bei Rey Sport und bei AMH. Paul Denkewalter, selbst ein aktiver Bergsteiger, macht hier in Anchorage mit seinem barackenartigen Bergsportladen AMH den Discount Sportgeschäften reichlich Konkurrenz. In seinem gemütlich eingerichteten „Schopf“ findet man sämtliche Ausrüstungsgegenstände für eine Kinley-Besteigung. Dazu erhält man nützliche Hinweise ohne Kassabon.
Während Michi den Rest der Verpflegung einkaufte, schlenderten wir drei durch die Strassen von Anchorage (englisch für Ankerplatz), der 173'000 Einwohner zählenden Stadt an der Bucht des Cook Inlet.
Auf dem Rückweg konnte Michi im Flughafen unsere vermissten Eispickel abholen. Es hatte sich herausgestellt, dass sie nach der gestrigen Landung nicht ausgeladen wurden und daher mit der weiterfliegenden Maschine nach Tokio gelangten. Der nächste Jet brachte sie dann wieder zurück.
Ronny Hale, die Frau eines Alasker Bergführers aus Talkeetna, war zum Einkaufen mit einem Kombiwagen nach Anchorage gefahren. Paul arrangierte für uns, dass wir gegen Abend samt Gepäck mit ihr zurückfahren konnten.
Bei leichter Dämmerung fuhren wir los. Unterwegs hielt Ronny bei einem Shopping Center an. Während sie einkaufte, nutzten wir die Gelegenheit, um im Restaurant nebenan etwas zu essen. Auf gut ausgebauten Strassen, die oft mitten durch riesige Birkenwälder angelegt sind, fuhren wir danach unserem eigentlichen Ausgangspunkt, dem kleinen Ort Talkeetna entgegen. Ein verschlafener Umschlagplatz für Fellhändler, Trapper und Goldsucher aus der Pionierzeit des südlichen Alaska. Heute zählt man hier 265 Einwohner, von denen dem einen Drittel die indianische oder eskimotische Abstammung deutlich vom Gesicht zu lesen ist.
Ein renoviertes Dorfmuseum, ein Taxibetrieb, drei Flugdienste und drei Gasthäuser, fast alles für den Tourismus eingerichtet, bilden die wichtigsten Einnahmequellen dieser friedfertigen und äusserst gastfreundlichen Leute. Jeder Einheimische hat auf seine Art sein Einkommen, sei es durch den Verkauf von Lederwaren, Eskimo Schnitzereien oder andere handwerklicher Gegenstände.
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht man das von Anchorage aus 150 Kilometer entfernte Talkeetna mit dem Alaska Motocoaches Autobus, per Eisenbahn mit der Alaska Railroad, die ihr Schienennetz bis nach Fairbanks hin ausstreckt. Zudem stehen zahlreiche Sportflugzeuge zur Verfügung.
Bei Werner Ruchenstein im Hotel Swiss Alaska Inn quartierten wir uns ein. Nach einer kalten Dusche und einem erfrischenden Getränk, verzogen wir uns nach Mitternacht in die Betten.

Freitag, 21. Mai
Flug zum Basislager

Nach etwa vier Stunden Schlaf, es war gerade 5 Uhr, weckte uns Werner zum Morgenessen. Noch etwas schlaftrunken sassen wir kurze Zeit darauf am Tisch. Der Duft von frischem Kaffee, gebratenem Schinken, Speck und Eiern, dazu Toastbrot und Rösti, weckte unsere Lebensgeister schnell auf.
Um sechs Uhr erschien Jim Okonek. Diesem erfahrenen Hubschrauber- und Gletscherpiloten gehört die K2 Aviation, bei der wir unseren Flug zum Basislager gebucht hatten. Ausser der Reisebekleidung, die zum Camp im Nationalpark auf der Nordseite des Kinleys geschickt werden musste, damit wir nach der Überschreitung frische Sachen zum Anziehen haben, wurde alles Gepäck auf Jim’s Ford geladen. Danach fuhren wir zu seinem Blockhaus und warteten auf Flugwetter.
Die Nachrichten, die laufend von der Station im Basislager aus gefunkt wurden, kamen alle aus Frauenmund und zwar von der so genannten Bergsteigermutter Frances Randall. Früher als Computer Spezialistin in einem renommierten Betrieb tätig, hatte sie sich im etwas fortgeschrittenen Alter die Funkarbeit in der oft stürmischen Abgeschiedenheit am Fusse des Denali zur Aufgabe gemacht. Während der etwa viermonatigen Bergsteigersaison, lotst sie die Flieger durch Schauer und Nebel der schneebedeckten Landepiste zu. Zurückkehrende Denali Bergsteiger ohne Nahrungsmittelreserven versorgt sie vielmals bis zum Abflug mit ihren eigenen Lebensmitteln. Nach der Frau von Bradford Washburn ist sie die zweite weibliche Bezwingerin des Mt. McKinley.
Wir mussten noch unseren Proviant in Tagesportionen verpacken. In dieser Beziehung waren wir froh, dass wir nicht gleich fliegen konnten. Hier an der warmen Mittagsonne war diese Arbeit einiges angenehmer als auf dem Gletscher, wo uns der Wind beim Abfüllen von Pulver dauernd ins Handwerk gepfuscht hätte.
Die Sicht ist frei, hiess es kurz nach 15 Uhr. Nun musste alles blitzschnell gehen, bevor sich der Nebelvorhang über dem Vorgebirge wieder schloss. Material aufladen, mit dem Auto zur Flugpiste fahren, die am Rande des kleinen Dörfchens liegt, Flugzeug auftanken und das Material sorgsam in die Cessna 185 schichten. Ruedy’s Rucksack konnte nicht mehr verstaut werden und weil insgesamt nur vier Personen Platz hatten im Flugzeug, musste Ruedy auf den nächsten Flug warten. Wir konnten nur hoffen, dass sich in der Zwischenzeit das Wetter nicht verschlechtern würde, sonst könnten wir auf dem Gletscher eventuell lange auf unseren Kamerad warten.
Knatternd hob die rote Cessna ab und Jim steuerte über frisch verschneites Vorgebirge Richtung Norden dem Basislager auf dem Southeast Fork Kahiltna Gletscher zu. Bei diesem 35-minütigen Flug über unwegsame Gletschersümpfe, namenlose Bergspitzen und unzählige Spaltenlabyrinthe ersparten wir uns einen dreiwöchigen Fussmarsch. So lange nämlich würde die Reise auf Schusters Rappen von Talkeetna über den Ruth Gletscher zum Base Camp mit dem ganzen Gepäck dauern. Wer hat heutzutage schon so viel Zeit?
Der Nebelschleier lichtete sich allmählich, so dass wir vor der Landung schon einen ersten Eindruck von dieser faszinierenden weissen Pracht aus der Vogelperspektive erhielten. Als wir am Mt. Foraker vorbei flogen, sahen wir das einsam gelegene Basislager am Nordfuss des 4443 Meter hohen Mount Hunter. Etwas holprig setzte Jim auf der zerfurchten Eispiste, einige Meter neben den farbig leuchtenden Bergzelten, seinen lautstarken Vogel auf. Kein leichtes Spiel, doch für einen erfahrenen Buschpiloten wie Jim ein normales Unterfangen.
Während wir uns umschauten und die ringsum stehenden Eisriesen bewunderten, war Jim schon wieder unterwegs um Ruedy zu holen. Wir Drei kontrollierten nochmals das gesamte Material. Kurze Zeit darauf wurde auch Ruedy von Frances begrüsst und bestaunte wie wir zwei Stunden zuvor die bizarren Formen der endlos scheinenden Rippen und Grate.
Als Jim über die notdürftig angelegte Gletscherpiste davon stieb, waren wir für die nächsten Wochen von der Aussenwelt abgeschnitten und auf uns selbst gestellt. Entfernt von Rummel und Hektik der modernisierten Welt, bereiteten wir uns zum Abmarsch für dieses Abenteuer in einer überwältigenden schönen Bergwelt vor. Verpflegung für 21 Tage und Mannschaftsmaterial wurden auf zwei flache Kunststoffschlitten gebunden, von denen jeder auf ein Gewicht von etwa 50 Kilo anwuchs. Der eigene Rucksack brachte auch noch um die 30 Kilo auf die Waage.
Gegen 18.15 Uhr, bei Sonnenschein und wenig Wind zogen wir gegen Lager 1 los. Da es in diesen Breitengraden während des Sommers bis auf etwa drei Stunden Dämmerung rund um die Uhr hell ist, konnten wir zu dieser „späten Stunde“ beruhigt losziehen, ohne plötzlich von der Dunkelheit überrascht zu werden.
Nach einer kleinen Abfahrt ging es leicht steigend unserem ersten Biwakplatz entgegen. An das ständige „Rucken“ der Schlitten mussten wir uns erst gewöhnen, braucht es doch dazu einen ganz anderen Rhythmus als bei normalen Skiaufstiegen nur mit einem Rucksack am Buckel. Auf einer Anhöhe, es war gerade 22.15 Uhr, schlugen wir die Zelte auf und richteten uns für die erste Kinley-Nacht ein. Mit leerem Magen standen wir um den Kocher herum und warteten, bis das Eis in der Pfanne schmolz, damit wir endlich einen dampfenden Tee schlürfen konnten. Anschliessend genossen wir das erste von Michi zubereitete Essen. Das Menue bestand aus gebratenem Speck, Spiegeleiern, Walliserbrot und Käse.
Mitternacht war längst vorbei, also höchste Zeit in die Schlafsäcke zu schlüpfen, damit wir morgen wieder fit sein würden. Jürg, der während der gesamten Besteigung sporadische Temperaturmessungen vornehmen wollte, las gegen ein Uhr eine Zelttemperatur von Minus 12 Grad Celsius vom Thermometer ab.

Samstag, 22. Mai
Der Weg zum Lager 2

Nach einer ruhigen Nacht erwachten Jürg und ich um 7.30 Uhr, öffneten den Reissverschluss des VE24-Zeltes und liessen uns von der herrlichen Morgensonne die etwas steifen Glieder aufwärmen. Während wir schliefen fielen ein paar Zentimeter Neuschnee, der unsere Zelte mit einer flaumig weissen Hülle überzog. Mit zusammengekniffenen Augen schauten wir auf den unteren Teil des 73 Kilometer langen Kahiltna Gletschers. Durch unsere laute Begeisterung über diese imposante Bergwelt erwachten auch Michi und Ruedy, deren Zelt aus Sicherheitsgründen auf der Längsseite mit unserem Zelt zusammen verankert war.
Gebratener Speck, Eier, Birchermüesli und heisse Milch liessen für einen Moment vergessen, dass wir uns hier auf über 2200 Meter über Meer aufhielten. Windstille, strahlend blauer Himmel, dazu die Ruhe, konnten an diesem Morgen nicht verraten, was für Elemente sonst hier die Szenerie beherrschen können. Nach dem reichlichen Frühstück bepackten wir die Schlitten, stopften die Rucksäcke und verliessen um 12 Uhr mittags den Lagerplatz.
470 Höhenmeter galt es heute zu meistern. Für unsere Anpassung an dieses Klima gerade die richtige Distanz. In Ruhephasen kann der Körper optimaler akklimatisieren als unter Belastung. Daher ist es sinnvoller, anfangs pro Tag nicht viel mehr als 500 Höhenmeter zu bewältigen. Das wiederum erfordert eine genügende Zeitreserve, die nicht immer eingeplant werden kann, nach Möglichkeit aber soll. Auch die Hauptlagerplätze liegen teilweise höher auseinander, so dass der Körper zwischendurch extremeren Beanspruchungen ausgesetzt ist, um die gesetzten Tagesziele zu erreichen.
Anstrengende Steilhänge erschwerten uns teilweise den Aufstieg mit dem schweren Gepäck. Oft mussten wir daher die tief einsinkenden Schlitten zu zweit ziehen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Durch die relativ lange Horizontaldistanz dieser Etappe, erreichten wir erst um 17 Uhr Lager 2 auf 2670 Meter über Meer. Das prächtige Wetter erlaubte uns den ganzen Tag im Hemd aufzusteigen.
Als die Zelte standen, fingen Ruedy und Michi an zu kochen. Jürg und ich beschäftigten uns mit dem Bau eines WC’s. Diesmal gab es keine Nachtübung wie gestern, so konnten wir uns schon um 20 Uhr in die windgeschützte Behausung verziehen. Mit einer gesunden Müdigkeit und einer Temperatur von Minus 12 Grad, schliefen wir trotz der Helligkeit bald darauf ein.

Sonntag, 23. Mai
Materialtransport zum Lager 3

Gut ausgeruht krochen wir um 7 Uhr aus den warmen Daunensäcken. Dem klaren Himmel nach zu schliessen, sollten wir auch heute wieder mit warmem Frühlingswetter rechnen können. Eine leichte Brise strich über die Hänge und füllte unsere gestrige Skispur bis auf schwach sichtbare Konturen mit Triebschnee. Ausser Reservematerial, Wäsche und Verpflegung, wollten wir in einem ersten Schub das restliche Gepäck im Lager 3 deponieren.
Um 10 Uhr verliessen wir unsere Unterkunftsstätte der zweiten Nacht. Knappe 700 Meter höher gelegen erreichten wir mit voll beladenen Schlitten nach vier Stunden Aufstieg Lager 3. Nach einer Stärkung entfernten Jürg und Michi die Klebefelle von ihren Skiern, stellten die Tourenbindung auf Abfahrt ein und fuhren jauchzend gegen Lager 2 ab, um einen Teil des restlichen Materials zu holen. Wir vereinbarten, dass Ruedy und ich in der Zwischenzeit Camp 3 aufbauen und einrichten würden. Da wir zwei mit dieser Arbeit ziemlich schnell fertig waren, entschieden wir uns, das schöne Wetter auszunützen und ebenfalls hinunter zu fahren, um nochmals Material zu transportieren. Singend genoss ich die stiebende Tiefschneefahrt. Immer in der Nähe der Aufstiegsroute konnten wir Dank leeren Rucksäcken in eleganten Schwüngen über jungfräuliche Hänge in die Tiefe gleiten. Als die Schneemauern von Lager 2 sichtbar wurden, kamen uns Jürg und Michi entgegen. Sie waren soeben aufgebrochen und stiegen nach einem kurzen Wortwechsel mit uns zügig bergan. Damit beim Aufstieg jeder beim Tragen gleichsam auf die Rechnung kam, hatten sie das Restmaterial zu gleichen Teilen in Kunststoffsäcke abgepackt und bereitgestellt. Nach einer Verschnaufpause füllten wir die Expeditionssäcke, klebten die Felle auf die Skier und stiegen um 16 Uhr rhythmisch auf der gut angelegten Spur über den ersten Steilhang. Unsere vorausgehenden Kameraden waren nur noch als kleine dunkle Punkte in der weissen Arena zu erkennen.
Nur die Skispur, welche die scheinbar unendlichen Flächen durchschnitt liess erkennen, dass sich menschliches Leben in dieser Urlandschaft aufhielt. Sonst schien alles unberührt. Unterhalb des Kahiltna Passes hatte ich meine Kollegen eingeholt, stellte für Ruedy meine Thermosflasche, die noch etwas Tee enthielt in den Schnee und stieg weiter. Nach eindreiviertel Stunden war ich zusammen mit Michi wieder im Lager 3.
Frühere Bergsteiger errichteten Schutzwalle aus Eis und Schnee um dieses Camp, so dass von unseren Zelten nur noch der oberste Teil sichtbar war. Schnell entledigten wir uns vom drückenden Ballast und fingen gleich an Schnee zu schmelzen, um unsere Gefährten mit einer kräftigen Suppe empfangen zu können. Eine halbe Stunde später erschien Jürg und dahinter Ruedy. Das Kleeblatt war somit wieder komplett. Mit Schaufel und Pickel gruben wir eine Kochnische, damit Jürg mit der langwierigen Mahlzeitenprozedur beginnen konnte.
Über den Kahiltna Pass sahen wir zum ersten Mal ins westliche Tiefland von Alaska. Sumpfige Ebenen erstrecken sich am Fusse der Alaska Range über die ganze Länge der Bergkette hin und verleihen der Gegend ihren urtümlichen Charakter. Die Sonne hatte noch immer einen hohen Stand, verschwand aber periodisch hinter der zunehmenden Bewölkung. Bei Minus 18 Grad blieb der rote Strich auf dem Thermometer stehen.
Jürg rief zum Nachtessen. Heute gab es Freeze Dried: gefriergetrocknete Fertiggerichte, die mit heissem Wasser zubereitet werden. Ausser etwas Zwischenverpflegung hatten wir seit dem Frühstück nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt, umso mehr mundete uns die amerikanische Bergsteigernahrung.
Es war gerade halb zehn Uhr, als wir in die Daunenfinken schlüpften und den Reissverschluss vom Zelt zuzogen. Da wir heute ein schönes Stück Arbeit geleistet hatten, damit nun alles Material hier oben war, herrsche eine dementsprechend gute Mannschaftsmoral. Gesundheitlich waren auch bei keinem irgendwelche Mängel festzustellen. Daher konnte jeder befriedigt darauf warten, bis ihn der Schlaf übermannte.

Montag, 24. Mai
Jürg’s Geburtstag

Punkt sieben Uhr ertönte zweistimmig Happy Birthsday vor unserem Zelt. Michi und Ruedy brachten Jürg ein Geburtstagsständchen. Als kleine Überraschung schenkten sie ihm ein Schälchen mit Käsestücken und Guetzli. Seine grossen Zehen meinten es an seinem Ehrentag nicht so gut mit ihm, denn er klagte über starke Unterkühlung der vorderen Fusspartien. Bei ihrer letzten Trainingstour auf den Mt. Blanc gerieten er und Michi in einen Sturm, mussten biwakieren und zogen sich dabei leichte Erfrierungen an den Zehen zu. Nach reichlicher Morgenkost und einer halbstündigen Massage, fühlte sich unser Geburtstagskind aber wieder bergtüchtig. Wir drei anderen hatten ausser etwas Schlafmanko nichts zu bemängeln. Die Minus 20 Grad Aussentemperatur in der Nacht, konnten uns in den warmen Daunen nichts anhaben.
Nun mussten wir aber wieder an unsere Arbeit denken. Jürg und ich hängten die beladenen Schlitten an die Rucksackschlaufen, stiegen in die Bindungen der bereitgestellten Skier und gingen den ersten Steilhang an.
Als wir die grössten Spalten hinter uns hatten und die Steilheit zunahm, mussten wir die Skier auf den Schlitten binden und in der Falllinie zu Fuss weiterstapfen. Die beiden Kameraden ohne Schlitten konnten den Hang in gut angelegten Serpentinen durchsteigen. Das enorm schwere Gewicht unseres Gepäcks machte uns recht zu schaffen. Jeder Ausrutscher musste mit viel Kraft korrigiert werden, damit wir nicht rücklings in die Tiefe gerissen wurden. Ziemlich ausgepumpt gelangten wir nach einer Stunde auf ein kleines Plateau. Ein paar Schritte weiter war eine schneefreie Felskanzel. Vom Sturmwind blankgefegte, rotbraune Granitfelsen ragten einladend aus der gefrorenen Schneedecke. Von diesem wunderbaren Aussichtspunkt genossen wir herrliche Tiefblicke aufs Peters Basin, über diesem sich steile Südwände gegen den Peters Dome erhoben. Eine kurze Rast, dann mussten wir weiter.
Etliche Schwierigkeiten und grosse Anstrengungen standen uns noch bevor, ehe wir über den berüchtigten Windy Corner Lager 4 erreichen würden. Kurz bevor wir wieder aufbrachen, trafen wir mit zwei aufsteigenden Amerikanern zusammen. Mit ulkig breitbeinigen Schritten kamen sie auf uns zu. Wie die meisten Kinley-Besteiger bevorzugten auch sie Schneereifen an Stelle der Ski. Der eine von ihnen klagte über starke Schmerzen am rechten Fuss. Bedenklich schauten wir auf die blau verfärbten Gliedmassen, als er Schuh und Strumpf auszog. Trotzdem wollte er weitersteigen, machte sich aber dann auf unseren Rat hin mit seinem Gefährten doch an den Abstieg. Für uns ging es bergwärts weiter.
Als wir uns nach einer Weile bei einer Verschnaufpause umdrehten, wurde uns einer der schönsten Ausblicke während der ganzen Besteigung zuteil. Der stark verwechtete Nordostgrat des 3820 Meter hohen Kahiltna Dome. Elegant geschwungen wie der Biancograt am Piz Bernina, zeichnete er sich markant gegen den leicht bewölkten Himmel ab. Nach den eindrücklichen Impressionen machten wir uns wieder auf und schleppten die Lasten konzentriert höher, denn jeder Fehltritt kostete doppelte Kraft.
Um vier Uhr erreichten wir den Windy Corner. Leichtes Nebeltreiben und Minus 12 Grad waren zu verzeichnen. Gnädige Verhältnisse für diesen gefürchteten Ort, über den zuweilen Winde mit Orkanstärke fegen. Ruedy nahm Jürg den Schlitten ab und zog mit Michi weiter. Während sie im Nebel verschwanden, sassen wir zwei noch eine Weile auf meinem Schlitten und schauten in die Runde.
Der Wind nahm zu und die Sicht verschlechterte sich. Der Windy Corner fing an, seinem Namen Ehre zu machen. Wir zogen es vor, den schnell ungemütlichen werdenden Platz zu verlassen. Nach einer Steilstufe musste ein Hang traversiert werden. Dabei rutschte der Schlitten dauernd seitlich ab, dass ich bei fast jedem Schritt den Halt verlor. So klinkte ich den Karabinerhaken vom Zugseil aus und trug die ganze Bagage auf meinen Schulten weiter. Kein leichtes Unterfangen, denn Höhe, unwegsames Gelände sowie aufkommender Sturm erschwerten das Vorwärtskommen mit der annähernd 70 Kilo schweren Last. Am Ende des Steilhanges waren wir alle vier wieder beisammen. Es folgte nochmals ein steiler Aufschwung, bei dem im oberen Teil die Schlitten zu zweit hinaufgezogen werden mussten. Nach einer weiteren langen Schräghangquerung erreichten wir um 18 Uhr endlich Lager 4 bei Schneegestöber und zunehmendem Sturmwind. Auf einem Gletscherplateau unterhalb der West Buttress in 4320 Metern schlugen wir unser Camp auf. Eine Arbeit, die wir mittlerweile in Kürze erledigt hatten.
Damit wir uns während den Schlechtwetterphasen in höheren Regionen unabhängig voneinander im Zelt mit warmen Mahlzeiten versorgen konnten, führten wir zwei komplette Kochausrüstungen mit. Ab heute verpflegte sich jede Zeltmannschaft selbst. In unserem Zelt wurde es 22 Uhr, bis alles erledigt war und wir eingepackt in den Schlafsäcken lagen. Es tat gut, die müden Glieder nach den annähernd 1000 Höhenmeter etwas ausstrecken zu können, besonders für Jürg, der sich an seinem Geburtstag endlich richtig ausruhen konnte.

Dienstag, 25. Mai
Ruhetag

Trotz einer Schlaftablette konnte ich fast keine Erholung in einem gesunden Schlaf finden. Ich fühlte mich wie gerädert und drehte mich unruhig die ganze Nacht hin und her. Die Glieder waren bleiern und der Kopf brummte wie nach einer durchzechten Nacht. Als ich mich aufsetzte war es gerade halb fünf Uhr. Das an der Zeltkuppel aufgehängte Thermometer zeigte Minus 23 Grad an. Unsere Ausrüstung war mit einer zentimeterdicken Raureifschicht überzogen. Ein unerfreulicher Anblick, denn der ganze Innenraum musste von dieser Bepuderung befreit werden. Doch schien es mir für diesen Aufputz noch zu früh und Jürg wollte ich damit nicht aufwecken. Ich legte mich wieder nieder, streifte mit der Mütze die bereifte Seitenwand und hatte Gesicht und Nacken voller Schneekristalle, die durch die Körperwärme rasch auftauten. Unangenehm, dafür hatte ich einen Teil der Morgentoilette schon hinter mir.
Von der West Buttress strich der Wind über das Zelt und füllte den Hohlraum zwischen Innen- und Aussenzelt mit aufgewirbeltem Triebschnee. Ich zog den Schlafsack zu und sann vor mich hin, bis ich irgendwann wieder einnickte.
Weil wir in den vergangenen Tagen ziemlich schnell vorankamen, hatten wir nach unserem Zeitplan bis jetzt einen Tag Reserve. Diesen nutzten wir nun als Ruhetag. Für die Akklimatisation war es sowieso nur von Vorteil, wenn wir uns ohne Anstrengung in dieser Höhe aufhalten konnten.
Für Michi bedeutete aber ein Ruhetag Zeitverschwendung, denn kurz nach dem Morgenessen beschäftigte er sich mit dem Bau eines Iglus. Darin wollte er kochen, damit sein Innenzelt vom verdampfenden Wasser nicht dauernd feucht und demzufolge gefrieren würde. Jürg und Ruedy schlossen sich auf sein Geheiss hin dieser Tätigkeit an. Während sie Blöcke aus windgepressten Schneeverwehungen aussägten, war ich um ihren Durst besorgt und bereitete laufend Tee und Suppe zu. Für acht Liter Wasser schmolz ich fünf Stunden Schnee und Eisbrocken. Dann zog ich meine Sturmbekleidung an und löste Michi ab, damit er sich nun im Zelt ausruhen konnte. Auch Ruedy verschwand im Zelt, um sich zu erholen.
Während des ganzen Nachmittags waren wir bei starkem Schneefall komplett eingenebelt. Das Quecksilber blieb konstant bei Minus 17 Grad stehen. Gegen 20 Uhr wurde es merklich kälter, dafür verbesserte sich die Fernsicht.
Die aufeinander geschichteten Schneeblöcke hatten mittlerweile eine Art von Iglu angenommen, wenn auch ein bisschen unförmig. Der Durchmesser war anfangs zu gross gewählt worden, sodass wir nun Schwierigkeiten mit dem gewölbten Dach bekamen. Die trapezförmig zugehauenen Schneeklötze hafteten bei diesen Temperaturen auch nicht sonderlich aneinander. Darum packten Jürg und ich zusammen und widmeten uns der Kocherei im Zelt zu.
Gegen halb zehn Uhr schoss ich noch ein paar Bilder gegen den Mt. Hunter und Mt. Foraker, deren Gipfel sich leuchtend in der leichten Dämmerung abzeichneten. Mein Puls war wieder normal und das Kopfweh vorbei. Ich glaubte die Höhenanpassungskrise überwunden zu haben. Dann ging auch der arbeitsreiche Ruhetag zu Ende. Sollte das klare Wetter weiterhin anhalten, könnten wir morgen das Restmaterial von Lager 3 herauf holen.

Mittwoch, 26. Mai
Sturm am Windy Corner

Nach einer schlaflosen Nacht surrte gegen acht Uhr schon wieder der Kocher. Die wohltuende Wärme, die unser Schneeschmelzgerät im Zelt verbreitete, wurde leider immer vom übel riechenden Benzinduft begleitet, an den wir uns aber mittlerweile gewöhnt hatten. Ausser leichtem Kopfweh fühlte ich mich wieder fit und voller Tatendrang.
Die Talregionen waren in Nebel gehüllt, doch auf unserer Höhe schien die Sonne und liess das Blau des Himmels regelrecht aufleuchten. Nur mit Hemd und Hose bekleidet stand ich vor dem Zelt und war von dieser einmalig schönen Natur derart begeistert, dass ich die Minus 15 Grad erst nach längerem Verweilen realisierte. Glitzernde Schneekristalle tanzten leicht im Morgenwind und liessen mich dabei vergessen, wie mühsam sich dabei unser Bewegungsablauf auf dieser Höhe vollzog.
Nach dem Frühstück wurden die Zelte innen gesäubert. Brotkrümel und andere kleine Speisereste fanden in jeder Ecke und unter allem Platz. Das vor allem, wenn wir nach einem anstrengenden Tag nicht mehr die feinsten Tischmanieren anwendeten, um den oft stundenlangen Kohldampf zu stillen.
Das Wetter schien sich zu halten. Das bedeutete Materialtransport. Schlafsäcke, nasse Handschuhe und feuchte Wäsche, die wir zum Trocknen über die Ski und Skistöcke gehängt hatten, wurden wieder im Zelt verstaut, der Reissverschluss des Nylonhauses zugezogen, die Verankerungen überprüft und die Ski für die Abfahrt bereitgestellt. Um elf Uhr fuhren wir alle vier mit leeren Rucksäcken gegen Lager 3 los, wo wir Proviant und Reservekleidung unter einem Schneehaufen vergraben hatten.
Die Abfahrt über die vereisten Hänge und über oft hundert Meter breite Lawinenkegel war mehr Mühsal als Genuss. Präventive Unfallverhütung hiess unser oberstes Gebot, daher durfte also keine Schussfahrt riskiert werden. Mit Stemmbogentechnik näherten wir uns dem Windy Corner. Urplötzlich hüllte uns dichter Nebel ein. Starker Wind kam auf und je mehr wir uns der „luftigen Ecke“ näherten, desto intensiver wurden die Böen. Schneetreiben setzte ein und die Temperatur sank unter Minus 25 Grad.
Wir fuhren direkt in einen der gefürchteten Denali Stürme, die mit Windgeschwindigkeiten bis zu 150 Km/h über die Hänge fegen und alles mitreissen, was nicht verankert ist. Da die Steilhänge unterhalb des Windy Corners ausnahmslos Blankeis aufwiesen, entledigten wir uns der Skier, verstauten sie zwischen Felsblöcken und beschwerten sie mit Steinen, damit sie von den Sturmböen nicht erfasst und fort getragen werden konnten. Ohne Steigeisen, Seil und Pickel, nur mit beiden Skistöcken ausgerüstet ging es danach im peitschenden Sturm talwärts weiter. Vor der Abfahrt im Lager 4 liessen wir uns von Michi überzeugen, dass es heute nicht nötig wäre, Seil und Eiszeug mitzunehmen. Diese Fehlprognose bekamen wir jetzt gehörig zu spüren.
Die letzte Steilstufe vor Lager 3 war ein totaler Lawinenhang. In gebührendem Abstand stapften wir bis zu den Hüften im Neuschnee versinkend tiefer. Ziemlich durchfroren kamen wir unbeschadet beim früheren Biwakplatz an. Wir waren erstaunt, dass noch so viel Transportgut übrig geblieben war, da wir ja zwei Tage zuvor schon gut bepackte Schlitten und voll gestopfte Rucksäcke hinauf schleppten. Als die Ware aufgeteilt war, schlürften wir erstmals genüsslich den Tee aus den mitgeführten Thermosflaschen.
Kurz vor 13 Uhr ging’s wieder aufwärts. Der Sturm nahm von Stunde zu Stunde an Heftigkeit zu. Ohne die Gebirgsausrüstung war es mit dem Vorwärtskommen schlecht bestellt. Eine Dreiergruppe die zu uns aufschloss, lieh uns einen Pickel und ein 50 Meter Seil, damit wir die Blankeishänge gefahrloser ersteigen konnten. Ein kleiner Ausrutscher eines Einzelnen hätte verheerende Folgen haben können.
Am Skidepot angelangt hatten wir etliche Mühe, die Latten auf den Rucksack zu schnallen, ohne dass sie uns der heulende Sturm aus den Händen riss. Triebschnee, der von Fallwinden aufgewirbelt wurde, nahm uns oft für lange Zeit die Sicht, was den Aufstieg im Spaltengewirr erschwerte. Eiskristalle, die wie Geschosse auf uns zuflogen, schürften uns die ungeschützten Gesichtsstellen auf.
Als wir nach 18 Uhr endlich Lager 4 erreichten, war meine Skibrille mit der Sturmhaube und dem Bart total zusammen gefroren. Ruedy und Michi verzogen sich sogleich in ihr Zelt, worin kurz darauf das Geräusch des Benzinkochers zu hören war. In unserer Behausung übernahm Jürg die Kocherei, was mir vortrefflich zusagte. So konnte ich im warmen Daunenschlafsack vorerst „auftauen“.
Der Sturm tobte unaufhaltsam weiter, dass Michi um halb elf Uhr beide Zelte freischaufeln musste, damit unter der immer schwerer werdenden Schneelast die Stützstangen nicht einknickten. Kurz vor Mitternacht hatte ich meinen Tagebuchbericht beendet. Mit klammen Fingern legte ich mein Schreibzeug beiseite. Müde hörte ich dem durchdringenden Heulen des Sturmes zu und hoffte, dass ich trotz dieses Infernos bald einmal einschlafen würde.

Donnerstag, 27. Mai
Tragische Ereignisse

Eine ruhige Nacht wurde es nicht, denn der Sturm brüllte unentwegt weiter, so dass wir alle drei Stunden abwechslungsweise die Zelte vom Schnee befreien mussten. An einen Aufbruch war nicht zu denken, daher liessen wir uns beim Frühstück reichlich Zeit. Um die Mittagszeit lagen wir auf den nassen Schlafsäcken und hofften, dass die grausamen Sturmböen endlich nachlassen würden. Trotz der Müdigkeit war an Schlafen nicht zu denken. Der Wind schien ein boshaftes Vergnügen daran zu finden, derart an unseren Zeltplanen zu rütteln, dass diese das reinste Trommelfeuer verursachten. Wieder einmal Zeit genug, den Gedanken nachzuhängen.
Im Laufe des Vormittags, bei immer noch heftigem Sturm, zog ich die Sturmbekleidung an und ging hinaus, um erneut den Lagerplatz freizuschaufeln. Durch das Schneegestöber kam mir eine wankende Gestalt entgegen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um Erich, einen 59 jährigen Österreicher aus Innsbruck. Sein Traum, den kältesten Berg zu besteigen, endete hier auf gut 4300 Metern über dem Meeresspiegel. Er war mit dem Deutschen Alpenverein unterwegs und zog sich bei einem Sturz eine Rippenquetschung zu, die ihm grosse Atemschwierigkeiten bereitete. Seine „Kameraden“ liessen ihn einfach hier sitzen, weil keiner von ihnen auf den Gipfel verzichten wollte. Auch keiner von jenen, die ihre gute Form schon längst eingebüsst hatten. Ohne ihn machten sie sich alle gegen Lager 5 auf den Weg, um dann, wie sie planten, in einer Blitzaktion den Gipfel anzugehen.
Erich war merklich geschwächt und moralisch an einem Tiefpunkt angelangt. Er erzählte mir, dass er wegen einem Defekt am Kocher schon zwei Tage nichts mehr Warmes zu sich genommen hatte. Ich schickte ihn in sein Zelt zurück und brachte ihm später meine gefüllte Thermosflasche, die er freudig und dankbar entgegennahm. Anschliessend reparierte ich seinen Phöbus Kocher und verankerte sein havariertes Zelt. Danach sassen wir lange beieinander, wobei mir Erich von seinen Bergfahrten, von seiner Familie und von allem, was ihm lieb und teuer war, erzählte. Während dieser Plauderei schmolz ich laufend Schnee und füllte mit dem nötigen Heisswasser seine Thermosflaschen. Erich rüstete sich zusehends auf. Als ich sicher war, dass er sich auch wieder selber versorgen konnte, verabschiedete ich mich von ihm und stapfte durch fast hüfttiefen Neuschnee zu unserem Camp, um es erneut aus dem Schnee zu graben.
Ruedy und Jürg dösten im Zelt. Michi machte einen Rundgang durch das ganze Lager 4. Bedingt durch das schlechte Wetter, hatten sich hier etliche Bergsteigergruppen angesammelt. Die einen konnten nicht weiter aufsteigen, andere nicht runter.
Neben unserem Lager war eine Station zur Erforschung der geheimnisvollen Krankheiten eingerichtet, die den Menschen in grosser Höhe befallen. Unter der Leitung eines Universitätsprofessors werden verschiedene Studien über Höhenkrankheiten durchgeführt. Von Dr. Peter H. Hacket, einem hageren, wortkargen Bergsteiger und Arzt, erfuhren wir Wissenwertes über Bergkrankheiten. Ein Jahr zuvor stand das Forschungszelt im Himalaja. Hier wollten sie nun feststellen, ob die Krankheitssymptome einzelner Patienten im McKinley Gebiet gleichen Ursprungs sind.
Momentan beherbergten sie einen verunfallten Engländer. Der 19 jährige Bursche war gestern im Alleingang über eine Eiswand westlich der West Buttress geklettert. Auf dem Grat stürzte er mit einer Wechte etwa 100 Meter tief auf die andere Bergseite. Beim Sturz riss es ihm Jacke, Handschuhe und den Rucksack vom Leibe. Relativ unverletzt konnte er sich wieder auf den Gratrücken retten. Für den Abstieg über die 45 Grad steile Rampe fehlte ihm aber die Kraft. So musste er die Nacht bei Minus 30 Grad ohne Ausrüstung im Freien verbringen. Am Morgen fand ihn eine aufsteigende Gruppe lebend, jedoch mit erfrorenen Händen und Füssen. Sie brachten ihn ins Ärztecamp. Die Diagnose von Dr. Hackett lautete: Amputation beider Hände bei den Handgelenken.
Ich stand im Lazarett und schaute ergriffen auf den schlafenden Patienten mit seinen dick einbandagierten Händen. Aus welchem Grund kletterte er wohl alleine über die Eiswand? Warum musste er gerade auf diese Wechte stehen? Diese und viele andere Fragen beschäftigten mich. Ich trat hinaus ins Freie. Starkes Schneetreiben hüllte mich ein. Wohin ich schaute, überall war es weiss, so weiss, wie die dicken Bandagen an den Händen eines jungen Mannes, der, wie es das Schicksal haben wollte, Klavierstudent an einem Konservatorium in England war. Ich geriet ins Grübeln...
So viel Freude und Befriedigung einem die Berge einerseits schenken können, so viel Leid und Tragik vermögen sie auf der anderen Seite zu verbreiten. Bedrückt schlich ich mich ins Zelt und versuchte mich in Gesprächen mit Jürg vom tragischen Zwischenfall abzulenken. Draussen schneite es unaufhaltsam weiter.
Als ich nach 20 Uhr noch einmal raus musste, brachte Erich die Thermosflasche zurück. Er hatte sich schon recht gut erholt und lachte sogar ein bisschen, was mich herzlich freute. Im Kollegenzelt ging es laut zu und her. Ruedy und Michi spielten Back-Gammond. Auf der gelben Unterlagsmatte zeichneten sie mit Filzstift eine Art Schachbrett auf und verschieden farbige Bandschlingenstücke dienten ihnen als Figuren. So versuchte jeder auf seine Weise die Wetterwiderwärtigkeiten zu überbrücken, die einen dazu verurteilten, das Zelt zu hüten.
Der Wind hatte nun etwas nachgelassen. Das ständige Flattern der Zeltplane ging in leichte Wellenbewegungen über. Es entstand wieder eine friedlichere Atmosphäre in der weissen Arena. Alles was feucht war, kam während der Nacht in den Schlafsack. Durch die Körperwärme konnten die wollenen Sachen dabei bis zum Morgen trocknen. Von Schlafkomfort konnte dabei allerdings nicht die Rede sein.

Freitag, 28. Mai
West Buttress - 45 Grad steile Eisflanke

Während der Nacht legte sich der Sturm vollends, dafür sank die Temperatur auf Minus 30 Grad. Im windgeschützten Zelt war es dagegen mit Minus 18 Grad direkt angenehm. Aufstehen, es ist neun Uhr, rief Michi aus dem anderen Zelt. Der Reissverschluss des Zelteingangs war total verharzt. Vorsichtig, damit keine Zähne verletzt wurden, öffnete ihn Jürg zentimeterweise. Die Sonne drängte sich zwischen die letzten vorüberziehenden Wolkenfelder und liess unsere Lebensgeister neu aufleben.
Nach dem Frühstück glich unser Lagerplatz einem kleinen Jahrmarkt. Die gesamte „Wohneinrichtung“ musste zum Trocknen an die Sonne gehängt werden. Farbig leuchtend zeichneten sich die Utensilien vom strahlend weissen Hintergrund ab. Um halb zwei Uhr nachmittags standen vier voll bepackte Rucksäcke zum Abtransport bereit. Am oberen Ende der West Buttress wollten wir das Materialdepot anlegen. Angeseilt, ohne Ski und Schlitten, marschierten wir los. 590 Höhenmeter galt es heute zu bewältigen.
Die Sonne brannte in den steilen Hang und im Gegensatz zu den letzten Tagen regte sich kein Lüftchen. In gleimässigem Tempo hatten wir nach zwei Stunden die Hälfte des Aufstiegs geschafft. Der schweisstreibende Teil stand uns aber noch bevor, denn das obere Drittel dieser Flanke weist eine Neigung von 45 Grad auf. Nun tauschten wir die Skistöcke gegen den Eispickel aus. Der Atem ging schneller, die Tritte wurden kürzer. Eine lustig aussehende Technik erleichterte uns den beschwerlichen Aufstieg. Der Oberkörper wird in eine rhythmische Vor-Rückwärtsbewegung gebracht, sozusagen in ein Pendeln. Bei der Rückwärtsbewegung wird das Körpergewicht bergseitig nach hinten verlagert. Dadurch ist der Talfuss fast unbelastet und kann ohne grosse Mühe zum nächsten Schritt angehoben werden. Genau gleich wirkt diese Art der Entlastung beim Vorwärtsneigen des Oberkörpers, nur dass bei diesem Vorgang das ganze Gewicht auf dem vorher höher gesetzten Fuss lastet. Nach einiger Zeit dreht man sich um 180 Grad zum Hang, damit sich das bisher stärker belastete Bein erholen kann.
Plötzlich wurde die Stille in dieser Einsamkeit durch ein Knattern unterbrochen. Ein Riesenhubschrauber der amerikanischen Armee setzte nahe dem Ärztecamp auf. Von oben herab sahen wir, wie der junge Engländer auf einer Bahre in den Monsterheli geladen wurde. Wäre das Ärzteteam nicht hier gewesen, hätte man ihn zu Fuss zum Basislager transportieren müssen, weil Flugzeuge auch bei Rettungseinsätzen nur am Rande des Nationalparks landen dürfen. So hatte also der junge Bursche trotz allen Widrigkeiten doch noch ein bisschen Glück. Die Rotoren begannen sich zu drehen und in einer riesig aufgewirbelten Schneewolke hob das unförmige Fluggerät vom Boden ab.
Noch eine Seillänge, dann nahm die Steilheit rapide ab. Es war gerade 17.30 Uhr, als wir unser Tagesziel auf 4910 Meter über Meer erreichten. Der Ausblick war überwältigend. Der nahe Gipfel des Mt. Foraker überragte uns nur noch um knappe 400 Meter. Sonnenschein und eine Fernsicht, die uns einen grandiosen Weitblick ins Tiefland mit den gewundenen, silbrig glänzenden Flüssen erlaubte, liessen die vergangenen vierstündigen Strapazen vergessen. Wir deponierten die Ware, beschwerten sie mit Schneeblöcken und machten uns wieder an den Abstieg. Trotz der Minus 15 Grad kamen wir gehörig ins Schwitzen.
Als wir um 19.30 Uhr wieder im Lager 4 eintrafen, konnten wir noch etwa zehn Minuten die Sonne geniessen, dann verschwand sie hinter einem Bergrücken. Innert kurzer Zeit sank die Temperatur so tief, dass wir uns schnell ins Zelt verzogen. Während wir beim Nachtessen sassen, kehrte die Gruppe des Deutschen Alpenvereins zurück. Etwa 200 Meter unter den Gipfel mussten sie erschöpft und mit teilweisen Erfrierungen kapitulieren und absteigen. Der Denali war wieder einmal stärker.
Wie unwichtig materielle Dinge werden, wenn es ums Überleben geht, sahen wir deutlich am Beispiel dieser Gruppe. Als der Sturm nachliess, verliessen sie panikartig Lager 5 und liessen nebst Gebirgsausrüstung auch Film- und Fotomaterial für mehrere Tausend Franken in einem Iglu zurück. In solchen Situation wird manches scheinbar Wichtige unnützer Ballast. Die Hauptsache besteht nur noch darin, heil davon zu kommen.
Unsere Mannschaft war in guter Stimmung und frohen Mutes, auch wenn Ruedy und Michi an Husten und Schnupfen und Jürg an sonnenverbrannten Lippen litten.

Samstag, 29. Mai
Noch einmal West Buttress

Mit Minus 12 Grad und Nebel, der sich von zirka 4000 Meter gegen die Gipfelregion empor schlich, begann für uns der neunte Tag am Berg. Ein gespenstisches Schauspiel vollzog sich in diesem riesigen Amphitheater. Nebelschleier, scheinbar aus dem Nichts entstanden, hüllten innerhalb Sekunden lautlos die ganze Umgebung ein. Es war, als würde uns ein feuchter Mantel umgehängt, der uns am Fortkommen hinderte. So schnell wie sie gekommen war, verschwand die orientierungsraubende Lufttrübung wieder. Aber kaum war die Sicht frei, begann das bedrückende Geisterspiel von neuem.
Eigentlich wollten wir heute Lager 5 am oberen Gratende der West Buttress einrichten, waren aber wegen der unbeständigen Wetterlage noch nicht schlüssig. Kurz vor Mittag werkte Ruedy wieder einmal am missratenen Iglu, doch sein Kopfschütteln liess erkennen, dass auch er von dieser Konstruktion nicht sonderlich begeistert war. Es ging nicht lange, da stand nur noch die Schaufel neben dem Schneehügel.
Gerade als Michi vorschlug, einen zweiten Materialschub ins gestern angelegte Depot zu bringen, fing es an zu schneien. Mit geteilten Meinungen über diesen Vorschlag, verliessen wir mit aufgeschnallten Skier um 13.30 Uhr Lager 4. Heftiger Wind, starker Schneefall und Minus 15 Grad begleiteten und während den nächsten drei Stunden Aufstieg. Unter Schneeböen, die einem Sicht und Atem raubten, gruben wir unser Material ein. Als wir das Lager mit Bambusstäbchen markiert hatten, hielt uns nichts mehr in dieser frostigen Höhe. Schleunigst machten wir uns an den Abstieg. Eine Stunde später klopften wir Kleidung und Rucksack von Eis und Schnee frei, entledigten uns der Steigeisen und pufften uns in die Zelte. Es war angenehm, sich endlich vom dauernden Wind schützen zu können.
Für den gleichen Anstieg benötigten wir gestern eine gute Stunde mehr Zeit, da im Gegensatz zu heute die Sonne mitten in den Hang brannte und die Last um einiges schwerer war.
Um 22 Uhr schneite es so stark, dass die Sicht nur noch ein paar Meter betrug. Jeder, der noch einmal raus musste, war in kurzer Zeit wieder im Schlafsack. Bevor ich mich hinlegte, unterzog ich mich erstmals am Berg einer tüchtigen Körperpflege. Danach zog ich frische Unterwäsche, Socken und ein sauberes Hemd an. Folglich fühlte ich mich als der sauberste Mensch – jedenfalls hier oben. Jürg und ich wären froh gewesen, wenn wir das Lager hier so bald als möglich hätten verlegen können. Eingesunken durch die Körperwärme, lagen wir nämlich schon die dritte Nacht in regelrechten Mulden.

Pfingstsonntag, 30. Mai
Lager 5 - Sturmgepeitschter Biwakplat
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Bergführer Brian Okonek, der Sohn unseres Piloten Jim, war zu diesem Zeitpunkt im Ärztecamp beschäftigt. Brian anerbot sich, unsere zwei Kunststoffschlitten, in denen wir bisher das Material schleppten, bei seiner Rückkehr ins Basislager mitzunehmen. Weil es die technischen Schwierigkeiten ab Lager 4 nicht mehr zuliessen, mussten wir von nun an auf das praktische Transportmittel verzichten. Dafür waren wir das Problem der Umweltverschmutzung los. Wir wollten möglichst wenig Spuren unserer Zivilisation in dieser vorläufig noch intakten Natur hinterlassen. Für Verunreinigungen sorgen bekanntlich schon genug andere.
Über Nacht klarte es auf und das Wetter schien sich für die nächsten Stunden zu halten. Trotz des stürmischen Windes wollten wir heute Lager 5 einrichten. Wir räumten den Platz, auf dem wir fünf Tage und Nächte zugebracht hatten. Mit den besten Wünschen der noch anwesenden Bergsteiger gingen wir um 12.30 Uhr ziemlich schwer beladen zum dritten Mal den Steilhang an. Drei einviertel Stunden wurde uns heute von der abweisenden Flanke abverlangt, bis die tief eingeschneiten Bambusstäbchen mit den schwarzen Isolierbandfähnchen zum Vorschein kamen. Die Sicht war relativ gut, doch zum Verweilen war keine Zeit. Nach einer Verschnaufpause und ein paar Fotos luden wir noch einen ordentlichen Teil der deponierten Ware auf die Rucksäcke und zogen erneut los.
Die weitere Route folgte über einen exponierten Grat, der auf der einen Seite 600 Meter steil abfällt, auf der anderen Seite 900 Meter. Abwechslungsweise überkletterten wir verblasenes Blockgestein und blank gefrorene Gratschneiden. Der gähnende Abgrund mahnte Schritt für Schritt zur Vorsicht. Seit unserem Aufbruch im Lager 4 stiegen wir immer angeseilt aufwärts. Zwischensicherungen konnten in diesem Gelände aber keine angelegt werden, daher musste jeder einzelne Tritt sicher sein. Pfeifend fegte der Eiswind über den zerklüfteten Kamm. Oft musste ein Pickelhieb in den Firn das verlorene Gleichgewicht wieder auskorrigieren. Ziemlich durchfroren kamen wir um 19 Uhr beim Hochlager auf 5250 Meter über Meer an.
Rund eine Stunde hackten und schaufelten wir eine ebene Fläche frei, wo nachher die Zelte aufgebaut wurden. Besonderen Wert massen wir hier der Verankerung der superleichten Gebirgszelten zu. Wenn der Sturm einmal an einer losen Ecke eine Angriffsfläche erhält, würden wir wahrscheinlich den Rest der Besteigung in Schneehöhlen verbringen müssen.
930 Höhenmeter hatten wir in den letzten sechseinhalb Stunden geschafft. Eine beachtliche Leistung, wenn Höhe, Wetterbedingungen und Lasten dabei berücksichtigt werden. Wir konnten nur hoffen, dass dieser Höhenunterschied dem Körper nicht schaden würde.
Es war wiederum ein schönes Gefühl, den Reissverschluss vom Zelt zu schliessen, die eiskalten Schuhe ausziehen und ausgestreckt die müden Glieder zu wärmen. Bleiern drückte die vom Kocher verbreitete Wärme auf die Augenlieder. Rasch war jedoch der Halbschlaf vertrieben, wenn ab und zu wieder Schnee von Draussen in die Pfanne gefüllt werden musste. Zwischendurch konnten wir den von der Sonne beschienenen Nordgipfel des McKinley in allen Farben, die auf der Naturpalette gemischt werden, bewundern. Um 259 Höhenmeter wird Nordamerikas zweithöchster Punkt vom benachbarten Südgipfel überragt.
Der ganze Tag verlief praktisch reibungslos und jeder ist Dank seiner Kondition und der guten Anpassung wegen ziemlich fit. Ruedy bekundete ständig leichte Kopfschmerzen, mass ihnen aber keine besondere Bedeutung zu, weil er diesem Übel auch in den heimatlichen Bergen unterworfen sei.
Kaum war der Körper wieder einigermassen durchwärmt, machte sich das Problem des „raus Müssens“ auch schon bemerkbar. Ein jeder zögerte es immer so lange heraus, bis er dann mit einem „aber jetzt ist’s höchste Zeit“ blitzartig das Zelt doch verlassen musste. Verständlich, denn wer lässt im Freien bei Minus 25 Grad und Schneetreiben schon gern die Hosen runter.
Ich lag im Schlafsack, hörte dem Wind zu und schaute auf das Flattern der Zeltplanen. Dabei dachte ich an zu Hause. Was mag während unserer Abwesenheit schon alles passiert sein? Sicher seid ihr um uns hier oben besorgt. Ich wollte, ich könnte euch mitteilen, dass es uns an nichts mangelt und wir alle vier wohlauf sind. Wir sind hier völlig isoliert, wissen nichts vom Weltgeschehen und sonstigen Begebenheiten. Alles was wir hier brauchen ist Energie, Durchhaltevermögen, Überwindung der Kälte und der Stürme, Bereitschaft zur Kameradenhilfe und eine grosse Begeisterung zum Berg.
Das Sausen des Windes ging in eine liebliche Melodie über. Die Müdigkeit hatte mich überwältigt.

Pfingstmontag, 31. Mai
Erster Gipfelversuch

Weder die 24 Grad Unternull noch der raue Wind waren an diesem klaren und sonnigen Morgen schuld an meiner inneren Spannung. Allein der Denali löste diese Unruhe aus, denn ihn galt es heute vollends zu besteigen. Gleich nach dem Frühstück sollte es losgehen, doch es wurde wieder beinahe elf Uhr, bis wir abmarschbereit waren. Der Rucksack war leicht gepackt. Nur gerade das Allerwichtigste wurde mitgenommen, um einem möglichst raschen Aufstieg zu ermöglichen.
Vorerst musste eine lang gezogene Senke überquert werden. Anschliessend folgten etwa 40 Grad steile Hänge, die sich bis zum Denali Pass in kontinuierlicher Schräge hinaufzogen. Bei einem Neuschneezuwachs von nur etwa 20 bis 30 Zentimetern, würden diese Hänge zu einer erheblichen Lawinengefahr anwachsen. Das hiess, dass wir uns bei aufkommenden Schlechtwetter schleunigst in das Hochlager zurückziehen müssten, wenn wir nicht auf dem Pass biwakieren wollten. Ohne grosse Mühe traversierten wir die scheinbar unendliche Flanke gegen den Denali Pass, der sich auf 5550 Meter über Meer befindet.
Ein neuer Tiefblick tat sich auf. Über den Harpers Gletscher glitten unsere Augen zum Brown Tower, weiter über die Karstens Ridge auf den breiten Muldrow Gletscher bis hin zum McGonagall Pass. Der ganze nordöstliche Teil des Kinley Nationalparks wurde uns offenbart. Sollte uns die Gipfelbesteigung glücken, würden wir über diese schattige Nordseite des Berges absteigen. Wir verfolgten die Route zum Denali Südgipfel. Mächtig strotzte der nach seinem Erstbesteiger benannte The Archdeacon’s Tower in den tiefblauen Himmel. Der Vorgipfel mit seinen fast 6000 Metern war schon für viele Bergsteiger, die sich im Nebel verirrt hatten, als vermeintlicher Hauptgipfel gefeiert worden. Diesen Irrtum musste 1961 auch der erfahrende Bergsteiger und –Fotograf Dölf Reist auf seiner Kinley Expedition feststellen. Bitter für ihn und seine Begleiter, als sie nach all den Strapazen feststellen mussten, dass sie den 200 Meter tieferen Punkt als Gipfel betrachteten. Zwei Tage später, am 11. Mai wurde ihre Mühe aber doch noch belohnt. Alle vier Mitglieder standen diesmal auf dem wirklichen Gipfel.
Zum ersten Mal bekamen wir den Hauptdarsteller in diesem Naturtheater zu Gesicht. Der mächtige Gipfelrücken des Mt. McKinley ist im Aufstieg über die Südseite erstmals von hier aus sichtbar. Vorausgesetzt natürlich, dass das Wetter mitspielt, was bei diesem exponiert stehenden Berg keine Selbstverständlichkeit ist.
Während einer Zwischenverpflegung klagte Michi über einen gefühllosen grossen Zeh. Erfolglos massierten wir abwechslungsweise während dreiviertel Stunden seinen Fuss. Ein Tag, ohne das geringste Anzeichen von Sturm oder einem Wettersturz, ist eine der seltensten Erscheinung während einer ganzen Saison in der riesigen Alaska Range. Daher beschlossen Ruedy, Jürg und ich den Gipfel alleine zu besteigen. Michi versicherte uns, dass er entweder absteigen oder später unserer Aufstiegsspur folgen würde, falls sich eine Besserung seiner Zehe einstellen würde. Ungewohnt als Dreierseilschaft zogen wir los. Ruedy führte unsere Gruppe an und vorerst schien alles gut zu klappen. Prachtswetter und unsere Form ermöglichten uns ein zügiges Tempo beizubehalten. Nach dem Höhenmesser befanden wir uns noch etwa 250 Meter unter dem höchsten Punkt, also auf etwa 5950 Meter über Meer.
Als Seilletzter bemerkte ich immer öfters, wie unsicher sich Jürg bewegte. Ihm, der mit seinem geringen Körpergewicht über fast keine Reserven verfügte, setzte die schmale Kost am meisten zu. Ausgerechnet bei diesen optimalen Verhältnissen erleidet er einen Hungerast. Ich packte meine Thermosflasche aus und füllte ihm einen Becher heissen Tee. Momentan konnte ausser Flüssigkeit nicht viel mehr zur Besserung beigetragen werden. Nach einer kurzen Lagebesprechung beschlossen wir, den sofortigen Rückzug anzutreten, damit Jürg nicht zu Schaden kam.
Immer noch herrschte bestes Bergwetter. Je weiter wir bergab stiegen, desto besser erholte sich Jürg glücklicherweise. Gegen 18 Uhr standen wir vor den Zelten im Lager 5. Jürg schickten wir gleich in den Schlafsack. Von Michi fehlte jede Spur. Während unserer Abwesenheit hatte eine andere Gruppe neben uns Quartier bezogen. Von ihnen erfuhren wir, dass ein Mann im Laufe des Tages alleine über die Eiswand rechts vom Denali Pass geklettert sei. Das konnte bestimmt nur Michi gewesen sein. Tatsächlich, denn gerade traf er bei uns ein und bestätigte, was wir eben gehört hatten.
Nachdem er wieder warme Füsse hatte, war er uns nachgegangen, verfehlte uns aber, weil er sich nicht an die vereinbarte Route hielt. Fehler hin oder her, Hauptsache war, dass auch er wieder unbeschadet zurückkehrte. Am meisten freute ich mich für Jürg, der auf dieser Höhe fast nichts mehr von seiner vorherigen schlechten Verfassung spürte. Gegen halb neun Uhr schnitt er mir sogar meinen Bart kürzer, damit mir nicht jeden Tag Kopf, Mütze und Jacke miteinander zusammen gefrieren würden. Wir diskutierten noch lange miteinander und kamen zu folgendem Schluss: Wäre Michi nicht die Wand hochgeklettert, sondern wie abgemacht auf der Normalroute gegen den Gipfel aufgestiegen, hätte er uns treffen müssen. Weil auch er sich nicht in Hochform befand, hätte er mit Jürg zusammen absteigen können. Für Ruedy und für mich wäre es wahrscheinlich möglich gewesen, den Gipfel zu besteigen. Uns zweien fehlte zu dieser Zeit nämlich überhaupt nichts.

Dienstag, 1. Juni
Ein Blizzard kündigt sich an

Um 8 Uhr schmolz schon der Schnee über dem MSR-Kocher, der Tag für Tag ohne eine Panne seinen Dienst verrichtete. Es war neblig und windig. Wir mussten uns entscheiden, ob wir heute nochmals den Gipfel versuchen wollten oder das restliche Material über den Grat hinauf holen sollten. Würde die Sonne kommen, ginge es aufwärts, andernfalls hinunter bis zum eingegrabenen Material, das früher oder später sowieso hinauf musste. Da nützte das ganze Ausschau halten nichts, die Sonne liess sich nicht blicken. Daher seilten wir uns an und stiegen über den Grat gegen den Sattel bis auf 4910 Meter ab. Aufkommendes Schneetreiben und dichter werdender Nebel kündigten nichts Gutes an.
Nach einer Stunde, um 11.30 Uhr, ging es in rassigem Tempo wieder aufwärts. Wenn das Wetter unterdessen aufgeklart hätte, wären wir unterhalb von Lager 5 vorbeigezogen und hätten das geladene Material direkt auf den Denali Pass gebracht. So aber steuerten wir direkt auf unsere Zelte zu, wo wir um 13 Uhr ankamen. Die Ski wurden bis zu den Bindungen in den windgepressten Schnee gesteckt. Die Stöcke fanden zwischen den zwei Zelten Platz.
Sturm kam auf. Mit dem Rucksack ging es ab ins Zelt. Jetzt, als es draussen so richtig anfing zu toben, waren wir froh, dass nun wieder die gesamte Ausrüstung in einem Lager war. Bei einem Wettersturz wie dem jetzigen, waren jeweils gefährliche Lawinenhänge zwischen den einzelnen Camps. Also nur ein Vorteil, wenn diese Etappen dann gemieden werden konnten.
Im Laufe des Nachmittags kritzelte ich mit steifen Fingern den Bericht ins Tagebuch. Jürg döste daneben. Der Sturm wütete nun und riss an allen Ecken und Enden der Zelte, die wir aber mit Pickeln und Eisschrauben gut verankert hatten. Als sich letzte Woche der DAV nach seinem misslungenen Gipfelversuch hier aufhielt, hat ihnen so ein fürchterlicher Lokalsturm sämtliche Einmastzelte davon geblasen. Uns blieb zu hoffen, unbescholtener davon zu kommen.
Durch das Brausen des Sturms, der sich zusehends verstärkte, war Jürg längst aufgewacht. Gemeinsam mussten wir zeitweise die Füsse gegen die Zeltwände stemmen, um dem winzigen Fremdkörper in dieser rauen Natur besseren Halt zu verleihen. Nicht auszudenken was passiert wäre, wenn das Zelt in diesem Moment unbemannt gewesen wäre. Unsere Schlafsäcke waren nass und schwer. Ich schlüpfte hinaus, legte mich darauf und versuchte mit dieser Art, das feuchte Schlafzeug mit meiner Körperwärme zu trocknen. Um 19 Uhr fegte der heulende Blizzard mit ungeahnter Heftigkeit über die eisgepanzerten Flanken und Grate. Wir wagten nicht zu kochen, denn wie schnell wäre in dieser Situation etwas umgestossen. Ein Feuerausbruch im Zelt hätte bei diesem Sturm unserem Unternehmen ein jähes Ende bereiten können. Ein bisschen ausgelaugt, jedoch hellwach lagen wir auf einem feuchten Haufen, um bei einem eventuellen Malheur sofort eingreifen zu können.

Mittwoch, 2. Juni
40 Stunden ohne Schlaf

2 Uhr 45, das Thermometer zeigte Minus 17 Grad an. Wir hatten noch keine Minute geschlafen und mir schien, dass der Sturm mit jeder Stunde an Heftigkeit zunahm. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir anhand der zu Hause gelesenen Literatur nicht vorstellen, was es heisst, durch solch unbändige Naturgewalt in über 5000 Meter Höhe im Zelt gefangen zu sein. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, stundenlang nur das Getöse und Heulen des Sturmes zu hören, die flatternden Zeltwände zu beobachten und ständig das sich bildende Eis von den Utensilien zu kratzen.
In den frühen Morgenstunden hätte ich unbedingt einmal nach draussen sollen. Mit unglaublicher Kraft riss der Sturm nun an Zeltstangen und Plane. Die Intensität dieser Windstösse hätte mich glatt weggefegt. Es blieb mir keine andere Wahl, als in einen leeren Alu Beutel zu wässern und ihn dann durch eine kleine Öffnung aus dem Zelt zu werfen.
Mittlerweile wurde es 13 Uhr. Seit 25 Stunden preschte der Sturm Böe um Böe gegen unsere hauchdünne Nylon-Behausung. Wie lange noch konnte die Technik dieser andauernden Belastung standhalten? Wie lange wohl noch?
Wir lagen in unseren Schlafsäcken und diskutierten über Gott und die Welt, bis der Sturmwind das Zelt auf einer Seite in die Höhe hob. Blitzartig lösten wir uns von den Hirngespinsten und befassten uns wieder mit der Wirklichkeit. Gekocht wurde nicht mehr, so war ein kalter Becher Tee und ein Stück gefrorenes Walliserbrot das einzige, was wir in den letzten Stunden zu uns genommen hatten. Von diesem Tag an war die Verpflegung sowieso unser Sorgenkind. Michi als unser Organisator bestimmte alleine, was und wie viel an Lebensmitteln mitgenommen wurde. Dass dieses Vorgehen nicht das Klügste war, bekamen wir jetzt deutlich zu spüren. Die Tagesrationen waren nicht nur viel zu gering berechnet, sondern auch zu wenig abwechslungsreich.
Die Schuhe waren gefroren, die Schlafsäcke nass und der Innenboden mit einer zentimeterdicken Eisschicht belegt. Wir waren müde, doch der Sturm gönnte uns keine Ruhe. Während Michi draussen die Zelte freischaufelte und die Verankerungen kontrollierte, rafften sich Jürg und ich zu einer Generalputzete auf. Insgesamt sechs 3 Deziliter Becher voll Eis kratzten wir im Zelt zusammen. Danach war es wieder einigermassen wohnlich. Endlich, nach bangen Stunden, legte sich der Sturm, dafür fing es stärker an zu schneien.
Wir entschieden uns, das Reservematerial und die Skis auf den Denali Pass zu tragen. Doch da stellte sich ein Problem. Wir mussten die gefrorenen Schuhe anziehen. Innert Kürze hatte sich die Kälte auf unsere Füsse übertragen. Ausser Ruedy, der keine kalten Füsse kannte, trampelten wir fast eine Stunde umher, um die steifen Zehen zu erwärmen.
Gegen 18.30 Uhr war es dann soweit, dass wir mit schweren Säcken den untersten Steilhang angehen konnten. Immer dichter werdender Nebel hüllte uns ein. Ahnungslos stiegen wir dem nächsten Sturm entgegen.
Mit nie gekannter Härte erreichte uns dieser auch, als wir am Denali Pass ankamen. 35 Grad unter Null und Windstärken, die uns buchstäblich von den Beinen rissen, hinterliessen bei allen den Eindruck, den fürchterlichsten Ort bis anhin kennen gelernt zu haben. Mit klammen Fingern errichteten wir ein Depot und beschwerten mit herumliegenden Steinen die Skis und die voll gestopften Plastiksäcke. So schnell als möglich verliessen wir den unwirtlichen Ort. Ausser bei meiner Sturmbrille liefen bei den anderen die Gläser an, sodass meine Kameraden den gefährlichen Hang regelrecht hinuntertappen mussten.
Erneutes Pech verfolgte uns. Zweimal hintereinander löste sich Jürgs Steigeisenbindung. Etwas vom Unangenehmsten und Gefährlichsten, wenn man bei solchen Temperaturen die Handschuhe ausziehen muss, damit ein solches Missgeschick so schnell als möglich behoben werden kann. Um 22 Uhr kamen wir alle unversehrt im Lager 5 an. Die im Aufstieg eingesteckten Markierungsfähnchen trugen wesentlich zu einer sicheren Rückkehr bei. Hier unten war es ziemlich windstill, dafür komplett eingenebelt. Was das Wetter anbelangte, waren wir alle um eine Erfahrung reicher.
Dass der Sturm nachgelassen hatte, kam auch unserer Magengegend zugute, denn heute Abend konnte wieder einmal gekocht werden. Ich hackte noch eine halbe Stunde kleine Schneewürfel für Teewasser und Suppe, dann verzog auch ich mich in die Behausung. Nach 40 Stunden ununterbrochenem Wachsein, konnten wir endlich einschlafen.

Donnerstag, 3. Juni
Kräfteraubende Wartezeit

Während wir schliefen, hatte der Schneesturm wieder zugenommen. Die Windgeschwindigkeiten waren nicht mehr so heftig wie gestern, doch zum Draussen verweilen immer noch beträchtlich. Keuchenden Atems schaufelte Jürg und ich eine Stunde lang unser Lagerplateau und die Zelte wieder frei, die bis über die Hälfte von der weissen Masse eingemauert waren. Danach gab es Frühstück. Feiner Schneestaub löste sich dauernd vom Innenzelt und belegte den ganzen Innenraum mit seinem feuchtweissen Überzug. Sämtliche Kleidungsstücke mussten in Plastiksäcke verpackt werden, weil sie bei dem feuchten Klima und den tiefen Minustemperaturen sonst gefrieren würden. Als Reservewäsche könnten sie dann ihren Zweck nicht mehr erfüllen.
Bei solchen Stürmen waren wir von Michi und Ruedy im anderen Zelt praktisch isoliert, denn die entfesselten Elemente verursachten einen derart ungeheuren Lärm, dass wir glaubten, ein Schnellzug brause an uns vorbei. Zeitweise mussten wir regelrecht schreien, wenn wir uns etwas mitteilen wollten. Im Laufe des Nachmittags reparierten wir Jürgs Steigeisen und hofften, dass sie den kommenden Beanspruchungen standhalten würden.
Unterdessen wurde es 17 Uhr. Wir lagen in den Schlafsäcken und diskutierten über unsere noch bevorstehende Route, hauptsächlich über den Abstieg. Nach Plan hätten wir im Laufe des Abends den McConagall Pass erreichen sollen. Stattdessen sassen wir hier wie in einer Falle und warteten darauf, dass der Denali uns grünes Licht geben würde, seinen eisgepanzerten Gipfel zu besteigen. Das ganze Unternehmen wurde langsam zu einem Geduldspiel, denn der Marschtabelle gegenüber, gerieten wir allmählich in Zeitnot. Um 18 Uhr befreite Ruedy nochmals die Zelte vom weissen Mantel, der sich in kurzer Zeit wieder über alles gelegt hatte.
Wahrscheinlich wurde er bei dieser anstrengenden Tätigkeit von Petrus beobachtet, denn gleich danach liess der Schneefall nach. Sollte sich der Wettergott nun doch auf die Seite der Bergsteiger gestellt haben? Es machte jedenfalls den Anschein, denn nur noch böiger Wind und beissende Kälte liess der Sturm zurück, sonst war es wolkenlos und die Fernsicht wurde zusehends besser. Wir stiegen auf den Grat hinauf, schossen ein paar Fotos und verfolgten unsere bisherige Aufstiegsroute, die von diesem exponierten Punkt aus bis auf wenige Passagen überblickt werden konnte. Trotz des klaren Himmels verliessen wir bald darauf den grandiosen Aussichtshügel und verzogen uns unter die windgeschützte Nylonhaube.
Seit vierzehn Tagen waren nun Jürg und ich zusammen im Zelt. Keiner störte sich an der ständigen Anwesenheit des andern. Anfallende Arbeiten wurden ohne Nörgelei von demjenigen ausgeführt, der Lust dazu hatte, egal, ob dieser an der Reihe war oder nicht. Wir sprachen viel miteinander, doch ab und zu wollte jeder auch für sich sein. Das wurde vom anderen jeweils voll und ganz akzeptiert. Einen idealeren Zeltpartner konnte ich mir daher nicht vorstellen.

Freitag, 4. Juni
Gipfeltag

Um vier Uhr war ich munter und las 24 Grad Minus vom Thermometer ab. Ich drehte mich nochmals, lag allerdings unbequem, denn Innen- und Aussenschuhe, Handschuhe, Mütze etc. waren meine Schlafsackkumpane. Eine halbe Stunde später hörte ich Michi und Ruedy im Zelt diskutieren. Jürg schlief noch. Ich musste mal raus. Das Wetter war nicht besonders gut, aber im Vergleich zu den vorherigen Tagen absolut akzeptabel für einen Gipfelversuch. Zum Morgenessen gab es nur noch gefrorenes Walliserbrot und in heissem Wasser aufgelöstes Milchpulver. Der restliche Proviant war schon auf dem Denali Pass. Wir packten unsere Rucksäcke und säuberten die vereisten Zelte.
Um 9 Uhr waren wir abmarschbereit und zogen angeseilt gegen den Denali Pass los. Vor 12 Uhr waren wir oben angelangt und beschwerten mit Steinen unsere mitgebrachten Waren, die wir beim früher errichteten Depot verstauten. Ein Sack vom ersten Materialtransport her, war von Raben aufgepickt worden, aber leider, für die Raben, ohne etwas Essbares darin zu finden.
Wir machten uns weiter auf den Weg zum Gipfel. Auf einmal brach ich ein und steckte bis zu den Achseln in einer Spalte. Binnen ein paar Sekunden hatte ich mich hochgestemmt und stand wieder auf festem Boden. Auf halbem Weg wurden wir auf einmal eingenebelt und heftiger Wind kam auf. Ebenso wurde es kalt, sodass wir unter einen Eisabbruch standen, die Daunenjacken anzogen und etwas assen und tranken. Als wir über das Kahiltna Horn aufstiegen, blies uns ein kräftiger Wind entgegen. Leicht ansteigend ging es weiter, bis wir auf die linke Gratseite wechseln mussten. Durch ein Nebelfenster sahen wir einen Augenblick lang den Gipfel. Mit einem Schritt pro Atemzug kam uns Nordamerikas höchster Punkt immer näher. Noch eine leichte Gratkrümmung, dann standen wir um 15.45 Uhr auf 6194 Meter über Meer. Der Nebel verzog sich nicht mehr, sodass wir überhaupt keine Fernsicht geniessen konnten. Das Thermometer zeigte gnädige Minus 21 Grad.

Um 15.45 Uhr standen wir bei Minus 21 Grad auf dem Gipfel in 6194 Meter über Meer.

Was ich in diesem Moment empfand ist eigentlich das Gegenteil, was ich mir vorgestellt hatte. Kein Jubel oder ein überwältigendes Gefühl kam in mir auf. Nur eine tiefe Befriedigung, nach fünfzehn harten Tagen am Berg etwas erreicht zu haben, das Härte, Durchstehvermögen und Solidarität mit der Natur auszeichnet. Etwas hätte ich in diesem Augenblick gerne mitgeteilt, und zwar an dich liebe Ilse, an meine Eltern, an meine Geschwister und an alle meine Kameraden: wir sind alle vier wohlauf, haben aus eigener Kraft etwas erreicht und hoffen, euch alle möglichst bald gesund wieder zu sehen.
Nach ein paar Fotos ging es wieder abwärts. Es kam schon wieder Sturm auf. Als wir ohne Unterbruch den Denali Pass erreichten, fegte der Wind schon riesige Schneefahnen über die Grate. Beim Materialdepot füllten wir unsere Rucksäcke, die für so viel Gepäck viel zu klein waren, schnallten die Skis an und fuhren am Seil den Harpers Gletscher hinunter. Doch schon nach 50 zurückgelegten Höhenmetern passierte das Unheil. Durch Seilzug von hinten kam ich auf einer Mulde zu stehen und klack – genau bei der Bindung brach mein linker Ski entzwei. Sturmwind und Nebel nahmen uns für lange Zeit die Sicht. Wir beschlossen hier die Zelte aufzuschlagen, was uns bei diesem Sturm recht zu schaffen machte. Als endlich alles stand und verankert war, nahm der Orkan enorm an Heftigkeit zu. Im Schlafsack sitzend kochten wir unsere gefriergetrockneten Mahlzeiten. Jürg und ich glaubten nicht, dass wir den Morgen noch im Zelt erleben würden.

Samstag, 5. Juni
Bange Stunden

Fast die ganze Nacht über konnten wir kein Auge schliessen, so stark ging der Sturm. Fast unvorstellbar, dass er noch mehr zunehmen würde. Doch der Sturm nahm an Heftigkeit zu, und zwar enorm. Plötzlich gab es einen regelrechten Knall. Eine Sturmböe erfasste eine Ecke des Zelts und riss die Verankerung heraus. Dann wurde es hell. Das Überdach wurde abgetrennt und die Verbindungsstangen knickten. Hastig verpackten Jürg und ich alles Umherliegende, zogen im Eiltempo die Sturmbekleidung an und krochen unter der flatternden Plane des plattgedrückten Zeltes ins Freie. Michi hatte bereits die Verbindungsstangen entfernt, damit der Wind keine grosse Angriffsfläche mehr hatte.
Das Malheur passierte gegen Mittag. Um 13 Uhr fingen wir an einen Iglu zu bauen. Das bei 20 Grad Minus, heftigem Sturm und auf 5500 Meter über dem Meeresspiegel. Die oberste Schicht war nur verblasener Triebschnee, den wir nicht zu Blöcken sägen konnten. Als diese Decke weggeschaufelt war, ging die Mühsal los. Trapezförmig musste nun Block für Block aus dem hart gepressten Schnee gesägt und dann konisch aufsteigend an die Seitenwand gefügt werden. Immer wieder mussten die Blöcke herunter genommen und frisch eingepasst werden, damit keine allzu grossen Klaffen entstanden.
So ging das den ganzen Nachmittag, ohne Essen und Trinken. Der Sturm tobte weiter. Ruedy musste den ganzen Tag über in ihrem Zelt bleiben und sich mit dem ganzen Gewicht gegen die Verankerungen stemmen, damit der Sturm nicht auch noch dieses Zelt demolieren konnte.
Gegen 19 Uhr war der Iglu soweit fertig, dass Michi ins Zelt gehen konnte. Jürg und ich überhäuften die Schneehütte mit Schnee, damit sie dicht wurde. Danach schaufelten wir vom Eingang her einen zwei Meter langen Gang. Mit dem Überdach vom havarierten Zelt wollten wir der Eingang vermachen, denn die Sturmböen bliessen ganze Eimer voll Neuschnee ins Innere, der immer wieder mühevoll ausgeschöpft werden musste. Dann passierte das zweite Missgeschick. Eine Böe entriss Jürg den Nylonfleck und weg war er. Nun stand uns nur noch ein Zelt für den Abstieg zur Verfügung. Wir verschlossen den Eingang mit dem Hauptzelt und zogen mit unseren Habseligkeiten in das Eishaus, in dem es immer noch durch alle Ritzen stob. Mittlerweile waren wir mit einer zwei Zentimeter dicken Eisschicht überzogen.
Um 21 Uhr, nach acht Stunden Monsterarbeit, waren wir soweit eingerichtet, dass unsere zwei Kameraden ebenfalls einziehen konnten. Für vier Mann war der Iglu aber etwas zu klein. So ging die Schauflerei erneut los, bis schliesslich alle genügend Platz hatten. Dann musste gekocht werden. Als auch diese Zeremonie beendet war, konnten wir uns endlich ausstrecken. Mit Ekel krochen wir in die gefrorenen Schlafsäcke. Sämtliche nassen Sachen samt Schuhen mussten natürlich auch wieder mit hinein.

Sonntag, 6. Juni
Skireparatur im Iglu

Um solche extremen Höhen über längere Zeit unbeschadet überstehen zu können, ist genügend Flüssigkeit von höchster Wichtigkeit. Daher schmolzen wir Pfanne um Pfanne voll Eisbrocken, um möglichst viel Teewasser zu erhalten. Rohmaterial dazu war ja genügend vorhanden und Zeit dazu hatten wir auch. Die Wärme, die bei dieser stundenlangen Kocherei entstand, verwandelte unsere weisse Wohnung in eine gläserne Halbkugel. Wasser tropfte von der Decke und die Wände triefen. Wir tranken so viel Tee als möglich, doch musste diese Flüssigkeit auch wieder ausgeschieden werden. Damit wir während des Sturmes nicht immer raus mussten, füllten wir die leeren Alu-Beutel der Fertignahrung mit unserem Blaseninhalt. Nach ein paar Stunden konnten wir dann gefrorene Urinwürfel aus dem Zelt werfen.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir alle noch überzeugt gewesen, bei einer Wetterbesserung unseren Abstieg wie geplant auf der Nordseite fortsetzen zu können. Michi holte seine intakten und meine defekten Skier in das Iglu. Er war der bessere Skifahrer und käme wahrscheinlich mit einem Kurzski besser zurecht als ich. Pustend passte Ruedy daraufhin die Bindungen meiner Skier auf Michis Schuhgrösse an und umgekehrt seine Bindungen auf meine Schuhe. Bei meinem gebrochenen Ski wusste er die mit Araldit eingeleimten Schrauben ausdrehen und nach dem Versetzen der Bindung wieder festziehen. Eine Arbeit die zu Hause in Kürze erledigt gewesen wäre, kostete ihn hier den ganzen Nachmittag.
Ich kroch zum Ausgang, hob den flatternden Vorhang und spähte nach draussen. Die Sicht betrug knappe zwei Meter und das Thermometer zeigte Minus 20 Grad an. In periodischen Abständen wirbelte der Sturmwind Schneefahnen in die Höhe. Davon wurde ständig ein Teil des feinen Schneestaubes durch den undichten Eingang ins Iglu geweht und bedeckte alles. Am meisten schadete das den Schlafsäcken, die bei diesen Widerwertigkeiten überhaupt nicht mehr trocken wurden.

Montag, 7. Juni
Überschreitung oder nicht?

Um fünf Uhr schaute Michi nach dem Wetter. Tagwache brauchte es keine, denn geschlafen hatten wir sowieso kaum. Das Sturmtief hatte sich während der Nacht etwas aufgelöst, dass wir den Abstieg wagen konnten. Jürg litt an gefühllosen Zehen, also höchste Zeit unseren hochgelegenen Aufenthalt abzubrechen. Froh waren wir natürlich alle, diesen aufgezwungenen Zwischenhalt im engen, feuchten Iglu aufgeben zu können. Seit sieben Tagen hielten wir uns ständig über 5200 Meter über Meer auf, was für den Körper auch ohne Anstrengung nicht unbedingt von Vorteil ist. Zudem ging die Verpflegung langsam zur Neige.
Michi gab Jürg den Vorrang zur Entscheidung für die Abstiegsvariante. Zu seinem Glück wurde ihm der Schiedsspruch abgenommen, denn im Nordosten braute sich erneut ein Sturm zusammen. Aber auch ohne diese aufkommende Naturgewalt wäre die Überschreitung in Frage gestellt gewesen, denn der unbändige Orkan der letzten Tage stellte durch seine Unmengen von Neuschnee ein gefährliches Hindernis dar. Die Chance, ohne Absturz bei solchen Verhältnissen über die Karstens Ridge zu kommen, wäre fast Null gewesen. In diesem Fall blieb also nur der Abstieg über unsere Aufstiegsroute übrig.
Somit war die ganze Materialschinderei umsonst gewesen. Wenn wir geahnt hätten, dass wir wieder zum Basislager zurückkehren würden, hätten wir beim Aufstieg Materialdepots erstellt und wären mit immer leichter werdendem Gepäck und geringerem Energieaufwand in höhere Regionen vorgestossen. So aber hatten wir immer das gesamte Material mitgeschleppt, was enorm Kraft und Zeit kostete.
Bis alles zusammengepackt und wir angeseilt zum Abmarsch bereit standen, wurde es halb zehn Uhr. Dann verliessen wir unser Eishaus, das uns zwei Tage und Nächte vor dem Sturm Schutz bot. Ein grimmiger Wind fegte über den Denali Pass, den wir eine halbe Stunde später überschritten. Die Vorläufer des neuen Sturms hatten uns bereits erreicht und raubten uns vollends die Sicht. Schwerfällig durch unser Übergewicht, das wir geladen hatten, traversierten wir den äusserst heiklen Lawinenhang gegen Lager 5. Der reichliche Neuschnee, der diese Flanke bedeckte, hinderte uns jedoch keineswegs an einem zügigen Abstiegstempo, denn wir wollten und mussten so schnell als möglich runter. Jürg rutschte einmal aus, konnte aber durch meinen Seilzug blitzartig aufgefangen werden. Ohne grössere Schwierigkeiten verliefen die weiteren Passagen über den Grat. Mit jedem Schritt näherten wir uns lebensfreundlicheren Zonen. Endlich war der Steilhang zu Ende und durch die auslaufende Mulde schnürten wir Lager 4 entgegen.
Hier herrschte ein reger Betrieb. Deutsche, Japaner, Australier, Franzosen und weiss der Kuckuck woher die Bergsteiger alle kamen, zogen sich während der lang andauernden Schlechtwetterperiode bis auf diese Höhe zurück oder kamen von unten her bis hier hinauf.
Zuerst entledigten wir uns von den schweren Säcken und seilten uns los. Dann ging Jürg ins Medizinzelt, um seine Zehen untersuchen zu lassen. Gott sei Dank wurden keine Erfrierungen, sondern lediglich starke Durchblutungsstörungen festgestellt, die bei einer „normalen“ Lebensweise schnell wieder regeneriert werden. In der Zwischenzeit unterhielt ich mich mit Peter Habeler, der als Bergführer mit dem Deutschen Alpenverein unterwegs war. Von ihm erfuhr ich auch, wie es ihnen im Lager 5 beim Versuch den Gipfel zu besteigen ergangen war.
Es war gerade 16 Uhr als wir uns wieder anseilten und den Abstieg fortsetzten. Kaum 50 Meter unterhalb des Lagers fing es an zu schneien. Wir hofften, vom Windy Corner her die Skier benützen zu können, doch der Gletscher war bis an den letzten Steilhang vor Lager 3 komplett blank. Also mussten wir zu Fuss weiter und die Holzlatten noch drei Stunden länger buckeln.
Im Lager 3 empfing uns Rolf Haas von Eiselin Sport aus der Schweiz mit seinen drei Kameraden. Er bot uns eine Schale heisse Ovomaltine an, etwas vom Besten, das mir jemals durch die Kehle geronnen ist.
Ab dieser Stelle schnallten wir die Ski an und fuhren so gut es ging durch dichten Nebel zwischen mächtigen Spalten dem Lager am Kahiltna Pass zu. In diesem Camp trafen wir auf einen Teil der deutsch-österreichischen Gruppe, die hier bei heftigem Schneetreiben gerade ihr Nachtlager einrichteten. Auch für uns gab es bei diesem Nebel und Schneefall kein Weiterkommen mehr für heute. So beschlossen auch wir hier zu nächtigen. Ruedy, Jürg und ich bleiben in unserem Zelt, Michi fand für diese Nacht bei zwei Österreichern im Zelt Platz. Erst um halb ein Uhr morgens kamen wir in die Schlafsäcke, die so abweisend gefroren waren, dass wir nur der Müdigkeit wegen hinein schlüpften.

Dienstag, 8. Juni
Ankunft im Basislager

Von allen die übernachteten waren wir die letzten die aufbrachen. Ohne Frühstück ging es auf Skiern talwärts. Durch dichten Nebel zogen wir unsere Spur durch die weiten Flächen, die uns im Aufstieg schon endlos vorkamen. Für eine Abfahrt reichte die Steilheit nicht aus, aber immerhin ging es sanft und stetig abwärts. Dreimal mussten wir anhalten und warten, bis der Nebel sich lichtete und wir die Richtung neu ausmachen konnten.
Ab Lager 2 wurde es heller. Von da an konnten wir es durch den metertiefen Neuschnee auch etwas laufen lassen. Gegen 13 Uhr hatten wir den tiefsten Punkt erreicht. Nun hiess es nochmals die Steigfelle aufkleben. Nach einer Stunde trafen wir schweissgebadet im Basislager ein, wo uns Michi, der vorausgegangen war, mit einem kühlen Bier empfing.
Auch hier herrschte Rummelplatzbetrieb. Die meisten Anwesenden warteten auf besseres Wetter, um ihre erste Aufstiegsetappe zu beginnen oder wie wir jetzt, auf ein bestelltes Flugzeug für den Rückflug in die Zivilisation. Im Laufe des Nachmittags kam die Funkmeldung, dass unser Pilot Jim mit seiner Cessna Schwierigkeiten habe und heute nicht mehr starten könne. Wir wurden zur Talkeetna Air Taxi umgebucht, mussten aber auf der Warteliste hinten anstehen. Das bedeutete, dass wir frühestens morgen rausfliegen könnten.
Wir stampften einen Platz und richteten uns für die kommende Nacht ein. Der Nebel verdichtete sich wieder. Frances meldete, dass der Flugverkehr komplett eingestellt werden musste. Mit zunehmender Wetterverschlechterung schwand auch die Hoffnung, in nächster Zeit von hier fort zu kommen.

Mittwoch, 9. Juni
Die Verpflegung geht zu Ende

Jürg kam mit einer Überraschung ins Zelt zurück. Von Frances bekam er verschiedene Esswaren. Kurz darauf erschien auch noch Nick Parker, ein Alasker Bergführer, mit einem Sack Kakaopulver. Es hatte sich herumgesprochen, dass den Schweizern die Verpflegung ausging. Für den heutigen Tag war also gesorgt. Neben all dem Erfreulichen gab es aber auch noch etwas Betrübliches an diesem Morgen – es schneite nämlich schon wieder. Die Aussicht auf Flugwetter war somit gering.
Ich wollte gerade das Frühstück zubereiten, als Frances uns bat, die Landepiste mit den Skier zu präparieren. Wir zogen uns an und prettelten die fast einen Kilometer lange Landebahn. Der Schneefall war inzwischen in Regen übergegangen und unser Hunger wurde immer grösser. Bevor wir total durchnässt waren, zogen wir uns ins Zelt zurück und übten an unserer Kochkunst. Frances und Brian Okonek beschenkten uns noch einmal mit einer Tasche voll Lebensmittel, die wir dankend entgegennahmen. Wir konnten uns nicht erinnern, früher schon jemals einen solchen Appetit verspürt zu haben. Ununterbrochen bewegten sich unsere Kaumuskeln drei Stunden lang, bis sich der Magen schliesslich weigerte, noch weitere Happen aufzunehmen. Halb erschöpft lagen wir danach auf dem Schlafsack, um uns von diesen „Strapazen“ zu erholen. Die ungewohnte Wärme und das gleichmässige Rieseln auf der Zeltplane liessen uns einschlummern.
Feuer! Feuer! – rief plötzlich jemand in die dämmrige Nacht hinaus. Jürg öffnete den Reissverschluss. Drei Meter neben uns schlugen lodernde Flammen in die Höhe. Durch eine Unachtsamkeit mit dem Benzinkocher fing das Tunnelzelt unseres Nachbars Feuer. Ausser ein paar ausgebrannten Löchern und einem riesigen Schrecken für die drei Insassen, war aber nichts passiert.
Es ging gegen Mittenacht zu. Trotz der späten Stunde konnte ich meinen Tagebuchbericht ohne Taschenlampe schreiben.

Donnerstag,10. Juni
Jürg auf Futtersuche

Um halb acht Uhr teilte uns Frances mit, dass die K2 in Talkeetna gestartet sei. Im Eiltempo räumten wir die Sachen zusammen, um bereit zu sein, wenn der rote Vogel auftauchen würde. Der Himmel klarte über Nacht auf, doch als wir ohne Morgenessen neben der Piste warteten, fing es wieder an zu schneien. Das Wetter stellte sich erneut gegen uns. Die beiden Piloten, die in Talkeetna gestartet waren, kamen wegen einsetzendem Schneefall nicht durch und mussten auf halber Strecke wieder umdrehen.
Unsere Zelte hatten wir zum Trocknen stehen gelassen. Wir mussten also nur die Rucksäcke wieder auspacken. Unterdessen wurde es Mittag. Unser Lebensmittelvorrat war erneut auf ein Minimum geschrumpft. Ausser Studentenfutter, das wir drei Wochen lang als Zwischenverpflegung mitführten und ein paar Milchpulvertüten, war von unserer Verpflegung nichts mehr übrig. Jürg versuchte bei den Bergsteigern im Camp irgendetwas Essbares zu ergattern – und hatte auch Erfolg. Kartoffelstock und Speck brachte er als Ausbeute mit. Dazu kamen noch zwei Freeze Dried von Stephenson, der Nachbar mit dem angebrannten Zelt. Es ging überhaupt ein Tausch und Handel über die Gletscherbühne. Unter anderem verkaufte Michi seinen Fotoapparat und ich meine Skibindung.
Das Wetter blieb konstant schlecht, der Himmel wolkenverhangen und immer wieder schneite und regnete es. Alles war feucht und wollte nicht mehr trocknen. Unsere einzige Beschäftigung bestand aus Kochen, und dies auch nur, wenn etwas Essbares zum Zelt herein flatterte. Ausser herumliegen und uns jederzeit bereithalten, falls doch ein Flugzeug durchkommen sollte, konnten wir also nichts tun. Der Nachholbedarf an Essen machte sich nun immer mehr bemerkbar, daher ging Jürg erneut auf „Einkaufstour“ und kam mit einer Tasche voll Verpflegung zurück. Zwischendurch schaute Frances vorbei und sagte, dass wir uns ab drei Uhr bereitstellen sollten, denn bei einem Zwischenhoch würde Jim zu Hause sofort starten.

Freitag,11. Juni
Ruedy und Michi können rausfliegen

Um zwei Uhr weckte mich das Flattern des Aussenzelts aus meinem Dämmerschlaf. Der Wind hatte eingesetzt und leise rieselten kleine Schneekristalle über die Kuppel. Ein eher schlechtes Omen für die Ankunft eines Flugzeugs, das laut Frances in drei Stunden landen sollte. Das Barometer hatte seit unserer Ankunft hier im Basislager den tiefsten Stand erreicht. Es konnte also nur noch besser werden.
In den frühen Nachmittagstunden zeigte sich ab und zu die Sonne. Die frisch verschneite Landschaft glitzerte wie in einem Märchenland. Motorengeräusch – was für eine Maschine würde es sein? Pech für uns. Eine Pilatus Porter wurde sichtbar und setzte in einer ausgedehnten Schlaufe zur Landung an. Zwei Ärzte die zur Forschungsgruppe gehörten stiegen aus. Ein Amerikaner und zwei Koreaner, die an starken Frostbeulen litten, wurden abgeholt und als sich ein Nebelfenster öffnete, ausgeflogen. Für uns gab es momentan nur noch ein Thema. Wenn dieser Pilot durchkam, wo blieb dann Jim? Eine Antwort darauf wusste niemand.
Der Nachmittag verging bei vollständiger Funkstille. Um 19 Uhr durchbrach plötzlich das unverkennbare Knattern einer Cessna die Stille. Und wirklich landete kurz darauf Jim auf der holprigen Piste. Michi, Ruedy und ein Amerikaner fanden als erste in der Maschine Platz. Jürg und ich warteten den nächsten Flug ab. Jim war in Eile, denn er glaubte, dass er diesen Abend noch einmal fliegen könnte. Ein letztes Winken, und schon brauste er mit unseren Kameraden davon. Wir trafen alle Vorbereitungen für unser Wegkommen. Das ganze Gepäck stellten wir nahe an den Pistenrand und warteten. Vergebens, denn der Wettergott stellte sich erneut gegen uns. Es fing an zu schneien und innert Minuten war alles eingenebelt. Missmutig packten wir alles wieder aus und fingen an zu kochen, um wenigstens das lästige Hungergefühl etwas zu verdrängen.

Samstag,12. Juni
Warten auf Flugwette
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Für die Hin- und Rückreise nach Alaska hatten wir einen Apex Flug gebucht, d.h., dass wir zu Hause ein paar Wochen vor dem Abflug bereits das Rückreisedatum angeben mussten. Dieser Termin war heute abgelaufen. Mit ein bisschen Glück könnte es für Michi und Ruedy gerade noch gereicht haben. Frances geisterte in der Gegend umher und gab mir von weitem zu verstehen, dass die K2 heute fliegen werde. Zum vierten Mal räumten wir unseren Lagerplatz zusammen und stellten uns und die Ausrüstung für den Abflug bereit. Was hatten wir bloss angestellt, dass sich das Wetter derart gegen uns verschwor, denn es fing erneut an zu schneien. Um uns ein bisschen aufzuheitern, lud uns Nachbar Stephenson in sein neu gebautes Iglu zu frischen Pancakes und Tee ein.
Zunehmend blau werdender Himmel kündigte eine vorübergehende Wetterbesserung an. Von dieser Aufhellung musste auch Jim erfahren haben, denn eine Stunde danach landete er hier. Unsere Freude darüber war aber von kurzer Dauer. Dieser Flug galt einer anderen Gruppe, die auch schon einige Tage auf den Abtransport wartete. Als nächste wären nun aber ganz sicher wir an der Reihe, wurde hoch und heilig versprochen. Dass es heute nicht mehr möglich wäre, besiegelte der neu einsetzende Schneefall.

Der Berg liess uns frei
Um sechs Uhr war es bereits wolkenlos und die ersten Sonnenstrahlen züngelten über den Grat. Frances funkte. Für uns blieb nur zu hoffen, dass sich die Piloten nicht einen freien Sonntag gönnen wollten. Jim kannte anscheinend keine Fünftagewoche, denn laut Funkspruch war er soeben in Talkeetna gestartet. Als die Cessna am Fusse des Mt. Foraker sichtbar wurde, sassen wir zwei bereits zwei Stunden am Pistenrand. Um sicher zu gehen, dass die Landung auch klappen würde, überflog Jim die Landebahn einmal im Tiefflug bevor er aufsetzte.
Endlich waren wir startklar. Wir überflogen die Alaska Range und schauten auf eine Welt von Gipfeln, Gletschern und Graten. Ein Naturbild, das uns ewig in Erinnerung bleiben wird. Als wir eine halbe Stunde später wieder festen Boden unter den Füssen hatten, konnten wir uns am Grün und an den anderen Farben, die sich die Natur in den letzten Wochen zugelegt hatte, kaum satt sehen. Jim führte uns zu seinem Blockhaus, wo uns kurz darauf Michi aus der Schweiz anrief. Er hatte unsere Angehörigen verständigt und mit der Versicherung unsere verspätete Rückreise in die Wege geleitet.
Die Wartezeit nahm ihren Fortgang. Als wir bei Werner Ruchenstein im Swiss Alaska Inn eintrafen, war gerade Stromausfall. Und weil das Wasser mit elektrischen Pumpen gefördert wird, fiel auch die ersehnte Dusche aus. Dafür genossen wir das Essen, das uns Werner an seinem Ruhetag auf dem Gaskocher zubereitete. Um 17 Uhr mussten wir an der Bushaltestelle sein. Mit reichlicher Verspätung kam der Reisecar, der uns in zweieinhalbstündiger Fahrt nach Anchorage brachte.
Im Hotel Inlet Inn nisteten wir uns ein. Nach fast vier Wochen konnten wir uns erstmals wieder richtig waschen und kämmen. Lange stand ich vor dem Spiegel und betrachtete das fremde Gesicht, das mir prüfend entgegen blickte. Nach einem Nachtessen, von dem wir in letzter Zeit öfters geträumt hatten, legten wir uns mit schweren Bäuchen in die Betten und genossen das gepflegte Schlafen.

Montag,14. Juni
Einkaufsbummel in Anchorage

Heute stand Einkaufsbummel auf dem Programm. Den ganzen Morgen über schnüffelten wir in Bergsportgeschäften herum, die teilweise so gross sind wie bei uns ein Supermarkt. Bei den Souvenirläden sah es ein bisschen anders aus. Meistens waren es Trödlergeschäfte, die keine echten Handarbeiten anboten. Nach mehreren Fehlversuchen fanden wir uns damit ab, dass wir ohne Reiseandenken heimreisen würden.
Übrig geblieben war noch die Kartenschreiberei. Kurz vor Ladenschluss betraten wir eine Buchhandlung und deckten uns mit Denali Berichten und Ansichtskarten ein. Ich kaufte zwanzig gleiche Karten. Schmunzelnd meinte der Verkäufer, ob ich denn so oft auf dem Gipfel gewesen sei. Wenn der gewusst hätte was es brauchte, um nur einmal hinauf zu kommen. Bis ich alle Karten geschrieben hatte, war es so spät, dass auch dieser Tag auf der Warteliste gestrichen werden konnte.

Dienstag,15. Juni / Mittwoch 16. Juni
Heimreise

Von der Versicherung her wussten wir, dass unser Flug heute auf 11.30 Uhr gebucht war. Schon früh standen wir unter der Dusche und genossen anschliessend zum letzten Mal das grossartige Frühstück. Die Denali Besteigung hatte mich acht Kilo Körpergewicht gekostet, so war es nicht verwunderlich, wenn die Freude am Essen schon mit der ersten Tagesmahlzeit begann. Wir mussten noch Briefmarken einkaufen und kamen zufällig an einem Workshop vorbei, wo ich in letzter Minute einige Eskimo Andenken kaufen konnte. Nun war alles erledigt.
Per Taxi ging’s zum Flughafen, wo die Warterei weiter ging. Endlich nach zwei Stunden waren wir beim Check Inn durch. Unser Gepäck wurde einer derart gründlichen Kontrolle unterzogen, dass der vollbesetzte Jumbo deswegen über eine halbe Stunde später starten konnte. Wie an einem hundert Meter Lauf sprinteten wir durch die Gangway, an deren Ende wir vom Flugpersonal sehnlichst erwartet wurden. Mein Platz war schon besetzt und für eine andere Sitzgelegenheit bestand vorläufig keine Aussicht. Als wir schon geraume Zeit in der Luft waren, wurde für mich dann doch noch ein Sitz frei.
Ich schaute durchs Fenster. In der Ferne über einer Wolkenbank ragte der Gipfel des Mt. McKinley in den blassen Himmel. Unbeugsam und mächtig wie ein Regent, der über das wilde Naturreservat Alaskas wacht.

Persönliche Ausrüstungsliste

Kleidung
1 Windschutzanzug (Core-Tex Jacke mit Kapuze und eine Hose)
1 Faserpelzjacke
1 Daunenjacke mit Kapuze
1 Rollkragenpulli Wolle
1 Hemd Baumwolle
1 Kletterhose lang Wolle
2 Paar Kniesocken Wolle
2 Paar Fausthandschuhe Wolle
1 Paar Fausthandschuhe Pelz
1 Paar Überzugsfäustel Leder
1 Paar Fingerhandschuhe Wolle
1 Paar Fingerhandschuhe Seide
1 Stirnband
1 Sturmhaube Seide
1 Mütze ohrenschützend
1 Mütze Roger Staub
4 Taschentücher
2 Unterhosen kurz Baumwolle
2 Unterhosen lang Baumwolle
2 Unterleibchen lang Baumwolle
1 T-Shirt Baumwolle
1 Paar Daunenfinken
1 Schlafsack Daunen 1 Kilo
1 Schlafsack Hollofil-Dacron
1 Schlafsackhülle Core-Tex
1 Paar Tourenskischuhe Leder (Ortler Duplex)
1 Paar Überschuhe Lafuma
1 Gletscherbrille mit Etui
1 Skibrille mit Doppelverglasung
1 Paar Hosenträger

Gebirgsausrüstung
1 Rucksack Karrimor Huston Alpinist 60 Liter
2 Isolationsmatten Karrimat
1 Klettergurt komplett
1 Eispickel
1 Paar Steigeisen mit Bindung
3 Karabiner
1 Rohreisspirale
1 Paar Steigbügel Jümar
1 Lawinenschaufel
1 Paar Holzski mit Bindung Silvretta 300
1 Klebfell
1 Paar Harscheisen
2 Skiriemchen Gummi
1 Paar Skistöcke
1 Kompass
1 Karte Mt. McKinley 1:25000
1 Thermosflasche unzerbrechlich
1 Essgeschirr Schüssel mit Deckel Thermoplast
1 Essbesteck Gabel und Löffel
1 Sackmesser
1 Armbanduhr
1 Schachtel Zündhölzer
1 Gasfeuerzeug
1 Kreuzschraubenzieher
1 Schlüssel zu Silvretta 300
1 Flachzange klein
1 Rolle Isolierband
1 Zahnbürste
1 Tube Zahnpasta
1 Handtuch klein
1 Rolle WC Papier
1 Tube Shampoo
1 Nagelknipser
1 Kamm unzerbrechlich
1 Bleistift mit Gummi
1 Notizbuch
2 Schuhnestel für Innenschuhe
3 Rebschnüre je 1 Meter lang
1 Haut- und Lippenschutzstift
1 Reisepass
1 Fotoapparat Rollei 35 SE
20 Filme Kodachrome (10 Stk. 15 DIN / 10 Stk. 19 DIN)

Gemeinschaftsmaterial
1 Zelt North Face VE 24
1 Zelt North Face VE 23
2 Benzinkocher MSR G/K
2 Kunststoffschlitten
1 Aluminiumschaufel gross
1 Bergseil Ø 11 mm, 50 m lang
3 Benzinkanister (3 Gallonen) Reinbenzin
1 Schneesäge
1 Höhenmesser 6000 Meter
1 Thermometer +50 bis -45 Grad
3 Rebschnüre Ø 6 mm, je 6 m lang
1 Bratpfanne Teflon
1 Bratenschaufel
2 Aluminium Pfannen
2 Aluminium Becher

Verpflegung für 4 Personen
72 Freeze Dried (Nachtessen für 18 Tage)
120 Instant Suppen
2 Büchsen Bouillon je 1 Kilo
50 Liter Milchpulver
4.5 Kilo Zucker
5 Kilo Frühstücksflocken
60 Liter Getränkepulver
250 Teebeutel
2 Gläser Kaffee gefriergetrocknet
8 Pakete Cookies (Gebäck)
24 Frischeier
6 Portionen Rohessspeck
6 Walliserbrote
1 Kilo Käse Sbrienz
84 Lunchs für 21 Tage: 84 Schokoriegel, 84 Oat Bars, 10 Kilo div. Nüsse und Trockenfrüchte

Persönliche Apotheke

Schmerzmittel: Cibalgin, 20 Tabletten, Treupel, 10 Tabletten
Antibiotika : Bactrim forte, 10 Tabletten
Desinfizierung: Merfen, 50 ml Fläschchen, Vita-Merfen Salbe, 20 g
Magen-Darmmittel: Andursil, 8 Tabletten, Mexaform, 20 Tabletten, Spasma-Canulase, 20 Tabletten
Beruhigungsmittel: Valium 5, 25 Tabletten
Fieberblasen: Viru-Merz Salbe, 10 g
Atmung/Höhe: Cly-Coramin, 15 Lutschtabletten, Coramine R, 10 Tabletten
Insektenmittel Parapic, 3 ml Fläschchen, Benerva, 20 Tabletten, Anti Insect, 70 ml Fläschchen

Sonstiges: Schnellverband, 30 cm Streifen
Verbandstoffe und Elastische Binden, 3 Stk.
Kurotex, 4 Strips
1 Rettungsdecke
1 Schere
1 Pinzette
Würfelzucker 6 Stück

Nachtrag
Michael Boos kam am 29. Juli 2005 bei der Besteigung des 3954 Meter hohen Mount Robson in den kanadischen Rocky Mountains in einer Eislawine ums Leben.