Wer kurz gehaltene Texte liebt, hat mit diesen heiteren und besinnlichen Anekdoten und Kurzgeschichten die passende Lektüre bei der Hand. In kerniger Sprache werden Begebenheiten aus dem Leben von einst und jetzt geschildert, die sich ausgezeichnet zum Vortragen sowie als ganz persönliches Lesevergnügen eignen.
Teurer Eigenverlag
Weil sich kein Verlag für sein Manuskript interessierte, entschloss sich der Autor, sein erstes Buch im Eigenverlag herauszugeben. Als er von einem Bekannten gefragt wurde, ob er bereits etwas verkauft habe, antwortete er: „Ja, die Stereoanlage und die Briefmarkensammlung.“
Die beiden Angeber
Ein Esel begegnete einem Wurm.
„Wer bist denn du?“, wollte der Esel wissen.
„Ich bin eine gefährliche Giftschlange“, entgegnete der Wurm.
„Und wer bist du?“, fragte der Wurm danach.
„Ich bin Pegasus, das geflügelte Pferd“, antwortete darauf der Esel.
Abwägung
Neulich nahm ich eine Weinbergschnecke von der Hauptstrasse und legte sie daneben ins Gras. Möglicherweise habe ich dadurch ihr Weiterleben gesichert, andererseits ihr aber einen Teil des Lebensweges geraubt.
Anrüchiger Frauenschwarm
Lange Zeit rannten ihm die Frauen nach. Als es ihm zu lästig wurde hörte er auf, ihnen die Handtasche zu stehlen.
Bereits
„Bitte setzen Sie sich“, sagte der Richter. „Danke“, sagte der Angeklagte, „ich sitze bereits“.
Ansichtssache
„Wie geht es dir?“, fragte ich einen modisch gekleideten jungen Mann, der in seinem Sportwagen sass. „Ich esse wie ein Schwerarbeiter, trinke über den Durst, rauche wie ein Schlot, habe fast keine Bewegung, bin übergewichtig und schlafe viel zu wenig. Es geht mir miserabel“, antwortete er bissig.
Ich fragte eine mittellose, ältere Frau im Rollstuhl, wie es ihr gehe: „Gut“, sagte sie freundlich lächelnd, „danke für die Nachfrage, es geht mir gut.“
Rezept aus der Medienküche
Man nehme einen Schnappschuss von einem hochrangigen Herrn und ein Bild von einer frivolen Dame, verbinde die beiden mittels Foto Shop zu einer eindeutigen Pose, hänge eine unseriöse Bildlegende an, würze den Text mit einer Prise journalistischem Hochmut – und fertig ist das Gerücht.
Ausserirdischer Trost
Die Erde trifft den Mars und fragt ihn, weshalb er so verärgert sei. Der Mars antwortet mürrisch: „Ich glaube, ich bekomme Homo Sapiens.“ Darauf antwortet die Erde lächelnd: „Das hatte ich auch! Mach dir deswegen keine Sorgen, das geht schnell vorbei!“
Doppelt genäht hält besser
Zwei zerstrittene Nachbarn bauten zwischen ihren Häusern eine hohe Mauer. Einer hat jetzt keine Sonne mehr und der andere keine Aussicht. Dafür ist der Streit intensiver.
Da habe ich alt ausgesehen
Eines Morgens, ich war um die vierzig, schritt ich während der Pausenzeit über einen Schulhausplatz. Vor einem Durchgang hockten ein paar Schüler und assen ihr Znünibrot. Macht Platz, rief einer, und lasst den alten Mann durch. Der Meinung, ich sei in den besten Jahren, ging auch ich zur Seite, um den alten Mann vorbeizulassen. Aber hinter mir kam keiner.
Das Los der purpurnen Schönheit
Eine Ackerwinde umrankte einst eine Rose. Bei Tag und sogar bei Nacht verhöhnte, beschimpfte und verwünschte die hoch gezüchtete Blume das anspruchslose Unkraut. An einem strahlend schönen Morgen, der Tau blinkte silbrig auf der purpurnen Rosenblüte, kam die Hausherrin, freute sich ob dieser Pracht, zückte die Schere und schnitt der langstieligen Schönheit den Kopf ab. Die unbeachtete Winde aber verbreitete sich im Laufe der Zeit dermassen, dass sie kein Gärtner mehr ausrotten konnte.
Der Pantoffelheld
Als er wieder einmal die gesamte Hausarbeit erledigt hatte, sagte er zu seiner Frau: „Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, möchte ich eine Frau sein und das Glück haben, mit einem Mann verheiratet zu sein, wie ich einer bin.“
Darauf antwortete die Gemahlin augenzwinkernd: „Ja, so ein Schwein muss man eben haben.“
Der Vergleich
Auf die Frage, wie der Aktienmarkt funktioniere, gab ein Vater seinem Sohn folgende Antwort: „Kaufe dir ein Huhn und einen Hahn“, dann hast du Eier, die ausgebrütet werden können. Die Küken werden wieder Eier legen und so kannst du fortan Hühner und Eier verkaufen. Bald einmal hast du eine Hühnerfarm, erweiterst sie auf zwei, drei und noch mehr. Damit wirst du viel Geld verdienen. Kommt aber ein Hochwasser und überschwemmt dir die ganze Anlage, wäre es besser gewesen, du hät-test Fische gezüchtet.“
Ernüchterung
Ein Bergfreund liess sich in einem Fachgeschäft über die neuste Allwet-terbekleidung beraten. Frohgemut kehrte er nach Hause zurück, führte seiner Frau die topmodische Ausrüstung vor und lobte obendrein das Fachwissen des Verkäufers. Neu eingekleidet begab er sich auf eine Bergtour. Unterhalb des Gipfels überraschte ihn ein Unwetter. Durchnässt und schlotternd brummte er vor sich hin: „Dieser Verkäufer! Das hat er nun davon mit seiner Wortgewandtheit und seinen Schönwetter Theorien, dass ich mir hier oben fast den Tod hole“.
Der ungenormte Engel
Kürzlich wurde ein Engel nach Europa entsandt, um den Menschen Frie-den und Wohlstand zu bringen. Unverrichteter Dinge stand er kurz darauf wieder vor der Himmelspforte und gab Petrus zu Protokoll, dass er von der Zollbehörde nicht eingelassen wurde, weil seine Flügelspannweite nicht der EU-Norm entsprach.
Die weise Schnecke
Beim Eindunkeln begegnete eine Maus einer Schnecke.
„Wo willst du denn bei so später Stunde noch hin“, fragte die Maus.
„Ich will mich bei den Enten entschuldigen, die haben uns nämlich mit dem Tod gedroht, als sie bemerkten, dass meine Kinder über ihren Salat hergefallen sind“, antwortete die Schnecke.
„Mit deinem Tempo wirst du aber erst morgen früh beim Teich sein“, gab die Maus zu bedenken.
„Das ist gut so“, erwiderte die Schnecke, „wenn sie darüber geschlafen haben, ist ihre grösste Wut vorbei“.
Abbezahlte Verwandtschaft
Einst musste ein Bauernsohn beim Pfarrer antreten, weil er eine Ver-wandte geschwängert hatte. Aber er liebe seine Cousine und wolle sie heiraten, beteuerte der junge Mann. Damit sei die Sünde nicht aus der Welt geschafft, antwortete der Pfarrherr darauf, da müsse er schon eine saftige Busse bezahlen. Als der Jungbauer seinen Obolus geleistet hatte, fragte er den Pfarrer: „Sind wir jetzt nicht mehr miteinander verwandt?“
Gleiche Meinung
Ein beharrlicher Bankdirektor sagte zu einem Baumeister, der tiefe Zin-sen für einen Kredit forderte: „Wenn ich nicht Bankier wäre, würde ich Häuser bauen!“
Worauf der Baumeister antwortete: „Wenn Sie nicht Bankdirektor wären, täte ich das auch.“
Halbherzige Dankbarkeit
Überglücklich, dass er nach einer Operation endlich wieder schmerzfrei war, sagte er zu einem Bekannten: „Wenn ich eine Million hätte, würde ich sie dem Chirurgen geben, der mich operiert hat“.
„Gib ihm doch etwas von dem, was du hast“, entgegnete darauf der Bekannte.
„Du hast vielleicht Ideen“, brauste der Geheilte auf, „wovon soll ich dann leben?“
Rentnerzeit
„Früher, als eure fünf Kinder noch zuhause waren, hattet ihr immer Zeit. Jetzt wo alle ausgeflogen sind, seid ihr dauernd gestresst.“
„Damals hatten wir wenig Geld, kein Auto, keine Handys und keinen Hund.“
Leere Worte
Ein Schwätzer, der lange Zeit auf seinen Kumpel eingeredet hatte, fragte in einer Atempause: „Hoffentlich gehe ich dir mit meinem Gerede nicht auf die Nerven?“ „Keineswegs“ antwortete der Gefragte, „ich habe dir überhaupt nicht zugehört.“
Lieber tot als etwas geben
Ein Geizhals fiel in einen reissenden Fluss. Ein beherzter Wanderer sprang in die Fluten um ihn zu retten. Nahe bei ihm rief er ihm zu, er soll ihm die Hand geben. Der Geizkragen winkte ab und versank.
Mehr fürs Gleiche
Als er seine Frau darauf ansprach, dass sie seit der Heirat um einiges an Umfang zugenommen habe, antwortete die Gemahlin selbstsicher: „Sei doch froh, nun hast du für das Gleiche sogar mehr.“
Nichts mehr zu machen
Ein Kunstmaler war im Begriff seine Staffelei vor einer beeindruckenden Bergkulisse aufzustellen, als ein Musiker daherkam und sagte: „Sie müs-sen sich nicht mehr bemühen, ich habe bereits alles wegkomponiert.“
Kein Problem
Als er sein Gegenüber einen halben Nachmittag lang mit ausgiebigen Be-richten von seinen lästigen Verwandten und Bekannten torpedierte, sagte er zum Schluss: „Was für ein Glück, dass ich zu denen gehöre, die keine Probleme haben.“
Oh, wie gut, dass niemand weiss…
Ein Metzgergeselle beobachtete seinen Meister bei der Zubereitung von Würsten und meinte schliesslich: „Wenn das rauskommt, was da reinkommt, kommen Sie irgendwo rein, wo Sie nicht mehr rauskommen!“
Selbstbestimmung
„Denk daran“, sagte die Hausfrau zu ihrem Mann, dass du nach dem Staubsaugen zuerst die Vorhänge wäschst, bevor du mit dem Abstauben beginnst oder die Fenster putzt“.
„Nun habe ich genug von deinem dauernden Herumkommandieren“, begehrte der Mann auf, schlug die Tür zum Arbeitszimmer zu und bügelte zuerst die Wäsche.
Unbekannte Währung
Ein Börsenmakler wurde in einem Interview unter anderem gefragt, welche Bedeutung er der Ethik bei seinen Geschäftstätigkeiten beimesse. „Dazu kann ich nichts sagen“, antwortete der Finanzhai, „meines Wissens ist mit dieser Währung bis anhin nicht gehandelt worden.“
Talent
„Was ist eigentlich Talent?“ fragte das Mädchen die Mutter. „Talent ist eine Begabung, die einem in die Wiege gelegt wird, man es nicht erlernen“, antwortete die Mutter. „Man kann es auch so erklären: Wenn zum Beispiel eine weniger talentierte Hochspringerin mit einem Trainingsauf-wand von 20 Stunden pro Woche zwei Meter hochspringen kann, heisst das nicht, dass sie mit 30 Trainingsstunden zwei Meter zehn schafft. Hat sie aber das Talent zum Hochsprung, genügen ihr vielleicht nur 10 Stun-den, um sogar zwei Meter zwanzig bewältigen zu können.“
Zwiegespräch auf dem Feld
Ein reicher Mann traf einen Schäfer, der mit seiner Herde über den Land-strich zog.
„Wie viele Schafe zählt denn deine Herde?“, begehrte der Reiche zu wis-sen.
„Siebenhundertneunundfünfzig Nasen“, antwortete der Schäfer.
„Wenn du Herr dieser Tiere bist, wirst du sicher auch sehr reich sein“, sagte darauf der vermögende Herr betont.
„Herr bin ich meines Willens. Als Hirte geniesse ich ein freies Leben. Dadurch bin ich reich“, entgegnete der Hirte gelassen.
Kopfschüttelnd wandte sich der reiche Mann von ihm ab und ging seines Weges.
Unterschiede
Ein Ehepaar, das in der Stadt in einer luxuriösen Attikawohnung lebt, wollte ihrem achtjährigen Sohn zeigen, dass es auch Menschen gibt, de-nen es nicht so gut geht wie ihm. So fuhren sie über ein Wochenende aufs Land und übernachteten auf einem bescheidenen Bauernhof. Auf der Heimfahrt fragte der Vater seinen Jungen, ob er nun den Unterschied von arm und reich kenne.
„Ja“, gab der Bub zur Antwort: „Ich habe einen Goldhamster und diese Kinder besitzen ein Dutzend Kaninchen. Wir haben einen krächzenden Papagei und bei ihnen hört man den ganzen Tag ein Vogelkonzert. Wir haben auf der Dachterrasse ein Schwimmbecken und sie neben dem Garten ein grosser Teich. Wir haben auf dem Balkon eine Laterne und bei ihnen ist der ganze Himmel voller Sterne. Wir haben eine Garage für zwei Autos und bei ihnen kann das halbe Dorf vor dem Haus parkieren. Ich weiss jetzt, wie arm wir sind.“
Vielleicht war es Zufall
Ein einfacher Mann verdiente seinen Unterhalt als Holzknecht. Immer wenn er einen Baum fällte, bat er diesen zuvor um Verzeihung für sein Tun. Als dies einmal ein alter Holzfäller mit anhörte, lachte ihn dieser deswegen aus und verspottete ihn vor der gesamten Mannschaft, die sich dabei köstlich amüsierte und dem Sprecher lauthals beipflichtete.
Am nächsten Morgen drehte sich die erste geschlagene Fichte im Fallen um die eigene Achse und erschlug den Spötter.
Als man ihn zu Grabe trug, war der einfache Mann der einzige Arbeitskamerad, der dem Toten das letzte Geleit gab und ihn aus tiefstem Her-zen betrauerte.
Die andern gingen wie sonst ihrer Arbeit nach.
Herdenverhalten
Ein Mann verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Grill-Bratwürsten. Diese waren von einmaliger Qualität. Weil sein Stand etwas abseits der Fussgängerzone lag, stellte er Schilder an die Strasse, um dies den Leuten mitzuteilen. Kam keine Kundschaft, stand er an eine belebte Ecke und rief: „Bratwürste, köstliche Grillbratwürste.“ Und so kauften immer mehr Leute bei ihm ein. Bald einmal musste er die Bestel-lungen für Würste und Brot erhöhen. Kurz darauf vergrösserte er sogar seinen Stand und stellte einen Helfer ein. Da er sich nur um sein Ge-schäft kümmerte, hörte er weder Radio noch las er Zeitung.
Eines Tages kam ein bekannter Politiker an seinen Stand und sagte: „Haben Sie nicht Radio gehört? Haben Sie nicht Zeitung gelesen? Wir befin-den uns in einer gewaltigen Wirtschaftskrise. Der gesamte Markt ist zu-sammengebrochen. Nichts funktioniert mehr.“ Nach kurzem Besinnen entgegnete der Mann: „Sie sind ein Staatsmann, sie müssen es wissen.“ Daraufhin reduzierte er seine Bestellungen für Würste und Brot, nahm die Reklameschilder herein und sparte sich die Mühe, sich selbst an die Ecke zu stellen und seine Ware anzupreisen. Und praktisch über Nacht brach sein Geschäft zusammen. „Der Politiker hat Recht gehabt“, sagte der Mann darauf zu seinem Helfer, „wir befinden uns wirklich in einer grossen Wirtschaftskrise.“
Der Prahlhans
Ein Bursche, der gerne prahlte und sich vor jeder Arbeit drückte, hatte nur eines im Sinn: Er wollte derart gut pfeifen können, dass er alle Vo-gelstimmen nachahmen konnte. Einen ganzen Sommer lang übte er, oft bis spät in die Nacht hinein. So kam es, dass er einmal einer Amsel ihr Abendlied zu übertreffen versuchte. Nach einer Weile sagte die Amsel: „Was ahmst du denn alle Vogelstimmen nach, bist du doch ein Mensch und hast andere Aufgaben zu erfüllen“.
„Von all dem Bisschen das ein Vogel kann, ist pfeifen der geringste Teil, den ich ebenso beherrsche“, antwortete der Prahlhans.
„So, dann setze dich doch zu mir auf die Tannenspitze und lass uns den Tag zweistimmig loben“, forderte ihn der Vogel auf.
Rasch kletterte der Angeber die Tanne hinauf. Bevor er jedoch den Wipfel erreichte, brach ein dürrer Ast unter seinem Gewicht. Mit einem Schrei stürzte er zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Dessen ungerührt flog die Amsel davon, setzte sich auf einen anderen Wipfel und sang ihr Abendlied zu Ende.
Brief aus der Rekrutenschule
Liebe Mutter! Lieber Vater!
Mir geht es gut hier! Ich hoffe, euch beiden, der Therese, Roland, Tobias, Manfred, Robert, der Verena und Sven auch. Sagt dem Tobias, dass es beim Militär super ist. Er soll sich keine Sorgen machen, wenn er nächs-tes Jahr einrücken muss. Anfangs ist es schon ungewohnt, weil man fast bis 6 Uhr im Bett bleiben muss, aber man gewöhnt sich schnell an das lange Ausschlafen. Sagt ihm auch, dass man vor dem Frühstück nur sein Bett richten muss und ein paar Kleinigkeiten zu erledigen hat. Keine Stall-arbeit, keine Tiere füttern, kein Holz hacken, kein Einheizen, kein Mist zetteln – also fast nichts. Man wäscht sich, aber das ist halb so schlimm, weil es warmes Wasser gibt. Das Frühstück ist ein bisschen mager. Es gibt nur Kaffee, Fruchtsäfte, weisse Brötchen, Honig, Müesli, doch leider keine Rösti, Speck, Alpkäse und Buttermilch wie bei uns. Aber ihr könnt ihm ausrichten, dass man von einigen Städtern, die nur Kaffee trinken, das Essen haben kann und so reicht es dann auch bis zum Mittag. Dann gibt es wieder etwas zum Beissen. Wir marschieren oft ziellos über Land. Die Landschaft ist schön, aber leider sehr flach. Darum sind auch die Ausmärsche gemütlich gegen das, was wir uns auf unseren Alpweiden gewohnt sind. Und dennoch haben am Ziel manche Städter wunde Füsse und fahren mit den bereitgestellten Fahrzeugen in die Kaserne zurück. Der Korporal ist ein ähnlicher Typ wie unser Nachbar, er nörgelt immer. Mit dem Hauptmann haben wir Rekruten nichts zu tun. Er gibt die Befehle an unsere Vorgesetzten und lässt uns in Ruhe. Beim Schiessen bin ich immer unter den Besten. Man kann sich gemütlich hinlegen und dann in Ruhe zielen. So ist das Treffen keine Kunst, besonders, weil das Schwar-ze in der Mitte viel grösser ist als ein Spatz und auch nicht davonfliegt. Am meisten gefällt mir die Nahkampfausbildung. Da kommen mir die Erfahrungen vom Schwingen und meine 90 Kilo sehr zugute. Aber bei den Städtern muss ich höllisch aufpassen, dass ich sie nicht zerdrücke, wenn ich sie allzu fest in den Schwitzkasten nehme. Jetzt muss ich leider schliessen, denn um 22 Uhr ist Lichterlöschen.
Viele liebe Grüsse aus der grandiosen RS an alle
Eure Tochter Sonja
Bitteres Ende
„Hallo, ist jemand hier? – Hallo!“ Als niemand antwortet, zwängt er sich in einem Durcheinander von Kisten und Schachteln durch den Korridor in das Büro des Verlagsleiters, der kurz darauf durch die Türöffnung eines Nebenraums schaut und sagt: „Guten Tag Herr Schriber. Entschuldigen sie bitte, ich bin noch an einer unvorhergesehenen Sitzung, wir sollten aber bald fertig sein. Nehmen sie doch einstweilen Platz.“
„Kein Problem, Herr Büchner, die Wartezeit nehme ich gerne in Kauf“, antwortet Schriber gutgelaunt und setzt sich neben dem mit Stapeln von Notizen, Broschüren und Büchern beladenen Pult auf einen Stuhl. Im Takt, nach einer Melodie, die ihm seit den Morgenstunden nicht aus dem Kopf will, trommelt er mit den Fingern auf das mitgebrachte Manuskript. Endlich ist es so weit, denkt er und freut sich dabei, wie es seit langem nicht mehr der Fall war, dass nach all dem Ringen mit Aufbau, Inhalt und Form sein erster Roman erscheint. Wie, um noch einmal sicherzustellen, dass alles seine Richtigkeit hat, öffnet er den Ordner und überfliegt sein Manus. Die letzten Zeilen liest er halblaut vor: „Ob all die Anstrengungen einmal von Nutzen sein würden, entscheidet die Gesellschaft. - Punkt. Von Nutzen sein würden? Sapperlot, das muss ja werden heissen.“ Er fingert den Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und korrigiert den Lapsus. „Gut“ entfährt es ihm, „habe ich den Fehler noch entdeckt. Hoffentlich verstecken sich nicht noch weitere in den vorherigen Seiten. Aber dafür gibt es bekanntlich in einem guten Verlag ein Korrektorat, das dem Entwurf den letzten Schliff gibt.“
Wenig später kommt der Verleger ins Büro: „Es tut mir leid, Herr Schriber, dass Sie warten mussten“, sagt er, „aber seit ein paar Tagen ist der Teufel los. Ich hoffe, dass wir jetzt ungestört sind.“
„Das ist halb so schlimm. Nägel mit Köpfen brauchen ihre Zeit, bis sie geschmiedet sind. Die Hauptsache ist, dass zum Schluss etwas Positives herauskommt“, antwortet Schriber entspannt und reicht Herr Büchner das Manuskript.
„Hier ist also die Endfassung mit den Berichtigungen, wie sie es bei der letzten Besprechung verlangt haben. Sie glauben nicht, was es für mich bedeutet, dass ich nun endlich einen Strich darunterziehen kann. Manch-mal habe ich selbst nicht mehr recht daran geglaubt, aber jetzt es ja Gott sei Dank so weit.“
„Herr Schriber – ich weiss nicht recht, wie ich anfangen soll. - Ich habe Sie persönlich in mein Büro gebeten, weil ich Ihnen die Sachlage nicht am Telefon mitteilen wollte. - Es gibt ein Problem.“
„Ja, wieder des Inhalts wegen?“
„Nein nein, der scheint ja mittlerweile in Ordnung zu sein. Das Problem ist auf der Verlagsseite.“
„Was hat es dann mit mir zu tun?“
„Direkt nichts – indirekt jedoch schon.“
„Wird der Ausgabetermin verschoben?“
„Das wäre das kleinere Übel.“
„Um was geht es dann? forscht Schriber nach.“
„Pleite!“ platzt es aus Büchner heraus. „Der Verlag ist Konkurs! Die Bilanz deponiert! Aus, fertig, Schluss … Es kann nichts mehr publiziert werden. Wie Sie sehen, sind wir bereits am zusammenräumen.“
„Heisst das, dass mein Buch nicht herauskommt?“ fragt Schriber e-staunt.
„Ja. – leider. Ich weiss, was diese Veröffentlichung für Sie bedeutet hätte. Aber es ist mit dem besten Willen nichts mehr zu machen.“
„Und was geschieht jetzt mit meinem Entwurf?“
„Versuchen Sie es bei einem anderen Verlag.“
„Das habe ich schon mehr als ein Dutzend Mal getan, bevor ich an sie gelangt bin. Bei den meisten habe ich nicht einmal eine Antwort erhalten. Können Sie mir wenigstens potenzielle Adressen nennen?“
„Nein, das ist nicht möglich. Andere Verlagsleiter sind nicht darauf er-picht, dass sie von der Konkurrenz Vorschläge erhalten. Die meisten werden sowieso mit massenhaft unaufgeforderten Manuskripten über-häuft. Dazu hat eigentlich jeder Verlag seine Hausautoren, mit denen er zusammenarbeitet. Eine Möglichkeit besteht allerdings noch bei einem Verbandskollegen, mit dem ich verschiedene Werke realisiert habe. Ich rufe ihn nachher an, vielleicht bietet sich bei ihm die Möglichkeit für eine Publikation.“
„So wie es aussieht, waren also die letzten anderthalb Jahre Arbeit prak-tisch für die Katz“, sagt Schriber resigniert.
„Sehen Sie das bitte nicht so eng“, versucht Büchner zu beschwichtigen. „Probieren Sie es mit der ersten Version, die Sie mir vorgelegt haben. Die war nämlich sehr interessant.“
„Die existiert schon lange nicht mehr. Wie Sie wissen, ist nach den verschiedenen Überarbeitungen aus meiner Geschichte etwas ganz anders geworden als ursprünglich gedacht.“
„Schade. Die hätten Sie unbedingt behalten sollen. Damit hätte man be-stimmt etwas machen können.“
„Jetzt aber halt“, begehrt Schriber auf. „Sie haben ja die damalige Fas-sung über den Haufen geworfen. Und jetzt wäre sie plötzlich gut gewe-sen! Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben. Mittlerweile steht aber in diesen 259 Seiten nicht mehr viel von dem, was ich ursprünglich aussagen wollte. Überhaupt kommt es mir vor, als habe die Geschichte nach der x-fachen Überarbeitung nicht mehr viel mit meiner Schreibweise zu tun.“
„Sie müssen nun die Schuld nicht mir in die Schuhe schieben“, rechtfer-tigt sich Büchner. „Ich habe nur gesagt, dass die Abfassung, so wie sie war, nicht in mein Programm passt. Überdies sind Sie der Autor und entscheiden, was mit Ihren Aufzeichnungen geschieht“.
„Wie hätte ich den Text auch speichern sollen?“, gibt Schriber zu beden-ken. „Ich habe keinen Computer, schreibe alles von Hand und erst zum Schluss mit der Schreibmaschine ins Reine. Da kann ich nichts abspei-chern.“
„Aber die Papierversion werden Sie sicher noch haben?“, fragt Büchner.
„Nein, die habe ich nicht mehr. Als die Änderungen mehr als zwei Schachteln füllten, schmiss ich sie ins Altpapier.“
„Oje! Das ist Pech.“
„Übrigens, was wäre passiert, wenn ich die Anpassungen nicht nach Ihren Vorstellungen vorgenommen hätte?“ hakt Schriber nach.
„Eigentlich eine überflüssige Frage, dann hätten Sie gleich einen anderen Verlag suchen müssen.“
„Eben“, wettert Schriber. „Das muss ich jetzt auch wieder, wenn ich das Ganze nicht versanden lassen will. Nur fehlt mir dazu die Grundversion. Das Manus hier, das ich für Ihren Verlag massgeschneidert habe, will doch niemand.“
„Glauben Sie mir Herr Schriber, mir ist es auch nicht recht, wie es ist, aber ändern kann ich es nicht. Das Risiko im heutigen Büchergeschäft ist sehr hoch. Kleine Verlage gehen laufend ein wie Fliegen im Winter. Aber ich bin überzeugt, dass Sie deswegen nicht verzweifeln und weiterhin schreiberisch tätig sein werden“, sagt Büchner und tippt nervös auf die Uhr. „Jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich habe in Kürze einen neuen Termin. Wenn Sie noch einen Moment warten, rufe ich den Kollegen an und versuche das Bestmögliche herauszuholen.“ Ohne eine Antwort ab-zuwarten, steht er auf und verschwindet im Nebenraum.
Schriber bleibt konsterniert sitzen und stiert auf den Boden. Er kann es nicht fassen, dass sein Traum von seinem ersten Roman wie eine Sei-fenblase geplatzt sein soll. Jetzt, da es nur noch darum ging, die letzten Änderungen durchzugehen, dass aus seinem ersten Prosa-Text ein Buch entsteht, diese Hiobsbotschaft. Sollten all die Anstrengungen und Tage voller Selbstzweifel und Hoffnungslosigkeit der vergangenen zwei Jahre vergebens sein? Waren die hunderten Stunden von Wörtern und Sätzen ausbrüten nutzlos? Frühling, Sommer, Herbst und Winter, tagein- und tagaus immer das gleiche Thema im Kopf herumsausen lassen, nur, um am Ende den Papierkorb zu füllen? Das kann es doch nicht sein!
Wie von der Tarantel gestochen steht er auf und lässt seinem Unmut freien Lauf: „Das darf doch nicht wahr sein!“, lästert er in den leeren Raum hinein. „Es scheint, als hätte ich nichts anders zu tun, als mein Ge-dankengut den Ansichten und Launen eines Verlegers anzupassen. Glaubt der vielleicht, ich sei eine Marionette und tanze noch lange nach seiner Geige. Aber täuschen sie sich nicht, Herr Büchner, noch einmal spiele ich nicht den Hampelmann. Jetzt ist Feierabend. Der Schriber quittiert den Dienst. Die ganze Schreiberei kann mir den Buckel runterrutschen. Soll Romane schreiben wer will, ich habe genug von diesem zermürbenden und brotlosen Handwerk.“
Als reichte die verbale Attacke nicht aus, ergreift er den Ordner mit dem Manuskript, rupft die einzelnen Blätter heraus und zerreisst die mühevoll geschriebenen Seiten. „Da!“, lärmt er, während er die Schnipsel wütend im Büro umherwirft, „soll den ganzen Plunder nehmen wer will und mei-netwegen Konfetti daraus machen für die Fasnacht, dann haben wenigstens ein paar Narren etwas davon.“ Als es nichts mehr zu zerfetzen gibt, verlässt er pustend und mit hochrotem Kopf das Büro, knallt hinter sich die Tür zu und macht sich eilends davon.
Kurz danach kommt Büchner wieder ins Büro und sagt: „Eine erfreuliche Nachricht, Herr Schriber. Mit etwas Glück wendet sich vielleicht doch noch alles zum Guten. Sie können morgen um zwei Uhr mit Ihrem Manus bei Herr Schwarz vom Grobmann Verlag vorsprechen.“ Als er die Unordnung bemerkt, verschlägt es ihm fast die Sprache: „Ach du meine Güte“, stammelt er. „Was ist denn hier passiert! Ist der jetzt übergeschnappt? Herr Schriber, sind Sie noch da? - Herr Schriber …“
„Dann eben nicht! Wenn er sich nicht helfen lassen will, soll er es bleiben lassen, der komische Vogel. Hinterherlaufen werde ich ihm nicht. So wie es hier aussieht, ist ohnehin alles zu spät. Und so einer will Schriftsteller sein“, sagt er kopfschüttelnd. „Da kann ich eigentlich nur froh sein, dass in meinem Verlag von diesem ungehobelten Typ nichts erschienen ist.“
Denkwürdiger Geburtstag
Thomas Steiner, siebenundzwanzig Jahre alt und Bergführer. Aufgewach-sen als Bauernbub, umzingelt von steilen Graten und Furcht einflössen-den Felswänden. Die Eltern lebten auf einem Hof an einer steilen Halde, die von Hand bewirtschaftet werden musste, weil Maschinen gegen sie nicht ankamen. Daneben ein paar Ställe, wie fallen gelassen auf die ab-schüssigen Hänge. Kehrte Thomas von der Schule heim, halfen er und seine Geschwister im Stall, auf dem Feld oder beim Holzen. Ferien gab es nicht. Auch keine Reise ans Meer. Es gab nur Arbeit und davon mehr als genug. Ab und zu nahm ihn sein Onkel auf eine Bergtour mit. Sie brachen in der Dunkelheit auf, stiegen hinauf und waren nicht selten schon auf einem Gipfel, bevor sich die Nacht davonstahl. Kein Grat war ihnen zu luftig, keine Wand, die sie nicht zu überwinden versuchten. Der Onkel scheute die Gefahr nicht. Er kannte sich im Gebirge aus. Die Gewissheit, dass alles nach einem natürlichen Plan abläuft, verleitete den Bergler nicht zur Leichtfertigkeit, aber er nahm ihm die Furcht. Die Natur zu respektieren, lernte Thomas von ihm. So entwickelte auch er ein Gespür für den Berg.
Wann immer möglich war Gerda in den Bergen unterwegs. Anlässlich eines Kletterkurses hatte sie Thomas kennen gelernt, der die Gruppe leitete. Schon bei der Begrüssung, im idyllischen Garten vom Hotel, war sie von seiner ausgeglichenen Art hingerissen. Alles an ihm faszinierte sie: seine Ausstrahlung, sein gleichmässiger Gang, sein durchtrainierter Körper, seine Wortwahl und die sonore Stimme, das markante Gesicht und die wasserblauen Augen, seine Bodenständigkeit, der man sich anvertrauen konnte. Zusammengefasst, ein Meter achtzig im Einklang. Nie zuvor war Gerda ein solcher Mann begegnet.
Zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag wollte sie sich einen besonde-ren Wunsch erfüllen, nämlich ihren Traumberg zu besteigen. Vorausge-setzt, dass es Thomas passt und das Wetter mitspielt. Mit der Frage, ob für sie die Tour oder der allseits beliebte Bergführer im Vordergrund stand, hätte man die selbstbewusste junge Physiotherapeutin wahr-scheinlich ein bisschen in Verlegenheit gebracht. Denn seit der alpinen Weiterbildung ging ihr Thomas nicht mehr aus dem Kopf.
Sie hatte Glück. Thomas sagte zu und die Berge lagen so klar in der Landschaft, als hätte sie ein Kunstmaler hingetupft. Scharf zeichnete sich ihr Berg über den dunklen Wald in den samtblauen Himmel ab. Über den Gipfelgrat streifte das erste Morgenlicht. Von diesem Gipfel träumte sie, seit Jahren. Aber eben – da war davor die abschüssige Wand und in schwierigen Passagen war sie noch keine Meisterin. Ein Trost blieb ihr: Sie war die Zweite am Seil. Und so stiegen sie ein.
Seillänge um Seillänge ging es aufwärts. Thomas fand in dem Gewirr der Wand immer wieder die auch für sie gangbare Route. Von Standplatz zu Standplatz weitete sich der Blick über die aneinander gereihten Berge. Als sie im obersten Teil der Wand auf einem schmalen, zwanzig Zentimeter breiten Band standen, kamen sie in die Sonne. Als Schlüsselstelle wartete noch ein Kamin, der zum Gipfel hinaufführte. Thomas begutachtete das Steilstück und sagte gelassen: „Den Kamin können wir heute nicht gehen. Er ist zu nass …“ „Und wo gehen wir dann?“, fragte Gerda etwas beunruhigt. „Da!“, sagte er und wies mit der Hand senkrecht hinauf. Die Wand stieg steil empor und wuchtete dann in einen mächtigen Überhang aus. „Das übersteigt bei Weitem meine Fähigkeiten“, gestand Gerda ein. „Ich bin noch nie in solchen Schwierigkeitsgraden geklettert.“ „Das musst du auch nicht“, meinte Thomas aufmunternd, „wir queren vorher rechts weg. Danach kommt ein ausgeprägter Riss, höchstens im vierten Grad!“
Mit spielerischer Leichtigkeit stieg Thomas die Wand hoch und ver-schwand schon kurz danach aus ihrem Blickfeld. Nach etwa dreissig Me-tern stockte das Seil. Allmählich beschlich Gerda ein mulmiges Gefühl. Wenn dieses Kletter-Ass schon zaubert, wie sollte sie dann diese Stelle bewältigen? „Was ist los?“, rief sie über den Überhang hinauf. „Keine Sorge“, kam die Antwort, „hier ist nur ein grosser Spreizschritt nötig. Da habe ich eine Zwischensicherung angelegt.“ Dann lief das Seil weiter und kurz danach ertönte der Ruf: „Nachkommen!“
Vorerst ging alles besser, als sie es erwartet hatte. Der Fels hatte mehr kleine Griffe und Tritte, als es von unten auszumachen war, dazu kam der beruhigende Gedanke, dass sie ja von oben gesichert war. Auch die Querung gelang ihr problemlos. Dann tat sich der Riss mit dem angekün-digten Spreizschritt auf. Nur nicht zögern, dachte sie, einfach immer wei-ter. Behände löste sie die Zwischensicherung, atmete tief durch und fasste Mut. Jetzt kam der Moment, wo der eine Kletterschuh noch am Felsen haftete, der andere jedoch in der Luft schwebte, bis er drüben aufsetzte. Ihre nicht allzu grosse Spannweite reichte gerade. Der Blick ging zwischen ihren Beinen durch. Tausend Meter weiter unten sonnten sich die Alphütten, bei denen sie aufgebrochen waren. So atemberaubend die imposante Aussicht auch war, lange konnte sie nicht an dieser ausgesetzten Stelle verweilen. Also nichts wie weiter. Die Verschneidung vor dem Ausstieg verlangte noch einmal alle Kräfte von ihr ab. Bis zum Gipfel war es dann nur noch eine Seillänge. Als sie schnaufend bei ihrem Seilge-fährten ankam, sagte sie ein wenig vorwurfsvoll: „Aber das war kein Vierer, wie du gesagt hast.“
„Nein“, sagte er lächelnd, „das war ein bisschen mehr“, streckte die Hand aus und gratulierte ihr zu der bemerkenswerten Leistung. Gerda bedank-te sich ihrerseits für die kompetente Führung. Dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, schlang die Arme um „ihren Führer“ und küsste ihn innig. „Aber das war kein Gipfelkuss, wie es sonst üblich ist“, sagte Thomas verblüfft. „Nein“, antwortete sie schelmisch, „das war ein biss-chen mehr.“
Nach dieser Tour waren die beiden unzertrennlich. Gerda verlegte ihren Wohnsitz, um bei ihrem Liebsten zu sein. So oft sie konnten unternahmen sie gemeinsam herausfordernde Klettereien und Hochgebirgstouren, beteiligten sich aktiv am heimischen Vereinsleben und besuchten kulturel-le Anlässe. Zwei Jahre später läuteten für die beiden die Hochzeitsglo-cken. Der Aperitif fand im lauschigen Garten vom heimeligen Hotel statt, wo sie sich das erste Mal trafen. Ein Ort, wo ein Hauch Alpenromantik mitschwingt - und wenn das Glück einem hold ist, sogar der Traumpartner begegnet.
Der arme Geizhals
In einem abgelegenen Dorf lebte einst ein alleinstehender Mann in ärms-ten Verhältnissen. Ein Leben lang hatte er geschuftet und gespart, und doch reichte es meistens nicht einmal für das Notwendigste. Trotzdem war er gesund und fröhlich und den andern gegenüber immer hilfsbereit.
Als er in die herbstlichen Jahre gekommen war, wurde er durch eine un-verhoffte Erbschaft mit einem Mal zum reichsten Mann in der Region. Finanzberater verwalteten fortan sein Vermögen und häuften es zu immer grösserem Reichtum an. Dennoch gönnte er sich nichts und wurde von Tag zu Tag raffgieriger und unzufriedener. Damit niemand von sei-nem Besitz profitieren konnte, lebte er weiterhin allein, brach die Bande zu seiner Familie gänzlich ab und löste sich von all seinen Verwandten und Bekannten.
Obwohl er nie einen Franken davon für sich selbst brauchte, keinen Rap-pen für wohltätige Zwecke austeilte, hatte er Angst, das Geld könnte durch irgendetwas wieder verloren gehen. Der Gedanke an den Verlust nagte derart an ihm, dass er mit der Zeit schwer erkrankte. Kein Arzt konnte ihm helfen, soviel er ihnen auch dafür bezahlen wollte.
Als ihm ein herbeigerufener Spezialist mitteilte, er werde wahrscheinlich den folgenden Tag nicht überleben, kroch er aus dem Bett, holte seine gesamten Wertpapiere und in Schachteln gehütete Banknoten hervor und verbrannte alles. Mit fiebrigen Augen stierte er in die Flammen und ge-noss ihren Zerfall. Danach legte er sich erschöpft wieder zu Bett, glücklich, keinem Menschen ein Erbe hinterlassen zu müssen.
Ein langer, tiefer Schlaf überfiel ihn, und als der Arzt am nächsten Morgen wieder kam, fand er den Kranken wie durch ein Wunder gerettet. Er verordnete ihm noch einige Tage Bettruhe und versprach, täglich nach dem Rechten zu sehen. Als der Doktor tags darauf erschien, hatte der Geizkragen seinem Leben selbst ein Ende gesetzt.
Der Läufer
Seit er gehen konnte lief er. Er ging nicht. Immer war er rennend unterwegs. Und nie wurde sein schwarzer athletischer Körper müde davon. Nicht unter der glühenden Steppensonne und nicht, wenn sich ein Sternenmeer über die Savanne ergoss. Sein ganzes Da-Sein war Laufen. Daher nannten ihn die Stammesbrüder auch „Der Läufer“. Aber sie mein-ten es anders als jene Leute, die ihn irgendwann aus seiner Strohhütte holten, um einen Rennläufer aus ihm zu machen. Und sie machten einen Rennläufer aus ihm. Doch vor jedem Wettkampf reiste er in sein Hei-matdorf und bat den alten Weisen seines Stammes um Rat, befolgte die-sen und war oft erfolgreich. So sass er auch zwei Wochen vor seinem wichtigsten Rennen dem Weisen gegenüber und fragte ihn, wie er sich diesmal verhalten solle, um in einem weit entfernten Land der schnellste Läufer aller Zeiten zu werden. Eine Weile überlegte der Alte, dann sagte er: „Ein Mensch kann desto weitere Reisen unternehmen, je tiefer er in die Stille eintaucht - und erst in der absoluten Reglosigkeit ist es möglich, die absolute Geschwindigkeit zu erreichen.“ Das war alles. Mehr sagte er nicht. Der Läufer bedankte sich, stand auf und ging in seine Hütte.
Als die Dämmerung hereinbrach verabschiedete er sich von seinem Volk. Nur mit dem Lendenschurz bekleidet machte er sich auf und verschwand in der Richtung, von wo der Weise einst herkam.
Der rettende Griff
Ein zartblauer Frühlingshimmel überspannt die weissgrauen Spitzen und Türme der hufeisenförmig aufgereihten Kalkfelsen. Im mittleren Teil einer steilen Wandflucht bewegt sich abwechslungsweise einer von zwei winzigen Punkten. Es sind Kletterer, die gekommen sind, um hier ihren Mut und ihre Kraft zu erproben.
Unbeirrt und konzentriert folgen sie dem „logischen Weg“. Gipfelwärts! Für Zweifel ist kein Platz mehr, sie haben sich am Fuss der Wand für diese Route entschieden. Nun befindet sich der Seilerste an der Schlüsselstelle: Eine senkrechte Platte, stufenlos und von keinem Riss durchzo-gen. Nur kaltes, gefühlloses Gestein, darunter gähnende Leere, abgrund-tiefes Nichts.
Eng an den Felsen gepresst verharrt er, keucht, streckt sich, späht und tastet nach Griffen. Vergeblich, nirgends findet er Halt. Abermals wieder-holt er Kräfte raubende Balanceakte. Erfolglos. Ein Weiterkommen scheint unmöglich, ein Rückzug ebenso undenkbar. Das zunehmende Zit-tern in den Beinen reisst ihn beinahe aus dem Stand. Zudem verlässt ihn allmählich noch die Kraft in den Armen und Fingern. Verbissen kämpft er gegen das sich anbahnende Verderben. Schon glaubt er zu stürzen... Doch dann, in seiner Verzweiflung, spürt er auf einmal, dass der Himmel gar nicht so weit entfernt ist. Halb benommen in seiner Angst stammelt er: „Oh Gott, verlass mich nicht, jetzt nicht. Hilf mir!“
Mit schmerzenden Gliedern und beinahe schwindenden Sinnen rafft er sich zu einem letzten Versuch auf. Angehaltenen Atems schiebt er seine linke Hand den Felsen entlang. Vorsichtig, höher, immer höher. Plötzlich ertastet er eine schalenartige Vertiefung, ergreift einen rauen Wulst und klammert sich daran fest. Wie ein Blitz fährt es durch ihn: Bis anhin war da nichts ausser steinerner Glätte, senkrecht abfallender Fels. Er findet keine Erklärung dafür, doch für ein Hinterfragen dieses erdfremden Er-lebnisses ist jetzt keine Zeit. Nur weg hier denkt er. Und an diesem Griff, den er nicht sieht (und nie sehen wird), klimmt er sich empor. Die weichen Kletterschuhsohlen finden an winzigen Unebenheiten genug Rei-bungsfläche, um ein Abrutschen zu verhindern. Jetzt fehlt ihm nur noch eine Körperlänge, dann klinkt er den Sicherungskarabiner in den Felsha-ken ein, den eine frühere Seilschaft in den Querspalt über der kleinen Nische getrieben hat. Erst jetzt bemerkt er sein Herzklopfen, das in der Totenstille wie Hammerschläge in den Ohren dröhnt.
Geraume Zeit verstreicht, dann strampelt sein Gefährte in der schroffen Platte. Auch dieser findet keine kletterbare Stelle. Als er endlich durch den Seilzug seines Kameraden oben ankommt, schüttelt er den Kopf und meint: „Schade, dass ich von unten her nicht sehen konnte, wie du das geschafft hast, komplett grifflos, unvorstellbar!“
Nachdenklich erwidert darauf der Seilerste: „Wie ich da hinaufkam, weiss ich selbst nicht. Ich weiss nur, wer mir dazu verholfen hat - ihn habe ich erkannt.“
Die treue Hundemutter
Diese Geschichte, die unsere Mutter in ihrer Jugendzeit erlebt hat, ereignete sich in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts: Während vielen Jahren hatten sie eine schottische Schäferhündin. Diana hiess sie und war ein überaus kluges und anhängliches Tier. In einem Frühling warf sie Junge. Besonders für die Kinder war es wunderschön mitzuerle-ben, wie die drolligen, kleinen Wollknäuel sich allmählich zu rechten Schä-ferhündchen entwickelten. Liebevoll zog Diana ihre Kleinen auf. Fehlte mal eines, suchte sie es sofort überall.
Sie wohnten damals unmittelbar neben einer Bahnlinie. Damit die kleinen Hunde nicht auf die Geleise gelangten, errichtete der Vater einen Zaun um den Garten. Doch dieser konnte die ungestümen Welpen nicht lange aufhalten. Eines Tages gelang es dem Mutigsten, das Drahtgeflecht zu überspringen. Unternehmungslustig zwängte er sich zwischen den Bü-schen hindurch und schon war er auf dem Bahngeleise. Allein wurde es dem Abenteurer wohl doch etwas unheimlich, denn nach einigem Schnuppern beschloss er, langsam wieder den Heimweg anzutreten. Meine Mutter schaute gerade aus dem Fenster und sah den Kleinen langsam zwischen den Schienen entlang trotten. Tief erschrocken vernahm sie das Stampfen des herannahenden Zuges. „Lumpi“, rief sie, „Lumpi!“ Doch das Hündchen schaute kaum auf. Diana aber hörte ihren Ruf. Wie der Blitz sprang sie aus dem Garten und rannte zu ihrem Jungen. Nun befan-den sich beide Hunde auf dem Geleise, auf dem sich unaufhaltsam der Zug näherte. Plötzlich fasste Diana den Kleinen am Genick, trug ihn von den Schienen weg, drückte ihn in den niederen Graben zwischen Geleise und Strassenböschung und legte sich darüber, bis der Zug vorüber war. Dann packte sie das Junge erneut am Genick, schüttelte es einmal kräftig - und leckte es dann zärtlich ab. Gehorsam trippelte der kleine Ausreisser danach hinter seiner Mutter her zurück in den Garten.
Seit diesem Erlebnis war meine Mutter überzeugt, dass Klugheit und Auf-opferungsfähigkeit einer Hündin den Eigenschaften einer guten Men-schenmutter in nichts nachstehen.
Ein kräfteraubender Kinobesuch
Uneingeschränkt wurden Karl zwei Eigenschaften zugesprochen, dass er erstens der beste Torhüter weit und breit sei und zweitens das Schiess-pulver nicht erfunden habe. Denn so flink wie er auf dem Rasen war, umso mehr stolperte er, wenn es um Kopfarbeit ging. Seine Klubkollegen profitierten von beiden Eigenschaften. Beim Match am Sonntag trugen sie seinetwegen manchen Sieg davon und im Ausgang gab es wegen seiner Tollpatschigkeit immer viel zu Lachen.
Einmal trug es sich zu, dass die Fussballmannschaft zusammen einen Kinobesuch unternahm. Der Streifen hatte bereits angefangen, als die Klicke den fast voll besetzten Saal betrat. Nur in der vordersten Reihe waren noch Plätze frei. Geduckt schlichen die kundigen Kollegen darauf zu und drückten sich in die Klappsitze. Karl, der das erste Mal in einem Kino war, stand verloren im Mittelgang und wurde als grosser Schatten-riss auf die Leinwand projiziert. Der lange Lulatsch solle endlich ver-schwinden, riefen einige aus den hinteren Sitzreihen. Rasch setzte sich Karl auf den Boden. Dann sah er durch das Halbdunkel seine Kameraden, die ihm zuwinkten. Auf allen Vieren kroch er zu ihnen und zwängte sich auf deren Aufforderung hin in einen freien Sessel. Bereits nach ein paar Minuten wurde er unruhig, fing an hin und her zu rutschen und räusperte sich dauernd. Nach einer Weile stand er auf und sagte, es nehme ihn schon Wunder, was das hier für eine Einrichtung sei. „Schschscht...!“, tönte es von allen Seiten. Seine Sitznachbarn wiesen ihn an, sich wieder hinzusetzen und still zu sein. Kurze Zeit darauf ging sein nervöses Getue wieder los und wurde für die Besucher um ihn herum immer unangenehmer.
Endlich war Pause. Karl war derart verkrampft, dass er kaum aufstehen konnte. Als er sah, wie seine Kollegen die Sitzfläche hochklappten, fragte er erstaunt, wo sie denn diese Brettchen herhätten. Erst jetzt hatten sei-ne Freunde bemerkt, dass er die ganze Zeit im „leeren“ Sitz kauerte und sich mit den Ellbogen auf den Armlehnen abstützte. Ein riesiges Gelächter brach los. Wieder einmal lieferte ihnen der tölpische Karl eine köstliche Einlage. Begreiflich, dass die Brettchen-Geschichte noch lange danach für spöttischen Gesprächsstoff im ganzen Dorf sorgte.
Ein Spass mit tragischem Ende
Bühler war ein schwieriger Mensch, ebenso, wie ihn das Leben geformt hat. Der Vater bei Sprengarbeiten umgekommen, die Mutter allein den Hof versorgt und er als Bub gearbeitet wie ein Tier. Schon damals war er stark wie ein Bär. Hatte Kraft für zwei. Später immer den höchsten Ak-kord herausgeschunden bei der strengen und gefährlichen Holzer Arbeit. Es wäre alles gut gegangen, wenn über die Mutter nicht plötzlich eine böse Krankheit gekommen wäre. Obwohl Ärzte, Operationen und Kurau-fenthalte das ganze Hab und Gut verschlangen, war die gute Frau nach einem Jahr unter dem Boden. Nur mal gerade vierzig geworden. Der Hof, respektive das was davon übrigblieb, kurzerhand versteigert. Der Erlös deckte nicht einmal alle Schulden.
Damals hat er ein Auge auf eine geworfen, eine Bauerntochter. Die hat ihn jedoch immer hingehalten und gesagt, ohne nichts heirate ich dich nicht. Er liess jedoch nicht locker. Im Gegenteil, alles sparte er sich vom Maul ab, gab nur das Allernotwendigste aus, dass es ihm zu einem klei-nen Heimetli reichen würde. In der geringen Freizeit, wenn andere ins Wirtshaus oder zum Tanz gingen, malte er kleine Bilder, die er in ge-schnitzte Rahmen fasste. Auch Blumen waren darunter, am meisten Margeriten, weil sie Margarete hiess. Am Markt gingen die anmutigen Handwerksarbeiten jeweils weg wie frische Brötchen.
Gret, wie man ihr sagte, war ein bildhübsches Mädchen. Zu schön sein, sei auch eine Sünde, keiften die alten Weiber. Und wie es der Teufel ha-ben will, hat ihr ein Jungbauer ein Kind gemacht. Dieser stand aber nie dazu und konnte sich auch immer wieder hinausreden. Dann hat Bühler, der inzwischen das Wildbachhäuschen gekauft hatte, die Gret geheiratet.
Er folgten schlimme Jahre. Das kleine Heimetli, ein schäbiges Hüttlein, eng, feucht, steile Flanken rundherum, die ausser Kreuzschmerzen wenig einbrachten. Mittlerweile zwei Kinder und das dritte unterwegs. Gret im-mer noch eine blitzsaubere Frau. Er, die halbe Zeit arbeitslos und sonst auch nur Gelegenheitsarbeiten für einen Franken Taglohn. Und trotzdem war immer so viel Geld da, dass etwas Rechtes auf dem Tisch gestanden ist. Ja, ja, die Gret konnte schon wirtschaften. Das wussten auch die anderen Männer im Dorf, von denen sie manchem den Kopf verdrehte.
Zu ihm sagte sie, dass sie Waschen gehe da und dort, und Putzen bei dieser und jener. Bühler, der weder ins Wirtshaus noch in die Kirche ging, und auch sonst nichts mit den Leuten zu haben wollte, bekam daher nicht mit, was hinter seinem Rücken gemunkelt wurde.
Bekannt wegen seinem Arbeitseifer hat er in einem grossen Holzwerk eine feste Anstellung bekommen. Nicht gerade vor der Haustür, aber was spielte das für eine Rolle in dieser Zeit. Hauptsache war, eine gere-gelte Arbeit zu haben und ein ausreichendes Einkommen, egal durch wel-che Tätigkeit und in welcher Gegend. Gearbeitet wurde von morgens fünf bis abends sieben Uhr, mit einer Stunde Mittagspause. Der Sonntag war frei. Die meisten Männer konnten nicht heim zum Übernachten und schliefen neben der Sägerei in einer Gemeinschaftsbaracke.
Dort begann auch das Unheil. Unter den rauen Gesellen war es der Brauch, dass sie zwischendurch einen aufs Korn nahmen. Diesmal stand Bühler auf ihrer Liste. Freitagnachts, als er schlief, legten sie ihm ein Geweih, ein prächtiger Zwölfender neben das Kopfkissen. Was dies be-deutete, musste keinem erklärt werden.
Beim Erwachen tat er, als würde er nichts bemerken. Verlor kein Wort darüber. Ging wie sonst an seine Arbeit und fuhr am Feierabend wie ge-wohnt übers Wochenende heim.
Am Sonntagnachmittag sah man noch die ganze Familie miteinander spa-zieren gehen. Danach gaben sie die Kinder für ein paar Stunden den Grosseltern zum Hüten, holten sie jedoch nicht mehr ab. Ab diesem Zeit-punkt wurde die Gret nicht mehr gesehen, blieb spurlos verschwunden.
Der Bühler war danach lange Zeit in Untersuchungshaft. Herausgekom-men ist aber nichts. Ein Haufen Gerüchte sind zirkuliert, so auch, dass er seine Frau unter irgendeinem Vorwand in den Wald gelockt habe, zum Brombeeren pflücken vielleicht, sie dann an geeigneter Stelle erschlagen und danach in ein Karstloch geworfen habe. Das beste Versteck für eine Leiche, sagten die im Dorf.
Irgendetwas muss den Bühler gewaltig beschäftigt haben, denn einmal über Nacht war auch er verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Nie-mand wusste, wo er steckte. Angeblich sei er in die Fremdenlegion, obwohl er nie ein politischer Kämpfer war.
Man muss sich dies vorstellen: Ein Spass sollte es werden, das mit dem Geweih, und herausgekommen ist womöglich Mord und Totschlag.
Ein Weekend zu zweit
Wie hatte sich Livia gefreut, endlich wieder einmal ein Wochenende ohne die Kinder mit Martin zu verbringen. Auch in der Freizeit arbeitete ihr Mann oft für die Firma, in der er als umsichtiger Betriebsleiter tätig war. Wenn nicht im Geschäft, dann zuhause am Computer. Sechs Jahre waren sie verheiratet und nur selten kam es vor, dass er sich ein paar freie Tage gönnte.
Weil Martin den Trubel mied, suchte Livia im Internet ein ruhiges Hotel. Bald einmal stiess sie auf eine Website, die sie sofort ansprach. Interes-siert las sie das Angebot:
Unser Hotel **** Ankommen und sich wohlfühlen. Lieblich, ungekünstelt und mit ganz viel Herz.
Das ist genau das Richtige, sagte sie sich. Sogleich rief sie Martin im Ge-schäft an, ob es ihm passe und buchte danach zwei Übernachtungen. Die Kinder, das wusste sie, konnten sie ohne vorherige Absprache für die kurze Zeit bei ihren Eltern unterbringen. Heiter gestimmt packte sie das Geschenk für Martin ein und freute sich jetzt schon über sein staunendes Gesicht, wenn er es öffnete. Am Freitagnachmittag fuhren sie los.
Als hätte er noch gar nicht begriffen, was soeben passiert war, schaute Martin seine Frau konsterniert an. Dann rannte er wortlos aus dem Ho-telzimmer, hetzte die Treppe hinunter und sputete, das Schlimmste be-fürchtend, an der Rezeption vorbei ins Freie. Nicht auszudenken, wenn der Laptop dabei zu Bruch gegangen war, ging es ihm durch den Kopf. Und was könnte passiert sein, wenn sich jemand zufällig im Garten unter ihrem Zimmer aufgehalten hatte?
„Was ist denn bloss auf einmal in diese Frau gefahren“, murmelte er un-ten angekommen vor sich hin. Dass seine temperamentvolle Gattin zuweilen aus der Haut fahren konnte, wusste er. Doch geschah es nie grundlos, meistens war er zu einem erheblichen Teil daran beteiligt – auch heute. Diesmal ging sie jedoch zu weit. Und alles nur, weil er, kaum dass sie das Zimmer bezogen hatten, das Notebook aufklappte. Sicher war es nicht das, was sie sich wünschte, wenn sie schon einmal ein Wo-chenende zu zweit verbringen konnten. Zugegeben, er hätte sich geschickter verhalten sollen. Das gab ihr aber noch lange nicht das Recht, sein wichtiges Arbeitsgerät, auch wenn es ein Auslaufmodell war, mir nichts dir nichts aus dem Fenster zu werfen. Schliesslich gehörte die Computerarbeit zu seinem Beruf, der ihm ein sicheres Einkommen garantierte.
Sorgfältig hob Martin den Rechner vom Boden auf. Er war in einem Strauch gelandet und so konnte er hoffen, dass dadurch der Schaden gering blieb. „Gott sei Dank“, sagte er, als kurz nach dem Einschalten das Startbild erschien. Als er das Gerät wieder zuklappte, überlegte er sich, was für Livia besonders wertvoll war, welches er, sozusagen als Aus-gleich, ebenfalls aus dem Fenster werfen könnte. Vielleicht die Perlenket-te, den exklusiven Reisewecker oder die extra für dieses Weekend ge-kauften Schuhe? Während er auf dem Weg zum Zimmer war, besann er sich jedoch anders. Nein, dachte er, dann wären sie quitt, und so glimpf-lich sollte sie nicht davonkommen. Das wäre noch schöner! Er war immer noch wütend auf seine Frau, deshalb kam für ihn eine sofortige Aussöh-nung nicht in Frage. Erst einmal lasse ich sie zappeln, beschloss er und drehte kurzerhand um.
Doch was sollte er hier, wo er sich nicht auskannte, unternehmen? Jacke, Geld und Autoschlüssel waren im Zimmer und die Sachen holen kam nicht in Frage. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte ge-reizt Richtung Uferpromenade. Der Spaziergang tat ihm gut. Schon nach wenigen hundert Metern fühlte er sich entspannter. Längst lag das Hotel ausser Sichtweite, als er sich auf eine Bank setzte. Von hier aus hatte er freie Sicht über den See und ins Gebirge. Doch er konnte dem grandio-sen Panorama wenig abgewinnen, denn das Geschehene beschäftigte ihn zu sehr. Seine Gedanken kreisten um Livia. Was tat sie jetzt? Bereute sie den Vorfall und weinte vielleicht? Oder hatte sie genug und war womög-lich abgereist? Würde sie ihn suchen? Im Grunde war nichts passiert, der Rechner funktionierte und die Arbeit, die er sich noch für den heutigen Tag vorgenommen hatte, konnte er ebenso später erledigen. Weshalb also den Beleidigten spielen? Je mehr er darüber nachdachte, desto mul-miger wurde ihm zumute. Aber klein beigeben wollte er dennoch nicht.
Langsam sank die Sonne hinter den Horizont. Er stand auf und ging den gleichen Weg, den er gekommen war zum Hotel zurück. Ihr Auto stand noch auf dem Parkplatz. Wo mochte Livia sein und was erwartete ihn? Um das Zusammentreffen noch etwas hinauszuzögern, setzte er sich an einen Tisch auf der gemütlichen Terrasse. Als ihm die Chefin den bestellten Kaffee brachte, übergab sie ihm zugleich ein Paket, das mit silber-nem Papier eingebunden und mit einem roten Band verschnürt war. Et-was nervös packte er es aus. Zum Vorschein kam das neuste Modell vom Laptop, den er sich schon seit längerer Zeit kaufen wollte. Dabei lag ein Kärtchen, auf dem stand: Mehr dazu erfährst du von deiner dich lie-benden Frau, die auf dem Zimmer sehnlich auf dich wartet.
Nun hielt ihn nichts mehr zurück. Ohne den Kaffee auszutrinken, stand er auf, hastete die Treppe hoch, atmete zwei-, dreimal kurz durch und klopfte dann mit pochendem Herzen leise an die Tür zum verheissungs-vollen Doppelzimmer.
Frei wie ein Vogel
Wie immer, wenn Simone ihren Mann Georg auf einer Geschäftsreise begleitete, musste sie auch den heutigen Tag allein verbringen. Nicht, dass sie sich deswegen vernachlässigt fühlte, im Gegenteil, an solchen Tagen genoss es die Familienfrau mit drei zum Teil erwachsenen Kindern, zwischendurch nicht immer „zu müssen“, sondern nur das zu tun, wozu sie gerade Lust hatte. Während sich Georg um Aufträge für die eigene Firma bemühte, freute sie sich über die Stunden, in denen niemand et-was von ihr wollte. Nachdem sich Georg am frühen Morgen von ihr ver-abschiedet hatte, stand Simone, weit weg vom gewohnt gehetzten Grossstadtleben, am Fenster ihres Zimmers und war begeistert von der Ruhe und der Aussicht auf die gepflegte Umgebung.
Es war das erste Mal, dass sie in dieser Gegend weilten, und Simone be-dankte sich gedanklich bei Georgs Sekretärin, dass sie dieses Hotel für sie ausgesucht hatte. Besonders für ihren Mann bedeutete eine ruhige, heimelige Atmosphäre jeweils die Krönung nach einem anstrengenden Verhandlungstag.
Angetan von den Gleitschirmfliegern, die unweit vom Gästehaus auf einer besonnten Wiese landeten, beschloss Simone nach dem genussvollen Frühstück, nicht wie ursprünglich geplant am nahegelegenen See entlang-zuflanieren, sondern einen Spaziergang in die Nähe dieser Deltasegler zu unternehmen. Bereits am gestrigen Nachmittag, als sie von ihrem Ein-kaufsbummel zurückkam, schaute sie ihnen zu, wie sie lautlos durch die Lüfte kreisten. Seit langer Zeit schon war sie fasziniert von diesen scheinbar schwerelosen Gleitern. Insgeheim wünschte sie sich, auch einmal derart losgelöst und frei schweben zu können. Doch daraus wird nie etwas werden, dachte sie, denn erstens bin ich viel zu unsportlich, zwei-tens viel zu ängstlich und drittens – schon viel zu alt dazu.
Als sie am Rande der Wiese schon eine Weile die Landemanöver beo-bachtete, kam ein sportlich gekleideter, junger Mann auf sie zu. „Schön, nicht, den farbigen Adlern zuzuschauen“, sprach er sie freundlich an. „Haben Sie Lust auf einen Passagierflug?“ Simone, die sich zu ihrem Er-staunen „ja“ sagen hörte, bevor sie nachdenken konnte, liess sich von dem sonnengebräunten Mann, der einer ihrer Söhne hätte sein können, erklären, was ein Tandemflug ist.
„Seien Sie unbesorgt“, sagte Rolf, der sich als Flugschulleiter vorstellte, „als Passagierin brauchen Sie keinerlei Vorkenntnisse. Ob Jung oder Alt, Draufgänger oder Geniesser, jeder kann bei einem Tandemflug abheben wie ein Vogel. Als Fluggast erfahren Sie die einmaligen Eindrücke in der Luft, den Wind und das intensive Erlebnis von Freiheit, hoch oben über allem zu schweben! Alles was Sie dazu brauchen, ist etwas Zeit und ein bisschen Mut. Helm, gutes Schuhwerk, eine Windjacke und Handschuhe, alles was zum Fliegen dazugehört, wird von uns zur Verfügung gestellt.“ Begeistert lauschte Simone den Ausführungen des Fluglehrers. Trotzdem kamen ihr Bedenken, die Rolf mit sachlichen Argumenten jedoch rasch zu beseitigen wusste.
Kurz darauf fuhren sie zum Startplatz hinauf. Warum sie das alles mit-machte, wusste sie nicht. Aber umkehren wollte sie auch nicht. Nachdem sie den Gleitschirm ausgebreitet hatten, erklärte ihr Rolf alles Nötige, das sie über Start und Landung wissen musste. Darauf half er ihr ins Gurtzeug und passte ihr den Helm an. Dass dabei ihre Frisur leiden würde, kam ihr vor Aufregung gar nicht in den Sinn.
Der Start verlief problemlos. Auf Rolfs Kommando ging’s einige schnelle Schritte den nicht sehr steilen Hang hinunter. Schon griff der Wind unter den Schirm und trug die beiden sanft und leise davon. Auch wenn Simone vor dem Start nervös war - einmal abgehoben, wurde sie von einem be-freienden Hochgefühl erfasst und schwebte in eine neue fantastische Welt. Inmitten der einmalig schönen Region konnte sie die Berge und Tä-ler aus der Vogelperspektive erleben und geniessen.
Bald einmal hatte der erfahrene Fluglehrer thermische Aufwinde ausfin-dig gemacht, die sie in flottem Steigflug in unbekannte Dimension hoben. Simone genoss dieses wunderbare Spiel mit dem Wind. Mit ihrem hinter ihr befindlichen und Ruhe ausstrahlenden Piloten glaubte sie, alle Grenzen hinter sich zu lassen. Für kurze Zeit durfte sie den Schirm sogar selbst steuern. Sie jauchzte innerlich vor Freude und konnte es kaum fassen, dass ihr dieses Glück zuteilwurde.
Nach ein paar spannenden Flugmanövern und einer atemberaubenden Steilspirale flog Rolf eine Volte und setzte zum Landeanflug an. Dann hiess es Beine ausfahren und sich auf den Boden konzentrieren. Mit ei-nem sanften Hüpfer setzten sie mühelos auf der Grasfläche auf.
Als sie wieder festen Boden unter den Füssen hatte, musste sich Simone einen Moment an Rolf festhalten, um Georg nicht gleich entgegenzuren-nen, damit sie ihm ihren erfüllten Traum vom Fliegen erzählen konnte.
Heiratsschwindel besonderer Art
Mit einem solchen hatten sich vor einem guten halben Jahrhundert die Behörden zu befassen. Täter und zugleich Opfer war ein wegen liederlichem Lebenswandel Bevormundeter namens Konrad, welchem ein klei-nes Vermögen gehörte. Sein in Geldnöten steckender Freund Anton ver-stand es, den Entmündigten glauben zu machen, die Bevormundung wer-de automatisch aufgehoben, sobald sich Konrad verheirate. Woher nun aber die Braut nehmen, fragte sich dieser? Anton, der sich für diesen Dienst eine nette Entschädigung ausbedungen hatte, wusste eine Adres-se. Er glaubte, seine frühere Freundin Dora werde mithelfen, „das Ding“ zu drehen.
Anton und Konrad begaben sich daher zu der ebenfalls nicht ganz lupen-reinen Dora und machten ihr den Vorschlag, sie solle gegen ein Entgelt von einigen hundert Franken den heruntergekommenen Konrad heiraten. Zuerst wollte sie den unsauberen Handel nicht mitmachen, konnte dann aber der Versuchung der angebotenen Barentschädigung nicht widerste-hen und willigte ein, wenigstens scheinbar die Frau des kahlköpfigen, hin-kenden und etwas einfältigen Konrad zu werden.
Die Eheverkündung wurde vorschriftsgemäss durchgeführt, ohne dass die Angelegenheit dem Vormund zu Ohren gekommen wäre. Es erfolgte daher auch kein Einspruch gegen diese Eheschliessung. Als dann aber die Trauung festgesetzt werden sollte, bekam es Dora mit der Angst zu tun und wollte aussteigen. Anton und Konrad liessen sich jedoch nicht entmutigen. Dora hatte eine ungefähr gleichwertige Schwester namens Odette, die war ohne weiteres bereit, ihre Schwester zu vertreten. Aber nicht etwa, dass eine neue Eheverkündung auf den Namen der neuen Braut durchgeführt wurde. Das erachtete die famose Gesellschaft doch als zu gefährlich, hätte doch diesmal der Vormund Wind von der ganzen Sache bekommen können. Konrad liess sich durch das Zivilstandsamt, das die Verkündung durchgeführt hatte, eine so genannte Trauungsermächtigung zukommen, eine Urkunde, die jeweils ausgestellt wurde, wenn eine Hoch-zeit an einem anderen Ort als dem des Bräutigams stattfinden sollte. Weil so etwas recht oft vorkam, hatte der Zivilstands Beamte keine Beden-ken, dieses Dokument auszuhändigen. Hiermit konnten sich also die Brautleute bei einem beliebigen Zivilstandsamt trauen lassen. Mit dem gewichtigen Amtspapier fuhren nun Konrad und Odette zu einem Zivil-stands Beamten, der weder den Bräutigam und die beiden Schwestern noch die Trauzeugen Anton und seine neue Freundin kannte. In gutem Glauben wurde die Trauung von Konrad und Dora vollzogen, ins Eheregis-ter eingetragen und allseitig unterschrieben.
Die Schiebung war also gelungen, aber der Erfolg blieb dennoch aus. Konrad musste sich nämlich von seinem Vormund belehren lassen, dass er trotz seiner Verehelichung nicht über sein Geld verfügen könne. Das war ein harter Schlag. Vollends schlimm aber wurde die Situation, als die wirkliche Dora ein Verhältnis mit einem italienischen Saisonarbeiter ein-ging und dieser Verbindung eine Tochter entspross. Der Zivilstands Be-amte, der dieses Kind ins Geburtsregister eintragen sollte, musste näm-lich feststellen, dass es gar keine ledige Dora mehr gab, weil diese, wenigstens aktenmässig, nun die Frau des Konrad geworden war, das Kind somit als dessen eheliche Tochter gelten musste. Dagegen protestierte die Kindsmutter und die ganze Sache kam aus. Die Beteiligten sind da-raufhin vom Strafrichter verurteilt worden und konnten anschliessend über folgendes Ergebnis nachdenken:
Weil Konrad nach wie vor nicht über sein Geld verfügen konnte, sind so-wohl Anton wie Odette um ihren Gaunerlohn gekommen. Das Italiener-kind wurde richtig als uneheliches Kind der Dora ins Geburtsregister ein-geschrieben. Was den Eintrag im Eheregister betraf, so ist dieser berich-tigt worden. Anstelle von „Dora“ wurde „Odette“ geschrieben, denn sie hatte auf die Frage des Zivilstands Beamten mit Ja geantwortet. Konrad und die übelbeleumdete Odette hatten also fortan als Eheleute zu gelten, auch wenn ihnen dieser Zivilstand in keiner Weise passte.
Es scheint sich also damals schon nicht gelohnt zu haben, einerseits eine Partnerschaft aus Profitgier einzugehen und andererseits die Behörden zum Narren halten zu wollen.
Heitere Geselligkeit
Wie alle anderen Gäste war auch das Ehepaar Manser hier, um auszu-spannen und zu geniessen. Vor allem, weil man in diesem Landhotel die Gäste zu verwöhnen weiss, was zahlreiche Besucher schon mehrfach erleben durften, hatten ihnen ihre vier Kinder zur goldenen Hochzeit eine Woche Ferien in dieser Wohlfühloase geschenkt. Mit der Invalidenrente vom Vater, der seit einem Arbeitsunfall vor etlichen Jahren im Rollstuhl sass, hätten sie sich diesen Aufenthalt nicht leisten können.
Liebevolle persönliche Betreuung und köstliche Gaumenfreuden sind hier Begriffe, die halten, was sie versprechen. Die Kreativität der Küchenbrigade, die den Gast aus Leidenschaft mit marktfrischen Gerichten ver-wöhnt, ist längst kein Geheimtipp mehr. Freunde des guten Essens wis-sen um die vielfältigen und fantasievollen kulinarischen Köstlichkeiten, die sie hier erwarten. Hier stimmte einfach alles!
Was den Jubilaren besonders gefiel, war die geräumige und helle Suite zur Südseite mit Sicht auf den See. Hier konnte Herr Manser am Fenster oder auf dem Balkon seine Tageszeitung lesen und zwischendurch die anmutige Umgebung betrachten. Seine Frau, eine einstige Bäuerin, muss-te sich erst daran gewöhnen, dass hier einmal für sie gesorgt wurde und nicht sie für alles da sein musste.
Die Hauptferienzeit war zu Ende und somit ideal für Besucher, die es gern etwas ruhiger haben. Doch mit der Ruhe sollte es schon bald vorbei sein, denn bereits am Abend kamen zwei Familien mit ihren fünf halb-wüchsigen Kindern an.
Überall, wo sich die Jungspunde aufhielten, ging es laut und lustig zu und her. Bereits beim Frühstück wurde an ihrem Tisch unbekümmert drauflos geplappert, als wären sie allein hier. Mitunter war von ihrem Gekicher das ganze Stübli erfüllt. Die meisten Gäste schielten mehr oder minder verdriesslich zu ihnen herüber. Die Pärchen im mittleren Alter versuch-ten, das Getue so gut als möglich zu ignorieren. Die Älteren, die zu zweit und oft wortlos an ihren Tischen sassen, konnten sich abschätzige Bemerkungen über die moderne Erziehung, wenn auch nur murmelnd, nicht verkneifen. Einzig den Mansers schien der jugendliche Übermut nichts auszumachen. Sie waren auch die einzigen Besucher, die sich mit den Wirbelwinden unterhielten, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. „Wer kann Kindern schon böse sein, wenn sie ausgelassen sind, wie sie es schliesslich auch sein sollen, solange es möglich ist“, sagte Herr Manser zu seiner Frau und nickte der Jungschar mitunter aufmunternd zu.
An zwei Tagen regnete es in Strömen. Weil die Teenager nicht draussen herumtollen konnten, geschah dies im Treppenhaus und auf den Etagen des Hotels. Es wurde Fangen und Verstecken gespielt, was wiederum Kopfschütteln und Unverständnis bei einigen Gästen auslöste. Mehr als einmal musste die Chefin einschreiten, um für mehr Ruhe zu bitten, weil bei ihr deswegen Reklamationen eingegangen waren.
Beim Nachtessen war es im Speisesaal mucksmäuschenstill. Die Kinder sassen artig neben ihren Eltern. Kein Gekicher, niemand räusperte sich. Es war fast so, als wohne man einem Trauergottesdienst bei. „Aha“, flüs-terte ein Senior seiner Frau zu, „hat es also genützt, dass ich bei der Leitung reklamiert habe!“ Andere Besucher schauten verwundert in die Runde, und man spürte, dass ihnen die ungewohnte Stille alles andere als behagte.
Als das Servicepersonal mit Abräumen beschäftigt war, begab sich Herr Manser im Rollstuhl an den Tisch zu den zwei Familien mit den Kindern. Niemand wusste, was der invalide Herr beabsichtigte. Kurz danach ver-liessen drei der Jugendlichen den Saal, kehrten aber schon nach wenigen Augenblicken mit Instrumenten in der Hand wieder zurück. Das Mädchen mit einer Geige, der eine Bursche mit einer Harmonika und der andere mit einer Klarinette.
Nachdem Herr Manser wieder an seinem Platz war, stellte sich das Mäd-chen selbstbewusst vor die Burschen und entschuldigte sich für den Lärm, den sie in den vergangenen Tagen verursacht hatten. Dafür möchten sie heute Abend ein bisschen musizieren, wenn es niemanden störe. „Im Gegenteil“, tönte es zustimmend von verschiedenen Seiten.
Bereits beim dritten Ständchen sangen zwei Damen vom Nebentisch mit. Nach und nach stimmten auch andere in die Melodie ein, sodass bald eine fröhliche Stimmung entstand. Ein Ehepaar fing sogar an zu tanzen. Nach einiger Zeit hätte man meinen können, es finde eine Familienfeier statt.
Derweil gestanden auch die überempfindlichsten Gäste ein, dass eine Gruppe mit Altersdurchmischung zwar etwas lärmiger und manchmal auch anstrengender, dafür aber umso lebendiger ist. Und Lebhaftigkeit ist allemal spannender als tödlicher Ernst, stummes Dasitzen oder aufrei-bendes Diskutieren über Kernenergie, Ausländerpolitik, Finanzjongleure, Korruption, Schulreformen, Überkontrolle der Bürger, den gläsernen Pa-tienten oder über weitere Begebenheiten, die mit Debattieren ohnehin nicht geändert werden können und daher meistens nur Ärger bereiten.
Zum Abschluss dieser spontanen und fröhlichen Geselligkeit wurde allen ein spezielles Dessert serviert, offeriert vom Hotelier Paar, das sich sehr darüber freute, dass ihr Gästehaus seinem Ruf als Wohlfühloase einmal mehr gerecht wurde.
Schmetterlinge im Bauch
Johanna ist eine Frühaufsteherin, auch in den Ferien. Wie gewohnt begab sie sich auch an diesem Morgen eine halbe Stunde vor dem Frühstück ins Freie. Bedachtsam spazierte sie durch die gepflegte Anlage, vorbei an Blumenrabatten und weissen Sonnenliegen am Rande des Naturpools, sah den ersten Golfern an der angrenzenden 18 Loch-Anlage zu und freute sich am neu erwachenden Tag.
Geräuschvoll sog sie die frische Luft ein, die das nächtliche Gewitter ge-reinigt hatte. In Gedanken versunken blieb sie bei einem Rosenstrauch stehen, bückte sich zu einer offenen Blüte hin und roch an ihr. Der zarte Duft rief Erinnerungen wach und mit Wehmut dachte sie an die Zeit, als sie die Ferien noch zusammen mit ihrem verstorbenen Mann verbringen konnte. Dann schlenderte sie weiter und hielt auf die kleine Gartenlaube zu, das von kantigen Natursteinen, blühenden Blumen und Koniferen umsäumt ist. Darum herum Rhododendren, wie es sich für eine verträumte Ecke gehört. Auf der grossen Bodenplatte hielt sie inne und genoss die ersten Sonnenstrahlen, die über das angrenzende Gebirge in den makel-losen Himmel blinzelten.
Bis jetzt hatte sie nicht gemerkt, dass sie nicht die Einzige war, die einen Morgenspaziergang im Park unternahm. Erst als der Mann, ein elegant gekleideter älterer Herr, möglicherweise in ihrem Alter, mit silbernem Haar und aufrechtem Gang, sich räusperte, drehte sie sich nach ihm um. Offenbar war er ein neuer Gast, denn sie hatte ihn noch nie gesehen. Johanna tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt und begab sich auf die andere Seite. Bei ihrer so genannten Sommermorgenandacht liess sie sich normalerweise durch nichts ablenken und widmete sich daher wieder den blühenden Sträuchern. Aber ihr Augenmerk galt nicht nur den Blüten. Entgegen ihren Prinzipien schaute sie immer wieder verstohlen nach dem unbekannten Mann. Als sie sich einmal aus Distanz zufällig gleichzeitig ansahen, grüsste der stattliche Herr sie freundlich, und es schien, als würde er wie sie selbst längst Vergangenem nachsinnen. Etwas verlegen erwiderte Johanna den Gruss mit leichtem Kopfnicken, wurde nervös und erkannte, dass der Gartenbesucher sie nicht nur befangen machte, son-dern dass dieser Mann sie geradezu anzog. Ihr Grundsatz, jemand ande-rer störe die Gelassenheit ihres morgendlichen Rituals, hatte mit einem Mal umgeschlagen in ein Interesse, mit dem sie nicht im Entferntesten gerechnet hatte. Ob dieselbe Zuneigung auch anderorts entstanden wäre, wusste sie nicht. Doch jetzt, in diesem Park, wo sie beide die einzigen waren, wo die Umgebung herausgeputzt wie am ersten Schöpfungstag aussah, überkam Johanna plötzlich ein starkes Verlangen nach Zweisam-keit.
Gleichzeitig plagten sie Schuldgefühle: Was ist bloss in mich gefahren? Was für Empfindungen wühlen mich plötzlich auf und bringen mein bisher geordnetes Innenleben derart durcheinander? Und das in meinem Alter!
Äusserlich noch immer die Dame im gereiften Lebensabschnitt, im Innern aber betört wie das Mädchen, das sie einmal gewesen war und das nun wieder zu erwachen schien, wollte sie möglichst schnell den Garten ver-lassen. Um aber nicht aufzufallen, weil eine solche Anlage dazu einlädt, sich Zeit zu nehmen und nicht herumzurennen, gab sie sich Mühe, ge-mächlich dem Hotel zuzuschreiten. Im selben Moment begab sich auch der Herr mit dem silbernen Haar in dieselbe Richtung. Wenn sie nicht so-fort stehen blieb, würde sie auf ihn treffen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, wie es seit Jahren nicht mehr geschlagen hatte.
Hin- und hergerissen von ihren Empfindungen und beinahe trunken von einer fast nicht zu bändigenden Leidenschaft obsiegte letztlich ihre Vernunft. Ob aus Angst, Scham oder Treue über den Tod hinaus, wusste sie nicht. Johanna blieb augenblicklich stehen, wo sie war, bückte sich und tat so, als ob sie etwas Bedeutendes entdeckt hätte.
Bevor der Mann den Park verliess, blickte er sich kurz zu ihr um und schaute sie fragend an. Dann öffnete sich die automatische Schiebetüre beim Hotel und eine Frau, eine Seniorin auch sie, rief ihm entgegen: „Da bist du ja! Ich dachte schon, ich müsste heute allein frühstücken.“ „Keine Sorge, ich bin schon da“, gab er freundlich zurück.
Als sich Johanna, immer noch sichtlich bewegt, wieder aufrichtete, kniff sie sich in den Arm, um die aufgeschreckten Schmetterlinge in ihrem Bauch wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte über ihr schwärmerisches Gebaren, zu dem sie sich hinreis-sen liess, leise vor sich hin.
Lenis Alltag
Am Bach neben dem alten Haus gibt es eine Waschküche, die von aussen über einen Hof erreichbar ist. Ein kaltes und feuchtes Gemäuer. Der Wind pfeift durch alle Ritzen. Hinten in der Ecke steht ein Waschkessel mit kupfernem Einsatz. Daneben ein Bottich mit eingeweichter Wäsche. An den Wänden hängen Wäschestampfer und hölzerne Zangen. Auf ei-nem Dreibein steht ein Zuber, darin das Waschbrett. Auf einem Schränk-chen liegen ein paar Kanten Kernseife und Bürsten. Elektrisches Licht gibt es keines. Die Petroleumlampe muss genügen. Das Wasser muss vom Bach herangetragen werden.
Jeweils vor fünf Uhr heizt sie den grossen Waschkessel ein. Mit Papier, Knochen und alten Schuhen. Holz und Kohlen sind Mangelware. Bei gutem Wetter ziehen die Dampfschwaden ins Freie. Aber jetzt, an den diesigen Novembertagen verbleiben sie im Raum und nässen einen durch und durch.
Gut, denkt Magdalena, die alle nur Leni nennen, dass die Lauge lange heiss bleibt. So kann sie nach dem Wäscheschwemmen im bitterkalten Bach ihre Hände darin wieder aufwärmen. Im eisigen Wasser sterben ihr immer die Finger ab. Waschen sei einfach, sagt sie, aber das Spülen und Auswinden der Wäsche von Hand sei eine Tortur. Ihre Hände sind stark und gross wie eine Männerhand, doch am Waschtag sind sie schmerzempfindlich, gerötet und aufgeschwollen. Leni ist um die sechzig. Fast zwei Drittel ihres Lebens wäscht sie für noblere Leute.
Ihre Kinder hat sie allein grossgezogen, bis sie auf eigenen Füssen stan-den. Und ihren kranken Mann hat sie versorgt, dass er es leichter hatte, bis es ihm in einer frühen Morgenstunde für immer leicht wurde.
Beide träumten sie einst von einer gemeinsamen Zukunft. Er, ein hünen-hafter Rossknecht und sie, eine fleissige Schneidertochter. Heiraten wür-den sie und in eine schöne Wohnung ziehen, mit Licht und einem Bade-zimmer. Und Kinder würden sie haben, zwei oder drei. Doch der Traum war von kurzer Dauer gewesen. Die Kinder waren gekommen, eines nach dem anderen, bis es fünf waren. Wie sehr sie auch sparten, aus der schönen Wohnung wurde trotzdem nichts. Ein schwerer Unfall fesselte den Mann ans Bett. Da hat Leni aufgehört, von einer besseren Zukunft zu träumen. Stattdessen hat sie die Ärmel hochgekrempelt, um für die nobleren Leute in der Umgebung die Wäsche zu waschen. Seither schrubbt und bürstet sie Tag für Tag, und denkt dabei weder an ihre Rü-ckenschmerzen noch daran, dass die Waschlauge nicht nur an ihren Hän-den frisst.
Im Sommer legt sie die weissen Wäschestücke entweder zum Bleichen auf die Wiese oder hängt sie im Garten über eine Leine. Während des Winters oder bei schlechtem Wetter muss sie die nasse und schwere Wä-sche in einem Weidenkorb auf den Estrich tragen. Eine Arbeit, die ihr immer mehr zu schaffen macht. Bei strenger Kälte frieren ihr beim Auf-hängen der Wäsche oft die Finger an der Leine fest. Zudem ist das Abnehmen der steif gefrorenen Laken dann doppelt mühsam. Meistens ist es späte Nacht, wenn sie die saubere, trockene Wäsche mit dem Leiter-wagen der Büglerin bringt. Zu Hause holt sie dann den Eintopf hervor, der den Tag über unter der Bettdecke warmgehalten wird, um sich erst-mals am Tag niederzusetzen und etwas zu essen. Wie immer, muss sie vor dem Schlafengehen für morgen noch allerhand herrichten.
Vor kurzem hat Leni eine Bekannte erzählt, dass es bald Waschmaschi-nen geben soll. Es nähme sie Wunder, hat sie darauf gesagt, wie eine Maschine wissen soll, an welchen Stellen die Wäsche besonders schmutzig ist. Und von was sie dann leben sollte, wenn die feinen Leute keine Wäscherinnen mehr brauchen? Aber das werde sicher nur wieder ein Traum von einer besseren Zukunft sein. Und mit dem Träumen habe sie schon lange aufgehört.
Organischer Disput
Als das Grosshirn die Köstlichkeiten auf der Speisekarte registriert hatte, leuchteten die Augen und dem Mund lief bereits das Wasser zusammen.
Jetzt aber her mit etwas Währschaftem, knurrte der Magen.
Beherrsche dich bitte ein bisschen, tadelte ihn der Dünndarm.
Bei dem dreht sich immer alles nur ums Essen, klapperten die Zähne.
Mich stört das in keiner Weise, schwafelte die Leber.
Kunststück, dich interessiert sowieso mehr das Flüssige, konterte die Niere.
Wenn es nur nichts Fettes gibt, jammerte die Galle.
Ich bin an Überstunden gewohnt, rechtfertigte sich die Milz.
Mir ist alles recht, wenn es nicht versalzen ist, schnalzte die Zunge.
Wie ihr wisst, vertrage ich nicht allzu viel Süsses, sabberte die Bauch-speicheldrüse.
Macht was ihr wollt, aber überspannt es bitte nicht schon wieder, trom-melte das Zwerchfell.
Habt ihr auch ans Übergewicht gedacht, fragte das Bewusstsein.
Daran ist nicht nur das Essen schuld, polterte der Bauch.
Dazu möchte ich mich lieber nicht äussern, keifte der Blinddarm.
Hoffentlich erwischt es den richtigen Weg, japste die Luftröhre.
Musst dich nur nicht bei jedem Happen einmischen, gurgelte die Speiseröhre.
Wenn die Diskussion noch lange dauert, geht mir die Luft aus, räusperte sich die Lunge.
Nun hört doch endlich mit dem Gejammer auf und konzentriert euch auf das Gute, flehte das Herz.
Wäre mir auch recht, mir stinkt dieses Geplapper schon lange, bullerte der Dickdarm.
Schluss mit dem Disput, dachte das Kleinhirn und befahl dem Kehlkopf etwas Feines zu bestellen mit der Bemerkung: Wenn sich alle gestärkt haben, herrscht wieder Ruhe im Haus.
Praktikum auf dem Land
Gerade mal eine Woche war es her, seit der neue Pfarrer in das kleine Bauerndorf versetzt wurde. Die meisten Bewohner wussten von ihm nur, dass er jung war, aus einem Professorenhause stammte und die letzten drei Jahre als Pfarrer in einer Grossstadt waltete. Wie es der Brauch war, wollte der Geistliche möglichst schnell seine „Schäfchen“ aufsuchen, damit er sich von seiner Kirchgemeinde ein Bild machen konnte. Als ers-tes stand der Gruberhof auf seinem Besucherplan. Da er im Haus nie-manden antraf, schaute er im Stall nach. Im ersten Moment hörte er nur ein Schnaufen und Keuchen. Erst als sich seine Augen etwas an das düs-tere Licht gewöhnt hatten, gewahrte er den Bauer. Wenn er störe, rief ihm der Pfarrer zu, komme er lieber ein anderes Mal. Ganz im Gegenteil, antwortete der Bauer aus dem Halbdunkel. Er hätte für seine Visite kei-nen besseren Zeitpunkt wählen können. Alle anderen seien nämlich bei der Feldarbeit und allein komme er hier nicht zurecht. Blösch, die trächtige Kuh sollte kalben, doch wolle es nicht vorwärts gehen. Da seien zwei zusätzliche Hände gerade recht. Er solle nur gleich hereinkommen und gehörig am Strick ziehen, der dem Kälbchen um die bereits herausre-ckenden Vorderläufe gebunden war. Der Pfarrer stellte seine Mappe ab und machte sich an die ungewohnte Arbeit. Obwohl er keine Ahnung hat-te, was hier vor sich ging, zog er am Seil so fest er konnte, doch nichts geschah. Plötzlich war es dann so weit. Es gab einen Ruck, das Kalb war da und der Seelsorger rutschte auf einem Kuhfladen aus. Ehe er sich versah, lag er in einem Strohhaufen. Ob nun jener oder das neugebore-ne Kälbchen in dieser ungewöhnlichen Lage mehr verdutzt war, konnte der Bauer nicht sagen. Ihm jedenfalls gefiel die Sache, obwohl das Stroh eigentlich fürs Kalb bestimmt war.
Endlich stand der Pfarrherr auf und schaute verlegen auf seine ver-schmutzten Kleider. Leicht schmunzelnd sagte der Bauer zum Kälbchen, dass es ein besonderes Glück habe, denn der Pfarrer sei gerade zur Stelle. Ein tüchtiger Mann, der, wie es scheine, nicht nur mit dem Psalmen-buch umgehen könne. Und ob Blösch einverstanden sei, dass sie ihn das nächste Mal auch wieder dabeihaben möchten. Der Pfarrer aber meinte, dass es vernünftiger wäre den Tierarzt kommen zu lassen, nahm seine Mappe und räumte schleunigst das Feld.
Wetter über dem Ährenfeld
Flimmernde Hitze liegt über dem rotgoldenen Kornfeld und lässt die her-anreifende Frucht mit ihrer Kraft gedeihen. Als berühre er behutsam die feinen Borsten, streicht der Sommerwind durch die Halme und verführt die prallgefüllten Ähren zu einem wiegenden Reigen. Am Ende des holprigen Karrenweges, der den saftigen Klee vom Weizen trennt, steht seit über zwei Jahrhunderten eine stattliche Linde. Ihre weit ausladenden Äste versprechen vorbeiziehenden Naturfreunden erfrischende Kühle während wohlverdienter Rast. Eingeritzte Herzen und Initialen im behäbigen Stamm zeugen von diesem beliebten Ort inmitten intakter Landschaft.
Nun nähert sich dem alleinstehenden Baum eine ausgelassene Wander-schar. Aufgeschreckt durch den Lärm der balgenden Kinder, die ihren Eltern den Feldweg entlang vorauseilen, schwirrt eine Schar Sperlinge auf. Mit aufgeregtem Zwitschern verlassen sie ihren reich bestellten Fut-terplatz, drehen eine Runde und verschwinden sogleich wieder im wallen-den Getreidefeld.
Schon treffen die letzten der fröhlichen Wandersleute unter dem rau-schenden Blätterdach ein. Während die muntere Gesellschaft den mitge-brachten Proviant aus den Rucksäcken kramt, schwingt sich vom son-nenverbrannten Wurzelstock daneben ein Bussard in die Höhe. Mit weh-mütigem Schrei beklagt er sich über die Störenfriede in seinem Revier. Die braun gesprenkelte Feldlerche lässt sich dagegen nicht beirren. Tril-lernd und scheinbar schwerelos steigt sie hinauf, hinein ins unendliche Blau des Himmels, bis sie schliesslich dem Auge entschwindet.
Kurzerhand ist unter der Linde auf einem blauweiss getupften Tuch ein reichhaltiges Picknick ausgelegt. Mit einem Offiziersmesser in der schwie-ligen Hand, die an Werktagen das abgegriffene Lenkrad eines Fernlasters umklammert, teilt einer der Erwachsenen einen herrlich duftenden Laib Brot in ungleiche Scheiben auf. Dann wird kräftig zugelangt.
Den Kindern, die trotz vollem Mund noch haufenweise zu plappern wis-sen, bleibt vor lauter Essgier mitten im Satz die Luft weg. Auch von den Älteren vernimmt man ausser lobenden Worten für die schmackhaften Speisen nichts mehr. Hunger und Durst sind scheinbar kaum zu bändigen. So werden erneut Speisen und Tranksame hergerichtet.
Daneben rauscht gleichmässig das Ährenfeld.
Das zweite Brot wird aufgeschnitten und in einer fein geblümten Serviet-te auf einen rohen Kalkstein gelegt. Durch eine Unachtsamkeit stösst eines der Kinder gegen den Brotscheibenturm. Dieser kippt um – und schon rollen die Brotschnitten über den fetten Lehmboden. Geraume Zeit vergeht, bis sich aus der jetzt doch satt gewordenen Gruppe jemand bemüht, das bis anhin allen mundende, nun auf dem Boden liegende Brot aufzuheben.
Einer der Männer legt sich derweilen ins halbhohe Gras, schliesst die Au-gen, streckt die Beine von sich und fährt mit massierenden Handbewe-gungen über die reichlich gefüllte Magengegend. Ein ähnliches Völlegefühl verspürt auch der schwergewichtige Junggeselle, der sich plump an den kühlen Baumstamm lehnt und seinen fettleibigen Körper ganz dem Ver-dauungsprozess überlässt.
Mit peinlicher Sauberkeit, als wäre es der eigene Haushalt im trauten Heim, räumen die Frauen die Freiluftküche auf. Ausser dem vorhin am Boden liegenden Brot wird alles wieder in die Rucksäcke verstaut. Frisch gepackt liegen diese in einer Reihe am Wegrand. Schlaff hängen die abgetragenen Lederriemen über die kleiner und leichter gewordenen Säcke.
Kurz vor dem Aufbruch drängt noch ein Mädchen, die von der Erde leicht beschmutzten Brotstücke mitzunehmen, für Nachbars Schafe zu Hause, wie es sagt. Zunächst finden die Worte kein Gehör. Erst als das Mädchen darauf beharrt, nimmt ihm seine Mutter das Brotpaket aus den Händen. Stück um Stück wird von der abmarschbereit stehenden Gruppe noch schnell begutachtet, dann wegen ein paar Erdkrumen an der Knusperrind, als ungeniessbar befunden. Ein vorlauter Bursche mit strähnigem Haar sammelt nun mit prahlerischem Getue die Brotreste ein. Dann wendet er sich einige Meter von seinen Gefährten ab, neigt sich leicht nach hinten und holt mit seinem muskulösen Arm zum Wurf aus. Ehe man sich ver-sieht, flattern die hellbraun umrandeten Scheiben in hohem Bogen durch die Luft. Nahe beieinander klatschen sie auf dem ausgetrockneten Boden im Kornfeld auf.
Unbeschwert und ohne Kommentar über diesen Vorfall, setzt die Truppe ihre Wanderung fort. Einen Moment lang sieht es so aus, als richteten sämtliche goldenen Ähren ihre schweren Köpfe auf, um dadurch den Himmel auf eine derart schändliche Tat aufmerksam zu machen. Und der Himmel scheint die Klage verstanden zu haben, denn urplötzlich kommt ein heftiger Wind auf. Als hätten sich sämtliche Naturelemente gegen diesen Frevel zu einem Vergeltungspakt zusammengeschlossen, zieht eine drohende, grauschwarze Wolkenbank mit ungeheurer Geschwindig-keit über die Wanderschar. Glühenden Lanzen gleich brechen grelle Son-nenstrahlen durch zerrissene Wolkenfenster und verleihen dem vom Sturmwind arg gepeinigten Kornfeld einen geisterhaften Glanz. Schon fallen die ersten Regentropfen und hinterlassen auf dem Ackerboden schwarze Kleckse. Wie ein Feuerpfeil zuckt der erste Blitz bedrohlich nahe gegen die windzerzauste Krone der Linde. Höllischem Gelächter gleich quittiert der Donner mit ohrenbetäubendem Grollen den vernichtenden Einsatz des Wettergottes.
Längst schon haben die Wanderer ihr Regenzeug übergezogen und suchen vergeblich nach einem Unterstand. Der einzige Zufluchtsort in der Nähe wäre die Linde – doch wer stellt sich bei einem Gewitter schon un-ter einen Baum.
Durch den ungewohnt heftigen, noch nie erlebten Wetterausbruch klam-mern sich die Kinder verängstigt an ihre Mütter. Auch den Erwachsenen steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Niemand kann sich zusam-menreimen, wie und warum, sogar entgegen der Wetterprognose, sich aus heiterem Himmel ein derartiges Unwetter entwickeln konnte. Vorläu-fig bleibt den Naturfreunden nichts anderes übrig, als sich gegenseitig, eng aneinandergedrängt, vor dem niederprasselnden Regen und den pe-riodischen Sturmböen zu schützen.
Wieder fährt ein Blitz aus bleischweren Wolkenfetzen hernieder und lässt die mittlerweile durchnässten Wandersleute ihre Ausgesetztheit noch deutlicher spüren.
Jetzt scheint der Wettersturz seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Mit unbändiger Heftigkeit drischt der Fallwind auf das Kornfeld ein. Wie schäumende Gischt eines wild gepeitschten Meeres wirken die hin- und her schlenkernden, tropfnassen Fruchtkörper. Viele der noch im Saft stehenden Stängel mögen der gnadenlosen Gewalt nicht standhalten. In wirrem Durcheinander liegen sie geknickt in der aufgeweichten, breiigen Erde.
Das kleine Mädchen, das zuvor die weggeworfenen Brotreste für die Schafe mitnehmen wollte, flüstert mit weinerlicher Stimme: „Vielleicht ist es wegen dem Brot“.
Mutlos stehen die Erwachsenen da, schauen einander verstohlen an und senken dann beschämt die Häupter.
Auf einmal lässt der Regen nach, der Wind hält sich zurück und die er-drückende Wolkendecke löst sich auf. Behutsam, wie gestürzte alte Men-schen, richten sich einzelne, von Lehm Brei zu unkenntlichen, gelbbrau-nen Klumpen verklebte Ähren wieder auf. Trüben Tränen gleich rinnt das schmierige Wasser an den Borsten entlang und tropft in die matschigen Furchen. Die Kinder suchen eine Antwort für das Vorgefallene. Die Älteren aber schweigen und schauen bestürzt auf das geschädigte Kornfeld.
Schrittmacher
Immer wenn es hektisch wurde, was bei seinem Beruf und den vielen Vereins- und Freizeitaktivitäten nicht selten der Fall war, kroch ein feiner Schmerz über seine Herzgegend, lief Richtung Hals und strahlte dann über die Schulter bis in die Fingerspitzen der linken Hand aus. Wird mit Rheumatismus oder einer Verspannung zu tun haben, sagte er sich jeweils und überspielte die Warnsignale, indem er sich meistens noch inten-siver mit Arbeit eindeckte. Seiner Frau gegenüber äusserte er sowieso nichts von diesen Vorkommnissen, weil diese ihn bereits seit längerer Zeit anhielt, in seinem fortgeschrittenen Alter endlich ein bisschen kürzer zu treten und mehr auf die Gesundheit zu achten. Du und dein Gesundheitsfimmel, antwortete er darauf jeweils lächelnd und schnitt schnell ein an-deres Thema an. Irgendeinmal war dann so weit: Herzinfarkt!
Doch keine Panik. Versagen die Herzen von Führungskräften in Politik und Wirtschaft, braucht das niemanden zu beängstigen. In einer Routineoperation pflanzen Mediziner den Gestressten eine kleine Elektronik, Schrittmacher genannt, ein und bereits nach ein paar Tagen sind die Ma-nager wieder fit, hundertprozentig, wie die Spezialisten erklären. Das reicht aus, damit sich diese Topleute erneut in ein noch höheres Arbeits-pensum stürzen können, als sie es vor dem Kollaps gewohnt waren.
Dass unter Dauerstress keine gewinnbringenden Resultate erzielt werden, ist ebenso erwiesen wie der Umstand, dass dadurch das Sensorium für das Umfeld und der Blick für das Ganze verloren gehen. Daher erstaunt es umso mehr, dass die Gesellschaft trotzdem auf tag- und nachtarbei-tende, chronisch überlastete Topmanager setzt und sich von diesen „Schrittmachern“ Arbeitsmodelle wie Jobsharing, reduzierte Arbeitszeiten, gerechtere Arbeitsaufteilung, weniger Arbeitslose und vieles andere mehr erhofft.
Übrigens, dieses Verhaltensmuster ist hauptsächlich für die männliche Gesellschaft typisch.
Letzte Nachtwache
Die in den weissen Kitteln waren gegangen. Sie haben ihre Pflicht getan. Im Flur ein unterdrücktes Hüsteln, ein letztes Schlurfen. Dann war es still, als wären wir allein, in diesem vollbesetzten Haus.
In den Strassen pulsierte das Leben weiter, lockte mit all seinen Verblen-dungen. Hier aber hatte das Getue keine Bedeutung mehr. Hier zähle nur noch das Wesentliche.
Ich sass an deinem Bett. Sah deinem Leiden hilflos mit-leidend zu. Dach-te, irgendwie müsse man doch loslassen können, erlöst werden. Keine Antwort. Nur das verzehrende Schweigen, unterbrochen vom mahnenden Geräusch der Überlebensapparatur.
Ein einziges Mal noch hattest du die Augen aufgemacht. Suchend glitt dein Blick durch das weisse Zimmer, heftete sich voll Dringlichkeit auf mich, dass ich aufstand, als hättest du mich gerufen. Ich wollte dir hel-fen. Doch du hattest kein Bedürfnis mehr. Du warst schon so weit weg. Traurig nahm ich meine Hilflosigkeit hin. Ich hielt deine Hand. Reglos führtest du mich an den Rand einer unbekannten Nacht.
Und dann, als ich Zeit gehabt hätte, Versäumtes nachzuholen, zu danken, blieb ich stumm, hatte nicht den Mut, das zermürbende Stillschweigen zu brechen. Trotzdem Güte und Verständnis auf deinem Gesicht – wie seit jeher. Taumelnd floh ich zurück in meine Ohnmacht.
Als ich aus dem Zimmer ging, erfasste mich eine Leere, die mich vollends ausfüllte, eine Qualsehnsucht, von der auch du so oft gesprochen hast, als es dich getroffen hatte. Damals konnte ich es nicht verstehen. Jetzt weiss ich wie dir war, wo ich dir nicht mehr sagen kann, wie Recht du hattest, damals und auch sonst.
Zertrampelte Seele
Im Stall kein Vieh. Die Stube voller Kinder. Die Mutter seit der letzten Geburt schwach und bettlägerig. Der Vater Taglöhner und meistens um-nebelt vom Schnaps. Haus und Küche verwahrlost. Keine Möglichkeit, alle Mäuler zu stopfen. Christian, der elfjährige und Älteste, muss als erster fort von zu Hause. Als billige Arbeitskraft wird er an einen „wohltätigen“ Bauern, der sich dadurch einen Knecht einsparen kann, abgeschoben. Die zuständige Gemeindebehörde ist ebenfalls erleichtert, dass die Unterbrin-gung durch diese gängige Form der Armenfürsorge möglichst rasch und kostengünstig vonstattengeht, muss sie doch für einen so genannten Nichtsnutz weniger aufkommen.
Auf dem Hof herrscht ein harsches Regiment. Arbeit bis zur Erschöpfung, Schläge und Hunger werden von nun an zu Christians Tagesordnung ge-hören. Auch wird er fortan nicht mehr mit seinem Namen gerufen, son-dern ist nur noch „der Bub“, ein Niemand, den man wohl oder übel durchfüttern muss, und der keinerlei Anspruch auf Recht, Verständnis oder Liebe hat. Ein Ausgestossener, herabgewürdigt zu einer beliebig ausbeutbaren Ware. Vom sadistisch veranlagten Bauern wird er bei der Feldarbeit mit Heugabelstichen in den Hintern angetrieben. Später sollen andere Züchtigungsformen den Arbeitseifer fördern. Der immer betrun-kene Melker misshandelt ihn ebenfalls bei jeder Gelegenheit. In der Schule schläft er übermüdet meistens ein – und erntet dafür vom Lehrer je-weils eine Tracht Prügel.
Abends drückt er mit hungrigem Magen die Nase an der Fensterscheibe platt und sieht zu, wie drinnen die Bauersleute bei Tisch sitzen. Sein Es-sen stiehlt er sich aus dem Futtertrog der Schweine. Während den Win-termonaten schleicht er sich mit blutenden Füssen in den Holzschuhen und schlotternd vor Kälte in den Stall und wartet, bis eine Kuh scheisst. Dann steigt er barfuss in den dampfenden Fladen, um sich die Füsse zu wärmen. Mit dem Urin der Kühe wäscht er sie sich wieder sauber. Doch wehe, er wird dabei erwischt, dann hagelt es Schläge, bis er umfällt. Zur „Heilung“ der Verletzungen wird er danach während Tagen in den feuch-ten Keller gesperrt.
Schlimmer als jede Strafe aber ist für ihn, dass niemand mit ihm spricht. Fragt er etwas, kommt keine Antwort. Er fühlt sich allein auf der Welt, wird zunehmend ernst und bitter, aber niemand sieht, wie oft, wenn er allein ist, eine Wehmut über ihn kommt, die sich in einem Tränenstrom auflöst, der fast nicht versiegen will. Geprägt vom Gefühl, nichts wert zu sein, würgt er alles Leid in sich hinein. Niemand würde ihm, dem namen-losen Taugenichts glauben, sollten ihm die erlebten Schändlichkeiten über die Lippen kommen. Bauer und Bäuerin sind angesehene, wohltätige Leu-te, geniessen einen guten Ruf. Fast der gesamte Gemeinderat geht bei ihnen ein und aus. Und wäre dem Bauer auch nur ein Sterbenswort zu Ohren gekommen, dass er geredet hat, sein Zorn wäre furchtbar gewe-sen. Eher würde „der Lügner“ in eine Erziehungsanstalt gesteckt, als dass jemand diese Missstände aufdecken würde.
Immer mehr wächst in Christian der Wunsch auszubrechen, bei irgendjemandem Hilfe zu suchen. Aber wie und bei wem? Die Angst vor den Folgen raubt ihm abermals den Mut, es zu versuchen. Fast unerträglich ist für den Heranwachsenden auch sein dauernder Hunger. Irgendwann kommt ihm die Idee, dass er sich nachts von seiner Lieblingskuh eine Schale Milch melken könnte. Was ihm für seine Mühe nicht von anderer Hand gegeben wird, nimmt er sich fortan eigenhändig. Eine Zeit lang geht es gut. Aber einmal, schlaftrunken, lässt er die Blechschale offen liegen, die er sonst immer gut unter dem Stroh versteckte. Als ihn am Morgen der Knecht weckt, findet dieser die Schale, in der noch ein paar Milchres-te sind. „Du hast die Bless gemolken, ha?“ Und er hält ihm den Napf un-ter die Nase. „Hast Milch geschlabbert, du Tagedieb?“ Seine Bohrlöcher-augen flackern gefährlich. Verdattert steht Christian da, zögert zu lange mit der Antwort. Da prasseln auch schon Hiebe und Fusstritte auf ihn ein. Blutend und von Schluchzen durchschüttelt bleibt er in der Einstreu liegen.
Tags darauf ist der Vormund auf dem Hof. Ein Dieb sei er also, sagte dieser nachdenklich. Diese Schande müsse natürlich bestraft werden. Gut, dass es dafür eine Arbeitserziehungsanstalt gebe. Kurz darauf wird Christian vom Dorfpolizisten wie ein Schwerverbrecher abgeführt und in die „Besserungsanstalt“ gesteckt. Das Leitthema heisst auch hier schwere körperliche Arbeit. Unerbittlich wird er zum Arbeitstier erzogen, um ihm, wie es heisst, ein anständiges Leben zu ermöglichen.
In einem Zwischenbericht wird unwirsch vermerkt, der Zögling lese Bü-cher, statt zu arbeiten. Niemand lobt den Bildungshunger des jungen Burschen, der sich in seiner knappen Freizeit durch die Anstaltsbibliothek hindurchliest.
Nach drei Jahren Erziehungshaft wird Christian auf einen anderen Bauernhof platziert. Aber er kommt vom Regen in die Traufe. Wieder muss er harte Arbeit verrichten. Weiterhin wird er misshandelt. Dieses Mal auch noch von der launischen Bäuerin. Wieder läuft er weg. Und wieder wird er aufgegriffen und in die Anstalt gesteckt.
„Das Beste ist, er bleibt für immer hinter Schloss und Riegel“, sagte der Vorsteher der Armenfürsorge lakonisch. „Es war von Anfang an klar, dass aus diesem Bengel nichts wird!“
Verhängnisvoller Versuch
Sonderbar, dachte sie, das lebhafte Treiben beobachtend: Obwohl man-che Menschen ein ähnliches Ziel anstreben, viele die gleiche Sprache sprechen, einige die gleiche Ansicht vertreten, bleibt doch jeder anonym, ein Fremder in der Menge Gleichartiger. Und daran konnten weder der Drehorgelmann neben dem Schnellimbiss noch die mit Girlanden ge-schmückte Kuppel des Bahnhofs etwas ändern.
Es war nicht einfach, in diesem Gedränge eine einzelne Person auszu-machen. Trotzdem war er ihr sofort aufgefallen. Nicht, weil er etwas Besonderes darstellte oder sie ihn gekannt hätte. Vielleicht lag es an der Art, wie er den Perron auf- und abging, seine Augen dem fliehenden Schienenstrang folgten, als suchte er in der Ferne den unsichtbaren Ort, wo Einsamkeit und Verbitterung ein Ende hätten. Manchmal fühlte sie es auch, wenn sich jemand allein gelassen vorkommt und die Welt nicht mehr versteht. Auch daran könnte es gelegen haben.
Als er einmal neben ihr stehen blieb, glaubte sie, ihn sprechen gehört zu haben: "Kann ich ihnen helfen? Suchen sie etwas Bestimmtes?", fragte sie spontan, als hätte sie längst auf irgendein Zeichen gewartet. "Was ist", murrte er und warf ihr einen missbilligenden Blick zu. "Ich glaubte, sie hätten etwas gesagt", entgegnete sie freundlich. "Es gibt nichts zu reden", maulte er zurück, "jedenfalls nichts, was sie interessieren dürfte?" "Muss immer jedes Gespräch interessieren? Genügt es nicht, ein paar nette Worte zu wechseln, sich ein bisschen mitteilen zu können", sagte sie mit traurigem Unterton. "Schon wieder eine von diesen Siebenmalklugen mit ihren Menschen- und Weltverbesserungsideen", spotte-te er und wandte sich von ihr ab.
"Ich wollte nur..." "Ach halten sie den Mund und verschwinden sie endlich!", fiel er ihr aufgebracht ins Wort. "Entschuldigen sie. Ich wollte sie nicht belästigen, mich schon gar nicht in ihre Angelegenheiten einmischen. - Ich bin nur selbst einsam", sagte sie resigniert. Als er sich umdrehte und antworten wollte, war sie bereits verschwunden. Sie zu suchen in diesem Menschengewühl wäre sinnlos gewesen, wusste er doch kaum, wie sie aussah. Einzig an den roten Schal, den sie umgehängt hatte, konnte er sich erinnern.
Etwas später, er kannte diesen Stadtteil nicht, passierte er eine Unfall-stelle, wo soeben die Ambulanz mit Blaulicht und Sirene losfuhr. Im Vo-rübergehen hörte er, wie jemand einem Polizisten zu Protokoll gab: "Keine Ahnung, was in dieser Person vorging. Ohne nach links oder rechts zu schauen, rannte sie vom Gehsteig auf die Strasse, direkt vor den Bus." Mehr verstand er nicht, denn schon bog er in eine dunkle Gasse ein.
Am nächsten Morgen zog eine Passantin bei der Unfallstelle einen roten Schal aus dem Schneematsch und legte ihn über die Armlehne einer Bank.
Das richtige Geschenk
Ein alleinstehender Mann mittleren Alters steht in einer Buchhandlung. Er sucht ein Geburtstagsgeschenk für seinen Vater. Was schenkt man ei-nem Achtzigjährigen, der seinen Lebtag gern gelesen hat? Er schlendert den Büchergestellen entlang und lässt seinen Blick über die aneinanderge-reihten Titel gleiten. Er nimmt ein Buch heraus, blättert darin, schiebt es wieder zurück in die Reihe, nimmt ein zweites, ein drittes und so weiter bis er eines findet, das ihn interessiert. Das ihn interessiert! Darauf kommt es an, denn eines Tages wird das Buch ihm gehören. Er ertappt sich dabei, in letzter Zeit meistens derart gehandelt zu haben, wenn er für seine Eltern etwas erstand. Als er ihnen zur goldenen Hochzeit ein Bild schenkte, hatte er bei der Auswahl stets daran denken müssen, dass dieses Bild irgendwann an seiner Wand hängen würde. Und als sich die Eltern ein neues Schlafzimmer anschaffen wollten, war seine erste Über-legung: lohnt sich denn das noch? Auch wenn er daheim zu Besuch ist, verlässt er das Haus selten mit leeren Händen; immer mehr nützliche Dinge wandern aus dem Haushalt seiner Eltern in den seinen - und die Eltern tragen das Ihrige dazu bei. Es fällt ihm auf, dass sie immer häufi-ger sagen, das brauchen wir nicht mehr oder das wird dir eines Tages bestimmt nützlich sein. Immer handelt es sich um irgendwelche prakti-sche Alltagsgegenstände. Jedes Mal beschleicht ihn ein unangenehmes Gefühl, wenn er die Eltern derart reden hört. Das gleiche Gefühl be-drängt ihn jetzt in der Buchhandlung, als er ein Buch für seinen Vater sucht und feststellt, dass er es eigentlich für sich selbst auswählt. Zum ersten Mal wird ihm richtig bewusst, dass seine Eltern alt werden. Ganz allmählich, Stück um Stück fangen sie an ihre Zelte abzubrechen; begin-nen, ihre Jahre zu zählen. Und er - zählt mit.
Nun liegt das ausgewählte Buch auf dem Ladentisch und die Verkäuferin schneidet bereits Geschenkpapier zu, um es hübsch einzupacken. Dann bittet der Mann, sie möge einen Augenblick warten. Er nimmt das Buch, trägt es zurück ins Regal und hat kurz darauf ein anderes ausgesucht. Eines, das ihn selbst nicht besonders interessiert. Dass sich aber sein Vater darüber freuen wird, dessen ist er sich gewiss.
Der ungehörte Sänger
Von den vielen Eindrücken in Gedanken versunken war ein älteres Ehe-paar im städtischen Einkaufsrummel unterwegs. Plötzlich fasste sie ihren Mann am Arm: „Hör mal!“ Etwas erstaunt schaute er sie an und spitzte die Ohren, doch ausser dem Verkehrslärm, dem Jakobshorn der Ambu-lanz, dem Stimmengewirr, der dröhnenden Musik aus den Geschäften, hörte er nichts.
„Ist das nicht grossartig?“, sagte die Frau.
„Was denn“, antwortete er, „mir ist nichts Besonderes aufgefallen.“
„Der Tenor“, sagte sie, „die Stimme ist wundervoll.“
„Was für ein Tenor? Das wird sicher auch nur wieder eine dieser schein-bar unvermeidlichen Musikberieselungen sein“, wandte er ein.
„Nein“, erwiderte sie, „das klingt viel zu schön!“
Beim genaueren Hinhören war unverkennbar, dass in unmittelbarer Nähe jemand sang. Als es dem Mann gelang sich zu konzentrieren, kam es ihm vor, als würde der Gesang allen Lärm ringsum übertönen. Geführt von einer wunderbaren Melodie, die ihnen unmissverständlich den Weg vorbei an Geschäften, Angeboten und Verlockungen wies, schlenderten sie wei-ter durch eine Gasse voller gehetzter Menschen.
Als sie um die Ecke bogen sahen sie den Sänger. Unter dem Vordach eines Kaufhauses stand ein jüngerer Mann in einfacher Kleidung und beendete soeben sein Lied.
Kein Mensch applaudierte, nicht einer legte eine Münze in die bereitge-stellte Schachtel. Alle hasteten an ihm vorbei, wahrscheinlich ohne ihn zu bemerken. Niemand war hergekommen, um ihm zuzuhören. Die meisten waren auf Einkaufstour, rannten ihren Besorgungen nach, wollten kon-sumieren und sich vergnügen. Dies alles schien den Sänger nicht zu kümmern. Schon legte er ein neues Blatt auf den Notenständer und kon-zentrierte sich danach mit geschlossenen Augen auf seine nächste Dar-bietung.
Bereits die ersten Takte nahmen die beiden älteren Leute gefangen. Ver-zaubert lauschten sie den harmonischen Klängen. Der junge Tenor sang mit einer Innigkeit, dass es ihnen kalt über den Rücken lief. Sie waren sich nicht sicher, ob er tatsächlich hier war oder ob er sich in der magi-schen Welt befand, in der diese Musik komponiert wurde. Mit dem Ge-sang gab er sein Bestes: Jahre des Studiums, der Konzentration, der Disziplin, der Hingabe und dem Wissen, um seine Bestimmung. Es war, als hielte er Zwiesprache mit einer unsichtbaren Macht. Alles andere schien für ihn nicht vorhanden zu sein.
Erst als sein Lied verklungen war und sie verhalten klatschten, bemerkte er ihre Anwesenheit. Mit einem scheuen Lächeln und einem Kopfnicken grüsste er sie, und sie taten es ihm nach. Sogleich kehrte er zurück in die Gunst seines Schicksals. Das Ehepaar hielt es für angebracht, ihn dort zu belassen, unberührt von den Dingen dieser Welt, beherrscht selbst von ihrem bescheidenen Beifall. Schweigend, mit einem Gefühl der Ehr-furcht verliessen sie den Ort.
Ein paar Jahre später sahen sie im Fernsehen eine Uraufführung aus ei-nem weltbekannten Opernhaus. Voller Erstaunen blickten sie einander an. Der Startenor war kein geringerer als der Strassensänger, der sie einst, während dem Stastbummel mit seinen Liedern verzaubert hatte.
Wieder einmal hat ihnen ein Mensch eine wichtige Lektion in Erinnerung gerufen: Wer mit Hingabe an sich und seiner Bestimmung arbeitet, wird sein Ziel erreichen, auch wenn er dabei nicht besonders unterstützt wird. Denn was möglich ist, ist auch machbar.
Der Zeitjäger
Nervös stand Stressmann an der Supermarktkasse in der Warteschlange und wechselte die Reihe, weil’s drüben schneller ging – und dann gab’s eine Stockung. Wütend schmiss er die eingekauften Lebensmittel auf ein Gestell und verliess kopfschüttelnd das Geschäft. Als er in das Auto stieg und quietschend losfuhr, streifte er beinahe eine Frau und ihr Kind, die korrekt auf dem Fussgänger Streifen die Strasse überquerten. „Hirnlose Hühner“, fluchte er lauthals in den Rückspiegel schauend und drückte frustriert noch mehr aufs Gaspedal. Ein kurzer Blick auf die Uhr. In einer Viertelstunde begann in seinem zehn Kilometer entfernten Wohnort die Abschlussfeier einer Schulklasse, an der er die Eröffnungsrede halten musste.
„Dann mal los, du Klapperkiste, zeig was in dir steckt“, sagte er zynisch, indem er auf das Steuerrad klopfte.
Kurz nach der Ortstafel, er sah bereits das Gebäude, in dem die Feier stattfand, trat ein Polizist auf die Strasse und wies ihn an, rechts anzuhalten.
Geschwindigkeitskontrolle: 28 km/h zu schnell – innerorts! Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Als er eine halbe Stunde verspätet im Schulhaus eintraf, war die Feier bereits in vollem Gange. Die Einführung hatte ein Kollege übernommen. Wütend über sein Zuspätkommen rannte Stressmann die Treppe hinunter, besser gesagt, er wollte es. Doch bereits nach der vierten Stufe stolperte er, konnte sich aber noch am Geländer festhalten und den Sturz einigermassen verhindern. Mit der rechten Achsel stimmte jedoch etwas nicht mehr. Als er den Arm bewegen wollte, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz. Nach etlicher Mühe sass er endlich im Auto, konnte aber weder starten noch den Schalthebel bedienen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auszusteigen und zu Fuss nach Hause zu gehen.
Während der ganzen Nacht hatte er kein Auge zugetan, derart plagten ihn die Schmerzen. Mühsam erledigte er die Morgentoilette und suchte danach den Arzt auf.
Bis die ausgerenkte Schulter schmerzfrei und wieder voll funktionstüchtig sei, müsse er mit etwa vier Wochen rechnen, sagte der Doktor sachlich.
„Was, einen Monat!“, fuhr Stressmann entsetzt auf. „Wie soll ich denn in dieser Zeit allen meinen Verpflichtungen nachkommen?“
„Möglichst viel in kurzer Zeit unter einen Hut bringen, wird in Ihrem Fall, Herr Stressmann, vorerst nicht mehr ohne weiteres möglich sein. Wer sich für die Gesundheit keine Zeit nimmt, wird diese irgendwann für et-was, was Sie jetzt erlebt haben, erübrigen müssen“, erwiderte der Arzt freundlich und verabschiedete sich von seinem Patienten mit der Bemer-kung: „Sie haben ja nun gesehen, wie weit Sie kommen, wenn Sie dauernd gehetzt sind und der Zeit hinterherjagen.“
Die Platzverwechslung
In einem Selbstbedienungsrestaurant suchte ein altes Mütterlein mit einer Suppe auf dem Servierbrett einen Platz zum Essen. Als sie fündig wurde, das Tablett auf den Tisch und die Tasche auf den Stuhl gestellt hatte, merkte sie, dass ihr das Besteck fehlte. Sie holte es und als sie wieder an ihren Tisch zurückkam, sass auf ihrem Platz ein dunkelhäutiger Mann und ass Suppe. Die Frau setzte sich dem Mann gegenüber und versuchte ihm klarzumachen, dass das ihre Suppe sei. Dieser aber verstand kein Wort, lächelte nur und schob den Teller in die Mitte. In seiner Sprache forderte er die Frau auf mitzuessen. Überfordert mit der Situation wuss-te die alte Frau nicht was sie tun sollte. Hilfesuchend schaute sie in die Runde. Aber niemand kümmerte sich darum. Schliesslich langte sie zö-gernd zu. Die Leute am Nebentisch tuschelten und beobachteten das un-gleiche Paar, das aus einem Teller ass. Als sie damit fertig waren, stellte der Fremde sein Tagesmenü in die Mitte. Und wieder deutete er der Frau zu, ebenfalls zuzugreifen. Als der Teller leer war, stand der Mann auf, verabschiedete sich freundlich von seiner Tischnachbarin und verliess das Lokal.
Kurz darauf schrie die Frau: „Meine Handtasche ist weg! Haltet den Dieb!“ Ein Gast rannte dem Mann sofort nach, fand ihn im Gedränge aber nirgends mehr. Die alte Frau war verzweifelt und weinte. Alle waren ent-setzt und man rief die Polizei. Plötzlich sagte eine Person auf den Nebentisch deutend: „Hier liegt eine Handtasche auf dem Stuhl.“ Tatsächlich war es die der alten Frau, und auf dem Tisch stand noch immer ihre Suppe. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie den Tisch verwechselt hatte und schämte sich zutiefst, den überaus gutmütigen fremden Mann für einen Dieb gehalten zu haben.
Die vertriebene Magd
Demütig, die Hände auf ihrem gerundeten Leib gefaltet, nahm die Magd die ausgesprochene Kündigung hin. Bis zum Altjahrsabend könne sie noch bleiben, fügte die Bäuerin kalt hinzu, ohne sie dabei anzuschauen. Es stehe ihr aber frei, am gleichen Abend noch zu gehen. In ihren Umständen sei sie wohl ohnehin keine grosse Hilfe mehr für Haus und Hof. Nun aber sei genug geredet worden und als Magd wisse sie, was es noch zu schaf-fen gebe.
Vieles hätte sie wohl zu sagen gewusst. Von der Feldarbeit etwa, bei der sie jeweils von früh bis spät Hand anlegte, oder von den Kälbern, die unter ihrer Obhut zu prächtigen Kühen heranwuchsen; dass sie auf dem stattlichen Hof überall mit angepackt habe, wenngleich die schwere Arbeit eher kräftigen Männern zustände; und dass ein Knecht oder eine Magd nicht danach gefragt wurden, wie sie in ihren dürftigen Kammern die eisig kalten Winternächte durchstanden, bis sie in aller Früh, wie eine Erlösung, endlich im warmen Stall das schwere Tagwerk angehen konn-ten. Vielleicht hätte sie auch sagen können, dass die Bäuerin nicht so hart richten möge über sie, weil sie ohne das Drängen und Drohen des Bauern nicht in diese Umstände gekommen wäre. Unter dem strengen Blick der Bäuerin aber hatte sie geschwiegen. Bevor sie aus der Tür trat, sagte sie halblaut, dass sie noch heute Abend gehen würde.
Das Bündel mit ihrer kärglichen Habe war schnell geschnürt. Mehr stand ihr nicht zu. Durchs Kammerfenster schaute sie noch eine Weile auf die winterlich verlassenen Felder hinaus, über die nun der Schneewind fegte. Zwischen diesen Feldern war sie vor einigen Jahren durchgekommen - unschuldig, ein Kind fast noch, auf der Suche nach Arbeit und Unterkunft. Und diesen Weg würde sie nun wieder gehen als werdende Mutter, die nach dem Urteil der kinderlosen Bäuerin kein Anrecht hatte, Mutter zu werden unter diesem Dach.
Bevor sie ging, machte sie noch einmal die Runde im Stall. Jedem Tier legte sie behutsam die Hand auf den Rücken, flüsterte ein paar Worte dazu und nahm ein letztes Mal die ganze Wärme des schützenden Stalles in sich auf. Dann schloss sie leise die Tür und verschwand in der kalten Winternacht.
Prüfend spähte der stumme Knecht in den klaren Nachthimmel, in dem ein Meer von weissen Sternen funkelte, ob etwa noch Schnee fallen wür-de. Auf einmal hörte er etwas. Ein Tier vielleicht, das seinen Hunger be-klagte und in die kalte Nacht hinaus heulte. Jetzt nahm es sein feines Gehör wieder wahr. Er kannte kein Tier, das solche Laute von sich gab. Was konnte es sonst sein? Schnell warf er sich den warmen Pelz um, zog den Hut in die Stirn und stapfte den gefrorenen Ackerschollen entlang, die unter seinen schweren Schritten knackten. Ausser dem pfeifenden Wind war aber nichts mehr zu hören. Bereits wollte er wieder umkehren, da gewahrte er einen dunklen Fleck im Schnee. Er ging darauf zu, bückte sich und hob ein gestricktes Wolltuch auf. Das musste der Magd gehören, sinnierte er. Aber warum sollte sie hier zu dieser späten Stunde sein, wo nicht einmal ein Baum jemandem Schutz bot? Dem hünenhaften Kerl, der einfach und kantig war wie ein Fels und für ein paar Franken Jahreslohn arbeitete, fiel dafür keine Erklärung ein.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er im Schnee eine Fussspur, der er langsam folgte. Gleich unter dem vereisten Abhang fand er die Magd, die immer ein gutes Wort für ihn hatte und ihm ab und zu etwas Tabak für seine kurze Pfeife zukommen liess. Nur mit dem dünnen Mantel bekleidet lag sie regungslos da. Sie musste ausgerutscht sein und sich verletzt haben. Fast steif war sie vor Kälte, aber sie lebte. Behutsam hob er sie auf und trug sie zurück in den warmen Stall. Hier bettete er sie ins Heu und deckte sie mit seinem Pelz zu. Bis Martini pflegte er sie dort und versorgte sie mit warmem Essen, ohne dass die Bauersleute davon erfuhren. Die Magd war sehr schwach, sprach wenig und schlief meistens. Dann kam das Fieber. Als der Kräutertee und die Umschläge nichts mehr halfen, wusste er, was er tun musste. Vorsichtig hüllte er die Kranke in Decken, band sie mit Stricken auf dem Hornschlit-ten fest und zog los. Als er an der Bauernstube vorbeikam, ballte er die Faust und drohte in die Luft hinein. Darauf würgte er ein paar unver-ständliche Laute hervor, knirschte mit den Zähnen und verzog das Ge-sicht zu einer schauderhaften Grimasse. Auch wenn ihm das Reden nicht versagt geblieben wäre, hätte er auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Er schnaufte nur und legte sich in die Gurten mit seiner ungeheu-ren Kraft, dass der Schlitten ächzte. Der Schnee lag schon knietief und es schneite immer noch, er aber ging gleich einem Pflug hindurch. Schritt für Schritt, Stunde um Stunde. Manchmal blieb er stehen, wischte sich den Schnee aus Bart und Augenbrauen und klopfte an einem Stein die Schollen von seinem Schuhwerk. Oder er hielt inne, ging um den Schlitten herum und stäubte die junge Frau ab, so sorgsam er es mit seinen schwieligen Händen konnte.
Sie glühte im Fieber und wenn sie die Augen aufschlug, kam ihr alles so seltsam vor. Es war ihr, als würde sie schweben, fühlte sich schwerelos auf und ab getragen, ohne den leisesten Schmerz zu verspüren. Die wir-belnden Schneeflocken huschten über ihr vorbei und sie meinte weiss beschwingte Engel am Himmel zu sehen. Und sie sah den Mann vor dem Schlitten hergehen, der nun barhäuptig war und dessen weisses Haar wie ein Heiligenschein um seinen Kopf schimmerte.
Den ganzen Tag mühte sich der Knecht ab, bis er endlich vor dem Doktorhause anlangte. Als er die Frau versorgt wusste, stieg er sogleich wieder mit seinem Ziehschlitten in den Holzschlag hinauf.
Kurz danach gebar die Magd ihr erstes Kind. Und nach dem Dreikönigstag fand sie bei einem verständigen Jungbauern gute Bleibe.
Der Knecht jedoch kehrte nie mehr zum Hof zurück. Er wurde auch nie mehr gesehen und keiner wusste, wo er blieb.
Jugendfreundschaft
Am Wochenmarkt begegneten sich zwei ehemalige Jugendfreunde nach langer Zeit wieder einmal.
„Komm, lass uns unser Wiedersehen mit einem guten Schluck begies-sen“, schlug der etwas Jüngere, nervös und abgespannt wirkende vor.
Kaum hatten sie sich an ein Tischchen in einem Restaurant gesetzt, spru-delte es aus dem Jüngeren auch schon heraus, wie er sich mächtig ins Zeug lege, um sein Vermögen ständig zu vergrössern; er seine Hotelket-te, seine Ferienhäuser und die Anwesen in der Umgebung immer noch selbst verwalte, also alles allein durch ihn an den Mann gebracht werde. Dass dabei das Private darunter leide, verstehe sich von selbst. Doch das sei nebensächlich, verglichen mit dem Ansehen, das ihm als Besitzer all dieser Liegenschaften zukomme.
Gelassen hörte ihm der Ältere zu, obwohl er dem hektischen Geschwätz des Gegenübers kaum folgen konnte. Später, in einer Atempause, richtete sich die gewohnheitsmässige Frage des Jüngeren an ihn: „Und was machst du eigentlich?“
Nach einer Weile entgegnete der Ältere, mehr zu sich selbst als zu sei-nem ungeduldigen Gesprächspartner: „Auch ich habe mich mächtig ins Zeug gelegt. Ging durch manche harte Schule, um alles an den Mann, will sagen, an mich zu bringen, bis ich mich so weit hatte, alles Materielle loslassen zu können. Nun bin ich Schafhirte.“
„Ach so, ein Bekehrter“, antwortete darauf der Jüngere mit einem mitlei-digen Lächeln. Dann schaute er flüchtig auf die Uhr und erinnerte sich plötzlich wichtiger Termine. „Du verstehst, Geschäfte“, sagte er zu sei-nem einstigen Freund, stand auf und machte sich eiligst davon.
Wendepunkt
Nicht, dass er geschockt gewesen wäre oder gar resigniert hätte. Kei-neswegs, obwohl er über dreissig Jahre lang loyal und uneigennützig zu seinem Arbeitgeber stand, immer mitgeholfen hat, kritische Situationen zu meistern und das schlingernde Boot wieder in die richtige Richtung zu steuern. Er war nur enttäuscht, dass es der Juniorchef war, der ihm den Vorruhestand fast befehlend nahelegte. Ausgerechnet dieser junge Mann, dem er sein ganzes Fachwissen vermittelt zu haben glaubte und sich obendrein als dessen väterlicher Freund wähnte, musste ihm dies mittei-len: „Computer, schnelleres Denken, moderne Technik! Erfahrung ist nicht mehr gefragt. Sie verstehen doch - oder?“
Und ob er verstanden hatte. Bereits am Monatsende legte er seine Arbeit nieder. Spontan, wie es niemand von ihm erwartet hätte. Er selbst am allerwenigsten.
Zwei, drei Jahre mochten seither vergangen sein, als der Juniorchef ein Personalführungsseminar besuchte. Als der Schulungsleiter am Schluss jedem Teilnehmer ein Zertifikat überreichte, dazu gutes Gelingen beim Umsetzen des gelernten Stoffes wünschte, schaute der Juniorchef beschämt zu Boden. Denn der Redner war kein Geringerer, als sein vorzeitig in Pension geschickter „Lehrmeister“.
Der Graf und das Mädchen
Auf einem hochgelegenen Gutshof wohnte ein Graf. Zu seinem 75. Ge-burtstag hatte seine Frau viele noble Leute eingeladen. Alle schenkten ihm die teuersten Sachen, die man sich vorstellen kann. Nichts war da-bei, für das sie sich hätten Zeit nehmen müssen, etwa für ein kleines Gedicht, für eine Melodie auf einem Instrument oder für etwas selbst Gebasteltes. Alles war gekauft. Auch fragte ihn niemand, wie es ihm gehe. Als die Leute nach dem Essen feierten und tanzten, kümmerte sich niemand mehr um ihn. Traurig sass der Graf in seinem Schaukelstuhl. Beim Eindunkeln kam ein Dienstbote zu ihm und sagte, dass draussen vor dem Tor ein Mädchen stehe und zum Herrn Graf wolle. Ob es denn etwas abzugeben habe, fragte der Jubilar. Nein, sagte der Diener, es habe grobe, schmutzige Schuhe und die Kleider seien geflickt. Er wollte es fortjagen, doch lasse es sich nicht abwimmeln. Dann soll er es herein-holen, sagte der Graf. Kurz darauf stand das ärmlich gekleidete Bauernkind vor ihm. Was es denn hier hinauf führe, wollte der Graf wissen. Es möchte dem Herrn Grafen alles Gute zum Geburtstag wünschen und ihm dazu etwas schenken, das er sich jedoch selbst anschauen müsse. Was er denn anschauen soll, fragte der Graf. Das Mädchen antwortete: „Ich heisse Hanna und wohne, seit meine Eltern gestorben sind, bei meinem Grossvater auf der Grafenalm. Und weil diese Alm dem Herrn Graf gehört, möchte ich ihm gerne zeigen, was ich da alles gearbeitet habe und wie schön es dort ist“.
Zwei Wochen zuvor begann es bereits die Hütte zu putzen, den kleinen Keller aufzuräumen, ja sogar jedes Schaf hatte es gewaschen und die Ziegen gebürstet. Alles war sauber und hell.
„Ein solches Geschenk darf man natürlich nicht ausschlagen“, sagte der Graf, nahm das Mädchen bei der Hand und verliess mit ihm den Saal, ohne dass es jemand merkte. Sogleich liess er die Kutsche anspannen. In stockdunkler Nacht fuhr er mit seinem Kutscher zur einsamen Alphütte auf der Grafenalm, um Hanna wohlbehalten dem Grossvater zu überge-ben. Das kleine Hirtenmädchen war längst in seinen Armen eingeschla-fen. Kein Wunder, marschierte es doch schon bei Tagesanbruch los. Da-nach fuhr der Graf wieder zurück auf seinen Hof.
Am nächsten Morgen hielt die Pferdekutsche erneut vor der einfachen Alphütte. Zuerst stieg ein junger Mann aus, danach der Graf. Sie klopften an die Türe und wurden vom Grossvater freundlich empfangen.
Der junge Mann war ein Notar und kramte in seiner Mappe ein Schrift-stück hervor. Darin stand, dass die Grafenalm und die dazugehörige Alp ab jetzt Hanna und ihrem Grossvater gehöre. Weiter stand darin, dass für eine Ausbildung von Hanna gesorgt sei und der Notar verpflichtet war, ihr jederzeit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Nachdem alles unterschrieben und bereinigt war, liessen sich die beiden Herren von Hanna alles zeigen und erklären. Der Graf sparte nicht mit Lob für ihren Fleiss und freute sich zusammen mit ihr und ihrem Grossvater an diesem wunderschönen Ort.
Der Schneeschaufler
„Wieder nichts“, murmelte der alte Wagner, schlug den Mantelkragen hoch und liess das gusseiserne Tor hinter sich ins Schloss fallen. Zum x-ten Male schon, immer dieselben Antworten: Nein, ich vermiete weder eine Wohnung noch ein Zimmer; an alleinstehende alte Männer schon gar nicht; tut mir leid.
Entmutigt stapfte Gottfried Wagner durch das Schneegestöber seinem Quartier entgegen, in dem ihm nur noch bis Jahresende das Mietrecht verlängert wurde. Höchstens bis Neujahr, dann sei endgültig Schluss, versicherte ihm der neue Hausmeister. Schliesslich müsse mit dem Ab-bruch der Altliegenschaft begonnen werden, wenn die neuen Wohnungen bereits im nächsten Herbst bezugsbereit sein sollten. Das war deutlich genug. Umso mehr beschäftigte ihn die Lage, denn heute, drei Tage vor Weihnachten, hatte er noch immer keine Aussicht auf ein neues Daheim. Und ins Altersheim - jetzt schon? Damit konnte er sich noch nicht ausei-nandersetzen.
Zwei Häuserzeilen vor seiner Wohnung, in der er nun an die vierzig Jahre hauste, erspähte er durch den wirbelnden Flockentanz die Umrisse einer Frau, die sich damit abmühte, den zugewehten Parkweg ihres schmucken Landhauses freizuschaufeln. Irgendetwas hinderte ihn weiterzugehen. Er überlegte kurz, gab sich einen Ruck und ging räuspernd auf die Frau zu: „Grüss Gott“, sagte er, „ich weiss nicht, wie es in der Stadt zugeht, aber hier auf dem Land ist das immer noch Männerarbeit. Geben sie mir die Schaufel, sie sehen ohnehin schon halb durchfroren aus.“ „Das mit der Männerarbeit mag schon sein“, entgegnete ihm die junge Frau freundlich, „aber wenn...“ Hier stockte sie und wurde ernst, um gleich darauf wieder lächelnd fortzufahren: „Dieser Aufforderung komme ich gerne nach“, reichte ihm die Schneeschaufel und vergrub die steifkalten Hände in den Jackentaschen. „Kommen sie danach ins Haus, ich richte uns unterdessen einen heissen Tee“, rief sie ihm zu, während sie die Treppe hinaufstieg.
Als Gottfried Wagner später am knisternden Kaminfeuer dem jungen Hausherrn im Rollstuhl gegenübersass, entschuldigte er sich über seine vorherige Äusserung bezüglich Männerarbeit.
Das sei schon in Ordnung, meinte die junge Frau. Schliesslich habe sie ihn, seit sie hier wohnen, auch nur den alten Wagner genannt, weil sie eben auch nur eine Seite von ihm gekannt habe.
Es wurde noch viel erzählt und besprochen an diesem Tag zwischen den drei Leuten. Und als der alte Wagner in der Nacht keinen Schlaf finden konnte, wusste er nicht, ob er im kommenden Frühjahr zuerst mit dem Aufräumen des Schuppens, der Bewirtschaftung des Gartens oder mit der Reparatur des Zaunes um sein neues Zuhause beginnen sollte.
In weniger als zwei Tagen war die heimelige Zweitwohnung im Landhaus hergerichtet und mit der bescheidenen Habe Wagners ausgestattet wor-den. Als dann die junge Frau an Heiligabend mit ihrem neuen Hausgärtner die Mitternachtsmesse besuchte, hängte sie sich bei ihm ein, ungeniert und selbstverständlich, wie sie es bei ihrem Vater oder ihrem Mann getan hätte.
Übrigens, das alte Haus wurde nicht abgerissen, blieb jedoch unbewohnt. Einzig in der früheren Stube des alten Wagners hatte sich ein Taubenpärchen eingenistet.
Die weise Lärche
Schon vor langer Zeit hat sich Martin mit der alten Lärche angefreundet. Ihr mächtiger Wipfel überragt die kahle Anhöhe an deren Rand sie wur-zelt und den Wandel der Zeit - und der Menschen - seit über zwei Jahr-hunderten miterlebt. Martin versteht sich mit ihr durch stille Zwiegespräche, während er dem lauten Geschwätz der Gleichaltrigen meistens nicht folgen will.
So lehnt er denn auch heute wieder einmal an ihrem schuppigen Stamm, erzählt ihr von seinen Erlebnissen und fragt zuletzt, ob sie ihm vielleicht erklären könne, warum die Menschen hier trotz des Wohlstandes und des Überflusses oft betrübt seien und immer weniger Freude empfinden.
Ohne auch nur einmal mit dem schneebeladenen Nadelkleid zu rauschen, hörte ihm die Lärche zu. Nach einer Weile sagt sie: „Die Freude ist das Licht auf unserem Lebensacker; das Licht, ohne das nichts wächst und gedeiht. Die Freude ist der eigentliche Lebensquell. Dass sie der moderne Mensch in den Hintergrund rückt, ist typisch für ihn. Ihm ist alles andere wichtig. Rücksichtslos jagt er nach Macht, Anerkennung, Geld, Schönheit und vielem ähnlichem mehr. Ob es ihm Freude macht, interessiert ihn oft gar nicht, oder wenn, dann an letzter Stelle, irgendwo am Schluss. Der Mensch sollte öfters aus reiner Freude handeln, ohne sich zu fragen, ob es sich lohnt. Wenn es Freude bereitet, hat es sich gelohnt. Freude ist nicht messbar, aber ein unerschöpflicher Bestand, aus dem immer wie-der neu aufgetankt werden kann. Die Freude soll man nicht für sich be-halten. Sie ist eine Urquelle, die sich mit anderen sprudelnden Quellen vereint, zum Bächlein anschwillt, zum Fluss, um schliesslich als Strom zum Meer zu fliessen. Mit dem gleichen Ziel strömt die Freude auch von einem zum andern, breitet sich aus, macht die Menschen glücklicher und verschönert den Alltag und die Welt. Sieh unsere geschmähte, ausgebeutete, voller Elend geplagte Erde an. Vielleicht lebt der Mensch hier, trotz Reichtum, deshalb mit so vielen Ängsten und Zweifel, ist vielfach derart unvermögend und arm geworden an wahrer Freude, weil er die unnatür-liche Lebensart erkannt hat, trotzdem aber nichts dagegen unternimmt. Wenn er nur bereit wäre, Freude, statt Schrecken und Gewalt zu säen. Wie? Es fängt damit an, dass alle nach der Freude Ausschau halten; je-der bemüht ist, Freude zu empfangen. Wer Freude empfindet, strahlt sie auch aus. Verbreitet wird sie dadurch von selbst.
Zum Schluss noch, Martin. Solltest du mir länger fernbleiben, weil du dei-ne Freude mit jemand anderem teilen willst, glaube nicht, ich sei dir deswegen böse. Im Gegenteil, ich würde mich sehr darüber freuen.“
Halbherzige Reue
Nach einem längeren Fussmarsch erreichte er zur Dämmerstunde das abgeschiedene kleine Gehöft. Als ihm nach mehrfachem Klopfen niemand öffnete, trat er durch die schiefe Tür und fand die junge Frau in der Küche damit beschäftigt, einem vielleicht vierjährigen Mädchen die Haare zu schneiden, während ein etwas älteres am Tisch über Schulaufgaben brü-tete und ein schmächtiger Junge am Boden Bleisoldaten in Reih und Glied stellte.
„Ich wollte nur einmal reinschauen“, sagte er, als alle zusammen mit ihrer Beschäftigung innehielten und den Blick auf ihn richteten.
Nichts an ihr verriet die Erschütterung über den unerwarteten Besuch „Du musst einen Augenblick warten“, erwiderte sie, „zuerst muss ich hier fertig machen.“
Sie beugte sich wieder über das Kind, und nun zitterte die Hand, in der sie die Schere hielt, doch ein bisschen.
Der Mann sah auf den Knaben, dessen Blick ihn fremd und ablehnend traf. Er erschrak über das Spiel der Natur, das dort wie aus einem Spie-gel ihm entgegensah: derselbe steile Anstieg der Stirn, der Schwung der Augenbrauen, das markante Kinn – ein Bild, das ohne Gnade wiederholte, was Geheimnis bleiben sollte.
Dann sagte die Frau, das Kind zur Seite schiebend, dass sie zuerst essen wollen, damit die Kinder danach zu Bette gehen können.
Das Essen war von einer Einfachheit, die deutlich machte, wie es um Hab und Gut stand. Dann brachte Anna die Kinder zu Bett, ohne sie zu veran-lassen, ihm die Hand zu reichen, und so sass er rauchend am Kamin, bis sie wiederkam und sich ihm gegenübersetzte.
„Ich wusste nicht“, begann er befangen, „dass du …, dass du noch mehr Kinder hast …“
Sie nickte. „Das vierte und mein Mann sind gestorben.“
Dann lehnte sie sich zurück und sah ihm gerade in die Augen. „Weshalb bist du gekommen?“
Ihre Direktheit überraschte ihn, und bevor er antwortete, stäubte er sorgfältig die Asche seiner Zigarre über dem Kamin ab. Dann berichtete er, dass er im Frühjahr als Tourismusdirektor ins Tal zurückkehre. Er werde dann auch seinen elterlichen Hof wieder bewohnen.
Sie beugte sich vor, die Arme auf den Knien und schaute ihn durchdrin-gend an. „Wir kennen uns von Kind an“, sagte sie dann in einem nach-denklichen Ton, „und von Kind an habe ich dich gerngehabt. Das wusstest du, leider. Du hast es immer ein bisschen ausgenutzt. Zuerst, um unsere Jungtiere günstig zu kaufen, danach, uns die Alm für die Skipiste abzu-luchsen und dann … zu dem andern. Du warst immer berechnend, Ro-man. Ich habe gedacht, dass du mich heiraten würdest. Ich war grenzenlos naiv. Deshalb habe ich mich auch mit dir eingelassen. Du warst um Worte nie verlegen, aber es waren Worte wie Nebel …“
Erbittert über die Art, wie sie das Licht auf seine Seele fallen liess, warf er ein, dass er nichts versprochen habe.
Sie sah ihn traurig an. „Du musst so etwas nicht sagen“, erwiderte sie. „Du siehst, ich fand einen aufrichtigen Menschen, der mir vertraute und dem ich vertrauen konnte. Ein einfacher Bergbauer, aber rechtschaffen und treu. Dazu ein guter Vater – auch Martin.“
„Du musst bedenken“, fuhr er erregt dazwischen, „dass für mich viel auf dem Spiel stand, meine Laufbahn, mein ganzes Leben. Ich war damals schon in der Politik tätig.“
„Ich habe es bedacht. Nur was für mich auf dem Spiel stand, das habe ich nicht bedacht. Es ist meistens so … Nun leben wir hier auf dem Berg, in einfachen Verhältnissen zwar, aber für ein bescheidenes Auskommen reicht es.“
Er hatte die Zigarre ins Feuer geworfen und sass finster da, ein wenig gebeugter als zuvor, die Stirn in die Hände gestützt. Anna legte neues Holz in den Kamin und nahm dann ihre vorige Haltung wieder ein. Die Klarheit ihres Blickes legte sich wie eine wachsende Flamme auf seine Stirn.
„Bist du also nur hierhergekommen, um kundzutun, wie weit du es ge-bracht hast“, fuhr sie ruhig fort.
Roman ertrug ihren Blick nicht mehr. Mit der Hand bedeckte er seine Au-gen. Dann redete er von Selbstwertgefühl, Lebenssinn, Aufschwung, von der Verantwortung der Talschaft gegenüber und von zukünftigen Ge-schäften. Vermutlich erzählte er es nur, weil er diese mütterlichen Augen auf sich gerichtet wusste, oder weil er ahnte, dass diese Stunde ihn end-gültig aus ihrem Herzen ausstossen wird?
Aber sie lächelte nur. „Solche Reden kommen hier nicht an“, sagte sie sanft. „Wir säen hier Korn und ernten es, und da darf man nicht so leichtsinnig mit den Worten spielen. Du weisst selbst, dass deine Rech-nung nicht stimmt. Es liegt daran, dass du immer alles zu deinem Wohl arrangiert hast. Solange du in der Stadt lebtest, mit deinen Menschen und deinem Beruf, wo die anderen ebenso gesinnt sind, hast du es nicht gemerkt. Jetzt willst du als einflussreicher Mann wieder zurück in unsere Gegend. Da sollte vorher alles reingewaschen werden. Auf solche Leute sehe ich wie auf eine taube Roggenähre. Aber ich sammle keine tauben Ähren. Du bist auf die Waage getreten und merkst, dass kein Gegengewicht da ist.“
Nachdem er nichts darauf sagte, nahm sie das Gespräch wieder auf: „Als du zum ersten Mal aus der Stadt nach Hause kamst und vor mir prahl-test, hattest du schon deine Seele verkauft. Aber nicht nur das, du wür-dest deine Mutter verkauft haben, wenn es um deine Karriere gegangen wäre. Dein Gericht hat angefangen, und ich werde meine Hand nicht auf-heben zu deiner Gnade.“
„Du wunderst dich vielleicht, dass ich so spreche“, fuhr sie fort. „Du selbst kennst jedoch unser Leben und weisst, dass wir es hier mit der Wahrheit halten. Mit leeren Worten geben wir uns nicht zufrieden.“
Seine Schultern zuckten wie die Schultern eines Kindes unter Schlägen, aber er wehrte sich nicht. Er stand nur auf und trat ans Fenster.
Sie schwiegen, bis das Feuer im Kamin erloschen war. Dann zündete sie eine Kerze an und bat ihn zu gehen. Wortlos folgte er ihr, als sie voran-ging. Auf der Vortreppe erlosch das Licht im Zugwind, und nur der Schein des steigenden Mondes erhellte den Hof. Er ergriff ihren Arm. „Weshalb können wir nicht noch einmal von vorne anfangen?“, fragte er beschwö-rend.
Sie trat zur Seite, um sich zu befreien und sah ihn noch einmal an. „Weil es zu spät ist“, entgegnete sie bestimmt. Dann ging er, zurückweichend vor dem Blick ihrer Augen. Als er sich am Tor umdrehte, war sie nicht mehr da.
Nachdem er eine Weile gegangen war, lehnte er sich an einen Baum und starrte in die nächtliche Weite. Im Geiste sah er die unbestechliche Klar-heit auf Annas Stirn. In aller Deutlichkeit wurde ihm bewusst, dass sie sich und ihrer Herkunft immer treu bleiben würde, wie oft er auch zu-rückkehren mochte.
Als er am frühen Morgen im Zug zurück in die Stadt fuhr und dem Schaffner die Fahrkarte reichte, zog er mit ihr ein vergilbtes Foto her-aus, das ein fröhliches, junges Paar zeigte. Wieder allein, betrachtete er das Bild lange und mit kaltem Ernst, zerriss es dann sorgfältig und liess die Schnipsel durch das offene Fenster in den neuen Tag fallen.
Joggi im Holzerhimmel
Das erste Mal sah ich dich an einem kalten Spätherbsttag. Dunkle Wol-kenfetzen trieben über die Felder. Die Luft roch nach Schnee. Im Wald war es noch einigermassen windstill. Deine Axtschläge hatten mich von der Strasse weg durchs kahle Unterholz in die Nähe deines Arbeitsplatzes gelockt. Geraume Zeit sah ich dir und deinem Tun zu. Vielleicht hast du mich bemerkt, deine Arbeit deswegen aber nicht unterbrochen. Emsig wie eine Ameise hast du Ast um Ast zu einem Haufen zusammengetra-gen.
In deiner Nähe brannte ein Feuer. Zum Händewärmen. Solange du nicht an den Fingern frorst, war dir nicht kalt. Aber Handschuhe trugst du trotzdem keine. „Da hat man kein Geschpür beim Schaffen“, war alles, was du mir damals auf meine Frage geantwortet hast. Eigentlich heisst du Jakob. Aber wer hielt sich denn an einen solchen Namen? Keiner! Du warst um die sechzig, bandest die Äste der gefällten Bäume zu Wellen zusammen und hieltest mit Aufräumarbeiten den Gemeindewald sauber. Seit über dreissig Jahren, nehme ich an. Tagein, tagaus hast du die Ar-beiten verrichtet, die dir der Förster zuteilte. Ohne Murren. Nur ab und zu gabst du ein paar unverständliche Laute von dir. Geredet hast du nur, wenn es unbedingt notwendig war, oder nicht?
Nach Feierabend sassest du jeweils im Wirtshaus. Meistens bis zur Poli-zeistunde. Allein an einem Tisch. In deinen Arbeitskleidern. Eingehüllt in Harz- und Tannengeruch. Du trankst dein Bier, wenn von deinem biss-chen Taschengeld etwas übrigblieb. Ab und zu spendierte dir ein Stammgast einen Becher. Dann bist du aufgestanden, hast dein Glas in die Hand genommen und dem Spender am Stammtisch zugeprostet. Mühsam hast du ein Danke hervorgewürgt, dich danach wieder an deinen Platz gesetzt und weiterhin mit zusammengekniffenen Augen das Beizengeschehen verfolgt. Oft hast du zwischendurch laut aufgelacht oder mit den Armen in der Luft herumgefuchtelt. Und manchmal hast du mit der Faust auf den Tisch geschlagen, dass der Aschenbecher hüpfte und dein Glas um-kippte. Wenn dich danach der Wirt zu etwas mehr Ruhe ermahnte, er-kannte man deine List hinter dem schelmischen Grinsen. Wer weiss, was du dir dann dabei gedacht hast? Vielleicht wusstest du um deine Narren-freiheit. Die vom Stammtisch verteidigten dich, wenn dir jemand schlecht wollte. Du warst einer von ihnen, gehörtest dazu. Sonst aber nahm nie-mand gross Notiz von dir. Für viele war deine Wenigkeit zu viel. Deine Lebensweise passe nicht in die Gesellschaft, hiess es da und dort.
Die Alten erzählen, dass du früher einer der intelligentesten Burschen im Dorf warst. Dir habe nicht schnell einer das Wasser reichen können. Auch später während deines Studiums nicht. Doch dann kam das mit deiner Liebschaft dazwischen. Eine ernsthafte Sache, für dich jedenfalls. Was genau passiert war, wusste niemand genau. Es kursierte lediglich das Gerücht, dass dir die Braut mit einem anderen durchgebrannt sei. Das konntest du als sensibler junger Mann nicht verkraften. An einem Morgen haben sie dich bewusstlos im Bett gefunden. Auf dem Nachttischchen eine leere Schachtel Schlaftabletten. Mit knapper Not konnten die Ärzte dein Leben retten. Durften deinem Willen nicht freien Lauf lassen. Den Nebel um deinen Verstand vermochten sie allerdings nicht mehr zu lich-ten. Ja, und danach verlief dein Weg in anderen Bahnen. Trotz deiner Hinfälligkeit bist du aber niemandem zur Last gefallen. Warst grössten-teils selbständig. Tatest niemandem etwas zu Leide. Kamst nie mit dem Gesetz in Konflikt. Auch die Kinder hatten keine Angst vor dir. Und etwas hast du dabei erreicht: Du bist ein Dorforiginal geworden.
Als ich an einem Montag wieder auf meinem morgendlichen Waldspazier-gang war, war es im Wald still. Der Wellenbock stand verlassen auf der Lichtung. Im Dorf haben sie mir später erzählt, du seist tödlich verun-glückt. Am Sonntagnachmittag, in der nahe gelegenen Stadt. Wild gesti-kulierend seist du plötzlich auf die Hauptstrasse gerannt. Direkt vor ein Auto. Du musstest für einen Augenblick vergessen haben, wo du warst.
Jetzt, da du keiner Hilfe mehr bedurftest, warst du plötzlich der Mittel-punkt. Blaulicht und Sirenen wurden eingeschaltet; Polizisten riegelten das Quartier ab; ein Heer von Ärzten bemühte sich vergebens, dich wieder unter die Lebenden zu bringen; im Sozialamt spuckten programmierte Drucker die wenigen Daten deiner farbigen Identität auf blütenweisses Papier.
Doch du warst schon so weit weg.
Tags darauf waren die Zeitungen um eine Schlagzeile reicher. Das Dorf um einen Kauz ärmer.
Seitdem ist der Wald nicht mehr aufgeräumt – und mein Morgenspaziergang eintönig. Aber irgendeinmal werde ich deine Axtschläge wieder hö-ren. Dann werde ich an dein Feuer kommen und mir die Hände wärmen.
Die Fensterstunde
Zwei schwerkranke, alleinstehende Männer lagen im gleichen Pflegezim-mer. Der eine durfte jeden Tag eine Stunde aufstehen und sich ans Fenster setzen, der andere war gelähmt, an Apparaturen angeschlossen und daher an das Bett gefesselt.
Während seiner Fensterstunde schilderte der Mann seinem Zimmerkolle-gen alle Vorkommnisse, die er draussen wahrnahm. Er beschrieb alles mit derart eindrucksvollen Worten, dass seinem Zuhörer jeweils ein Film vor dem geistigen Auge ablief. So wurde die Fensterstunde zu einem festen Bestandteil der beiden. Der Mann im Bett begann, für diese Zwi-schenzeit zu leben, in dem seine Eintönigkeit erweitert und belebt wurde durch Vorgänge und Farben der Aussenwelt, die er selbst nicht mehr wahrnehmen konnte.
Eines Morgens, als die Pflegerin ins Zimmer kam, war der Mann vom Fensterplatz tot. Er war friedlich im Schlaf gestorben, ohne dass sein Bettnachbar etwas davon merkte.
Nach einiger Zeit bat der Verbliebene die Krankenschwester, sie möge sein Bett doch bitte einmal ans Fenster stellen, damit er einen Blick nach draussen werfen könne. Als ihm die Schwester danach half, sich ein we-nig aufzurichten, sah er gegenüber nur die graue Wand einer leerstehenden Fabrik. Erstaunt fragte er, was den Verstorbenen wohl dazu bewo-gen hatte, so wunderbare Dinge zu beschreiben, die gar nicht vorhanden waren.
„Wahrscheinlich wollte er Ihnen damit eine Freude machen“, antwortete die Schwester. „Wussten Sie nicht, dass er blind war und nicht einmal die Wand da drüben erkennen konnte? Vielleicht hat er gerade deshalb so viel gesehen.“
Ein Ungeschick als Weg und Ziel
Bei einem Treffen mit einer Bekannten wurde Anna gefragt, was ihr die Knieverletzung, die sie sich bei einem Skiunfall im vergangenen Winter zugezogen hatte, „gebracht“ habe. Die Frage kam für sie derart überra-schend und ohne Zusammenhang mit dem vorangegangenen Gespräch, dass sie zuerst nicht wusste, was sie dazu antworten sollte.
Sie liess die ganze Unfallgeschichte vor ihrem geistigen Auge noch einmal ablaufen und begann danach zu erzählen: „Zuerst waren da die Fahrt mit dem Rettungsschlitten, der Spitalaufenthalt, die Schmerzen, schlaflose Nächte... Am meisten Mühe hatte ich jedoch mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit, der ich machtlos gegenüberstand. Ausgerechnet mir musste das passieren; ich, ein absoluter Bewegungsmensch, musste blo-ckiert und dadurch in meiner Selbständigkeit beschnitten werden. Da es aus therapeutischen Gründen keinen Gipsverband gab, sondern eine spe-zielle Kniegelenkstütze, durfte ich drei Monate das Bein nicht belasten - obwohl ich doch in allen Dingen unabhängig sein wollte. Für jede Fortbe-wegung mussten immer die Krücken benötigt werden. Diese unhandlichen Dinger, die mir obendrein noch Schmerzen in den Armen und Schultern verursachten. Und wie sollte ich auf diese Weise eine Tasse Kaffee oder einen Teller von der Küche in die Stube bringen, wie die Morgenpost oder etwas Eingekauftes ohne Lift in den dritten Stock hinauftragen. Jede klei-ne Arbeit schien mir als fast unmöglich und liess mich in meiner Ungeduld manchmal fast verzweifeln. Es war alles eine sehr mühsame Angelegenheit.
In dieser Zeit machte ich einmal einen Krankenbesuch im Spital. Als ich den Flur entlang humpelte, kam mir ein etwa zehnjähriges Mädchen im Rollstuhl entgegen und erzählte, dass es durch einen Sturz mit dem Fahr-rad querschnittgelähmt war. Ihm war klar, dass es - im Gegensatz zu mir - nie wieder, niemals mehr auf zwei Beinen würde stehen, geschwei-ge denn gehen, tanzen, springen würde können. Trotzdem war das Mäd-chen fröhlich, lachte und nahm alles an, wie es war.
Da wurde ich still und schämte mich meiner Ungeduld wegen.
Wieder zu Hause dachte ich über die Begegnung mit dem Mädchen nach. Ich ging in mich und begriff plötzlich, dass es in uns eine Macht gibt, ei-nen unbekannten Lenker unseres Lebens, der vor uns hergeht, dem wir ahnungslos folgen und damit unseren ureigenen Weg gehen. Dieser Unbekannte nimmt scheinbar leichtfertig und ungerecht, verteilt ebenso sorglos und für uns unverständlich hier ein bisschen Zuversicht und dort ein wenig Schmerz. Erst im Nachhinein, wenn wir uns mit der „Ungerech-tigkeit“, die uns widerfahren ist, befassen, erkennen wir, weshalb uns das Schicksal damals etwas „Schweres“ auferlegt hat.
Ich wusste nun, dass ein Missgeschick ein Segen sein kann, dass es zu meiner Pflicht gehört, für sich Sorge zu tragen, ohne ängstlich um die Gesundheit besorgt zu sein. Dabei haben Leiden ihre Funktion. Wenn wir zu wenig auf die innere Stimme hören, hat der Körper oft keine andere Möglichkeit, als sich in Schmerz auszudrücken oder unsere Körperfunkti-onen einzuschränken oder gar lahm zu legen. Die unbekannte Macht in uns will, dass wir auf uns hören sollen und dadurch ganzheitlich werden.
Die Erschwernisse, mit Krücken den Alltag zu meistern, haben mir unge-ahnte Einsichten in mich selbst und ins Leben überhaupt gebracht - und heute bin ich dankbar dafür. Ermutigt, meine Arbeit zu tun und die Um-stände dankbar anzunehmen, wie sie sind, sagte ich mir: Die Meisterin in mir weiss den Weg und findet ihn auch“.
Keine Zeit zum Leben
Einmal meldeten besorgte Engel dem Schöpfer, dass die Menschen auf der Erde immer weniger Zeit zum Leben hätten. Sogleich berief der himmlische Vater seinen Rat ein, der daraufhin beschloss, eine Delegation zur Erde zu schicken, um die näheren Umstände in Erfahrung zu bringen.
Kurz darauf erstatteten die Himmelsboten dem Kollegium Bericht, dass den Menschen das Fehlen ihrer Zeit bewusst sei und sie dies auch sehr beklagen. Aber leider hätten sie trotz ihres guten Willens keine Möglich-keit, ihr Leben ausgiebiger zu leben. Neben all der Geschäftigkeit sei der Tag einfach viel zu kurz dazu. Im Himmel war man darüber erstaunt. Weil die Menschen bekanntlich mit einem gesunden Verstand ausgestattet sind, sollte es ihnen doch möglich sein, die täglichen 24 Stunden sinnvoll einzuteilen.
Der himmlische Rat überlegte hin und her, was zu tun sei. Einige vertra-ten die Meinung, die Höhere Macht solle durch entsprechenden Eingriff das nervöse Verhalten der Menschen ändern. Weitere schlugen vor, die Zeitmessung vollends abzuschaffen. Andere forderten sogar, das Men-schengeschlecht mit Naturgewalten zu bestrafen, damit es wieder zur Besinnung komme. Nach langer Diskussion fand schliesslich die Idee ei-nes jungen Engels, Gott solle den Tag probeweise um eine Stunde verlängern, die meiste Zustimmung. Und weil Gottvater Verständnis für sei-ne Geschöpfe hat, schuf er eine 25. Stunde.
Als die Menschen bemerkten, dass der Tag eine Stunde länger dauerte, jubelten sie und waren begeistert, dass ihnen fortan noch mehr Zeit für ihr hektisches Getue zur Verfügung stand.
Lawinengefahr im Pflegeheim
Um zehn Uhr verstummte das Fernsehgerät im Gemeinschaftsraum. Da und dort wurden Türen geschlossen. In den Gängen erlosch das Licht, nur in der Eingangshalle blieb die kalte Neonröhre an. Im Bereitschaftszim-mer sass die Krankenschwester und ordnete Medikamente ein.
Als es im Haus dunkel war, verliess Frau Gruber das Zimmer. Sie blieb auf dem Gang stehen, lauschte fernen Stimmen, bevor sie sich an den Wänden entlang tastete. Am Treppengeländer wartete sie.
„Wollen Sie noch ein bisschen spazieren gehen?“ fragte die Schwester, als sie in den Flur trat.
„Die Lawine wird kommen“, sagte Frau Gruber lakonisch.
„Eine Lawine, hier im Seniorenheim, das ist nicht möglich“, antwortete die Schwester, als sie auf die alte Frau zuging. „Jetzt ist doch Schlafenszeit, Frau Gruber“, sagte sie und nahm die Frau an die Hand.
Seit Frau Gruber einquartiert war, musste abends die Eingangstüre abge-schlossen werden, weil es geschehen konnte, dass sie in der Nacht das Heim verlassen wollte, um zu suchen, was sie verloren hatte.
„Im Nachthemd können Sie nirgends hin gehen“, sagte die Schwester.
„Wenn es nicht kalt wird, kommt sie bestimmt“, antwortete Frau Gruber. Sie starrte zur Glastür und zeigte mit zittriger Hand über die Waldgrenze hinaus.
„Alle schlafen schon!“ sagte die Schwester besänftigend und führte die Verwirrte über den Gang zurück in ihr Zimmer.
„Wie kann man schlafen in so einer Nacht? Ich spüre es, dass sie kommt.“
Die Schwester setzte sie aufs Bett, schüttelte das Kopfkissen, dann drückte sie Frau Gruber sanft zurück.
„So, und nun versuchen sie zu schlafen.“
„Es nützt nichts“, begehrte die alte Frau auf. „Ich werde nicht schlafen.“
„Vielleicht geht es mit Musik. Ich schalte jetzt das Radio ein, und Sie hö-ren so lange Musik, bis ihnen die Augen zufallen.“
„Wenn das Radio läuft, hört man sie nicht kommen“, erwiderte die alte Frau, während die Schwester am Radiogerät drehte. „Früher hatten wir nie das Radio an, wenn Lawinengefahr drohte.“
Die Schwester fand einen Sender mit Volksmusik. „Ich gehe nun wieder nach vorne. Wenn Sie mich brauchen, drücken Sie den schwarzen Knopf.“
„Bitte wecken Sie mich rechtzeitig, wenn sie doch noch kommt“, bat Frau Gruber.
„Wenn die Lawine kommt, werde ich Sie wecken“, versprach die Schwes-ter.
Nach Mitternacht ging sie noch einmal durch die Flure und schloss die halb geöffneten Türen von jenen, die beim Einschlafen nicht so allein sein wollten.
„Sie sind ja immer noch wach“, flüsterte die Schwester. Frau Gruber stand vor ihrem Kleiderschrank, im Arm hatte sie ein Bündel Hemden und Handtücher.
„Mein Gott, ich kann den Koffer nicht finden“ jammerte sie.
„Wozu brauchen Sie einen Koffer?“
„Bei Lawinengefahr muss alles parat sein, aber ich habe keinen Koffer.“
Auf dem Kopfkissen lag die Wärmflasche. Die alte Frau hatte sie in ein Laken gewickelt, der Flaschenhals schaute heraus.
„Nun weine nicht, Julia“, sagte sie zu der Flasche.
„Ich werde eine Schlaftablette holen“, sagte die Schwester halblaut. „Das wird helfen.“
„Aber wir müssen doch gehen!“ antwortete die alte Frau. „Das Haus hat schon gebebt. Ein erster Rutsch hat den Stall getroffen, hören Sie nicht, wie die Ziegen aufgeregt meckern.“
Die Schwester löschte das Licht.
„Wo steckt denn der Jonas?“ fragt Frau Gruber in das Dunkel hinein. „Er sollte die Ziegen losbinden, aber der Bub hat sich versteckt.“
Sie suchte unter dem Bett und hinter dem Schrank.
„Ich weiss genau, wo du dich verkrochen hast!“ rief sie.
Die Schwester nahm die alte Frau in den Arm.
„Das ist schon lange her und kehrt nicht wieder“, sagte sie.
„Lawinen kommen immer wieder!“ widersprach Frau Gruber.
„Aber heute ist alles ganz ruhig“, entgegnete die Schwester.
„Damals war es auch ruhig bevor sie losbrach und sich alles anfing zu drehen. Nur die Kälte verhindert den Abgang. Wenn es kalt ist, kommt sie nicht.“
Die Schwester führte sie ans Fenster. Draussen die nächtliche Stadt, mit den tanzenden Lichtern der Autoscheinwerfer, den grellen Reklamen und den vereinzelten Strassenlaternen.
„Es ist zu spät“, sagte die Frau und zeigte zu den flackernden Lichtpunk-ten. „Jetzt ist sie da! Sehen Sie die Leute mit den Laternen. Es sind so viele Ziegen darunter. Wir müssen sie ausgraben?“
„Keiner braucht sie auszugraben, Frau Gruber.“
„Jonas, kommst du endlich raus! Ach, die Kinder gehorchen nicht mehr. Wenn kein Vater mehr da ist, machen sie, was sie wollen.“
„Morgen früh werde ich Ihre Tochter anrufen“, sagte die Schwester. „Dann können Sie ihr alles erzählen.“
„Aber meine Julia ist doch im Bett und schläft. Nur der Jonas hat sich versteckt.“
Die Schwester holte ein Beruhigungsmittel und blieb bei der alten Frau, bis sie eingeschlafen war.
Als am Morgen Tochter Julia kam, führte die Schwester sie zu ihrer Mut-ter, die im Sessel sitzend schlief. Auf ihrem Schoss lag die Wärmflasche. Strümpfe, Handtücher und Unterwäsche lagen auf der Tischplatte.
„Wo ist eigentlich Ihr Bruder?“ fragte die Schwester.
„Jonas, mein älterer Bruder starb bei einem Lawinenniedergang, als ich noch klein war. Er hatte sich versteckt und wurde verschüttet.“
„Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Mutter einmal dahin fahren, wo es ge-schehen ist“, schlug die Schwester vor, „damit sich die innere Spannung löst und sie wieder ruhig schlafen kann.“
„Es gibt dort nichts mehr. Die Lawinen haben uns alles genommen. Zu-erst den Vater, dann den Jonas, die Ziegen und die ganze Alpwirtschaft. Sie will auch nicht mehr dorthin. Nur nachts manchmal, wenn ihr die Geister der Vergangenheit zusetzen, will sie hinauf, um ihren Jonas zu suchen.“
Während sie sprachen, wachte die alte Frau auf und blinzelte ins Sonnen-licht, das durch die Vorhänge in einem breiten Streifen auf das Parkett fiel.
„Sehen sie, nun ist doch keine Lawine gekommen“, sagte die Schwester.
„Wie soll bei uns im Heim eine Lawine kommen“, antwortete Frau Gruber und lachte.
Lieber Freund
Gleich zu Beginn muss ich dir berichten, dass ich zurzeit keine grossen Leistungen vollbringe. Nicht etwa, dass ich mich krank fühle und keine Lust zum Arbeiten hätte oder weil mir gar die Arbeit ausgegangen wäre. Nichts dergleichen. Es ist ganz einfach das Wetter, das mir einen Strich durch die Rechnung macht. Seit drei Tagen regnet es ununterbrochen, und es macht nicht den Anschein, dass es aufhören möchte.
Gestern machte ich mich trotzdem auf den Weg, um im Dörfchen unten etwas einzukaufen. Danach machte mich wieder auf den Heimweg und kam durchnässt bei meinem Hüttlein an. Rasch hatte ich das vorbereitete Feuer entfacht und nach kurzer Zeit wachten durch die heisse Suppe meine Lebensgeister wieder auf. Bald einmal war ich reif für die Schlaf-statt und so ging auch dieser Tag zu Ende.
Nun sind es beinahe elf Jahre her, dass ich mich von der sogenannten Zivilisation verabschiedete, um auf meinem Älpchen ein zurückgezogenes Dasein verbringen zu können. Die gewohnten Annehmlichkeiten waren schnell entbehrlich. Bei einem durchschnittlich zwölfstündigen, selbstauf-erlegten Arbeitstag hat sich dies in kurzer Zeit ergeben. Zudem sind mei-ne Bedürfnisse in mancher Hinsicht schnell geschrumpft. Um mich mit Tagesaktualitäten oder Weltgeschehen zu befassen, baute ich von Anfang an keine Möglichkeit ein. Meistens war ich nach dem Tagwerk dazu auch zu müde. In der Abgeschiedenheit, auf sich allein gestellt, zählen andere Werte. Unwichtiges und nicht Lebensnotwendiges wird schnell als Ballast erkannt, der hindert, das Wesentliche zu erkennen. Hier ist massgebend, eine eingestürzte Mauer wieder aufzubauen oder Material vom Tal hin-aufzutragen, Dachsanierungen und Zimmermannsarbeiten zu verrichten, Granitplatten im stotzigen Bachtobel zu hauen und für Hangabstützungen und Umzäunungen die notwendigen Lärchenstämme zu fällen, Brennholz zu sägen und Wasserleitungen in standzuhalten.
Wie du weisst, war das Hüttlein zuvor ein Geissenstall, der über dreissig Jahre lang nicht mehr bewirtschaftet wurde. Da gilt es laufend etwas Hand anzulegen, wenn man es mehr oder weniger gemütlich eingerichtet haben will.
Als ich mit dem Aufsetzen dieser paar Zeilen begann, war noch heller Tag. Und jetzt ist es bereits so dämmerig, dass ich kaum mehr die ein-zelnen Wörter erkennen kann. Ich werde kurzerhand die Kerzen anzün-den müssen, die noch immer meine einzigen Lichtquellen sind. Wohl bin ich erbaut hier oben in meinem kleinen Stübchen, das ich lange nicht so lieb hatte wie jetzt in diesen nasskalten Tagen. Ich spüre ein Geborgen-sein, das ich fast nicht beschreiben kann. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich an einer Weihnachtskrippe anfing zu bauen. Aus Wurzelwerk, Rinden und Moos ist im Laufe des Vorwinters eine gebührende Geburts-stätte für das Jesuskind entstanden. Dann ging es ans Schnitzen der Hei-ligen Familie und nach dem Ochs und dem Esel kommt nun allenthalben ein Hirte, ein Schaf oder sonst eine Figur hinzu. Irgendwann werde ich dann noch die Heiligen Drei Könige dazustellen können. So habe ich mir auch für künftige Brachzeiten eine Beschäftigung zugelegt, die mich gänzlich ausfüllt. Es ist alles was es zu einem guten einfachen Leben braucht vorhanden. Für mehr hätte es auch keinen Platz. Bis anhin reich-te es vollends und wird sich gewiss nicht so bald erschöpfen.
Nun wünsche ich dir, lieber Freund, dass es auch dir mit allem ebenso gut ergeht und du mit keinem anderen Leben auf der Welt tauschen möchtest. Ich freue mich bereits auf den Sommer, wenn du für zwei, drei Tage auf Besuch kommst.
Bis dann mit freundschaftlichem Gruss
Markus
Das lieblose Präsent
Nach dem Lichterlöschen machte die Nachtschwester noch einen Rund-gang durch die Pflegeabteilung. Für Herr Mettler war am Abend noch ein Paket abgegeben worden. Darum wunderte sie sich nicht, dass bei ihm noch Licht brannte und auf ihr Klopfen zunächst keine Antwort kam. Das wird wegen dem Geschenk sein, dachte sie. Als sie nach dem „Herein“ die Tür öffnete, sass der alte Herr aufgerichtet im Bett und schaute missmutig auf die ausgepackte Ware.
Die Schwester erkannte mit einem Blick, was für kostspielige Sachen das waren. Der Rentner aber machte ein mürrisches Gesicht. Kein Fünkchen Freude war zu sehen.
„Aber Herr Mettler“, sagte sie, „wie kann man zu solch wunderbaren Ga-ben derart schlecht gelaunt sein?“
Der Patient sah sie traurig an und sagte: „In diesem Paket ist nur teure Ware. Herzlichkeit ist keine dabei!“
Er erzählte ihr, dass die Absenderin seine Tochter sei, mittlerweile eine reiche Geschäftsfrau, und dass sie das Paket zu seinem geburtstag wie jedes Jahr von den Angestellten habe packen lassen. Auf einer gedruck-ten Karte stand: Deine Tochter Therese und Schwiegersohn Rolf. Sonst nichts, keine guten Wünsche, kein liebes Wort, kein angekündigter Be-such…
„Und hier, sehen sie“, sagte der alte Mann mit weinerlicher Stimme, indem er ihr die teuren Geschenke entgegenstreckte, „überall sind noch die Preisschilder dran, damit der arme Vater sieht, was man für ihn ausge-geben hat.“
Eigentlich ist es begreiflich, dachte die Pflegerin, wenn der Beschenkte sagt, dass es lediglich teure Ware sei. Denn auch die kostbarsten Ge-schenke sind nichts wert und können keine Freude bereiten, wenn sie nicht von Herzen kommen.
Der mürrische Pensionär
Herr Kalt war nicht beliebt im Altersheim. Er gehörte zu den Menschen, die einem, wenn nicht auf den ersten, dann auf den zweiten Blick un-sympathisch waren. Vielleicht zu Unrecht ein ganzes Leben lang. Kein Wunder, dass der alte Mann mürrisch und oft unduldsam geworden war. Selten sprach jemand mit ihm und er selbst redete meistens nur mit den Katzen, die um das Heim schlichen und von ihm gefüttert wurden. Einen Teil der Rente, die ihm für einen bescheidenen Lebensabend ausreichte, verwendete er stets für das Tierfutter. Trotz seiner 84 Jahre war er von einer erstaunlichen Vitalität. Weil er wusste, dass man ihn nicht sonderlich mochte, verbrachte er tagsüber die meiste Zeit außer Haus. Der alte Mann im abgenutzten grauen Lodenmantel, mit dem schäbigen Rucksack am Rücken und dem knorrigen Stock in der Hand, war in der weiten Um-gebung bekannt. Doch auch hier gingen ihm die Leute aus dem Weg. Selbst der Heimleiter hatte das Heu nicht auf der gleichen Bühne wie er, und schon mehrmals geriet er wegen der Katzenfütterung mit ihm in Streit. Danach tat ihm der alte Mann immer leid, denn die Katzen schie-nen die einzigen zu sein, die ihn mochten.
Um die Weihnachtszeit mussten die getigerten Freunde jeweils bis spät in die Nacht hinein aufs Fressen warten. Gleich nach dem Mittagessen marschierte Herr Kalt los und kam erst zu später Stunde zurück. „Wo treibt sich eigentlich der Katzenheini herum?“ tuschelten seine Tischnachbarn beim Abendessen, wenn sein Platz leer blieb.
Herr Kalt aber hatte nur eines im Sinn, er wollte so viele öffentliche Klaus- und Weihnachtsfeiern besuchen wie nur möglich. Vor allem die, wo jeder Besucher ein Geschenk bekam. Dass er bei den meisten Feiern bis am Schluss ausharren musste, störte ihn zwar, aber nur wer bis zum Ende blieb, durfte ein Präsent in Empfang nehmen. Dort, wo es etwas Besonderes gab, stellte er sich nochmals in die Reihe. So kam es, dass Herr Kalt an manchem Abend todmüde, dafür mit einem gefüllten Ruck-sack im Altersheim ankam. Und war es noch so spät, seine Katzen ver-gass er nie, was ihm immer wieder harte Worte des Heimleiters eintrug. Andererseits machte sich dieser auch Sorgen um den Einzelgänger. Als er eines Morgens vom Zimmermädchen erfuhr, dass Herr Kalt das ganze Zimmer voll von allerlei Waren habe, beschloss er, den Pensionär zur Rede zu stellen. Doch es sollte anders kommen.
Wie üblich, machte der Heimleiter auch am Heiligen Abend seinen letzten Nachtrundgang durch das Haus. Überall war es dunkel und still, nur bei Herr Kalt sah er einen Lichtschein unter der Türe durchschimmern. Zu-dem drang leise Weihnachtsmusik in den Flur. Er wird beim Radiohören eingeschlafen sein, dachte er und öffnete nach dem Anklopfen leise die Tür. Herr Kalt sass im Lehnstuhl, den Kopf auf der Seite und schlief. Überall lagen Schnipsel von Geschenkpapier, der Tisch glich einem kleinen Warenlager. Auf der Kommode waren Weihnachtspäckchen aufgestapelt, jedes mit einem Namensschild und guten Wünschen versehen. Er las ein paar Namen und erkannte, dass sie für die Pflegebedürftigen bestimmt waren, die nicht aus dem Haus kamen. Etwa zwei Dutzend Geschenke hatte Herr Kalt schön eingepackt, bevor ihn der Schlaf übermannte. Schweigend und nachdenklich betrachtete er den schlafenden Mann. Mit einem Mal sah er ihn nicht mehr nur als einen griesgrämigen Einzelgänger. Leise und etwas beschämt ging er aus dem Zimmer und schloss die Tür.
Am Weihnachtsmorgen fanden manche Heimbewohner ein Päcklein vor ihrer Tür und freuten sich riesig über die unerwartete Gabe. Dazu noch vom Katzenheini. Am meisten überrascht aber war Herr Kalt, als er spä-ter vor seiner Tür ein grosses Paket fand. Noch grösser wurden seine Augen, als er es auspackte. Es war ein neuer Rucksack, vollgefüllt mit Katzenfutter.
Brief an die Eltern
Es gibt mich noch. Den verlorenen Sohn. Der euch Eltern vor Jahren mit groben Worten beschimpfte. Das kleine Bergdorf, Brauchtum und gottes-fürchtige Leute verachtete. Und dann davonlief. Nichts mehr wollte ich zu tun haben mit Heimat und Tradition. Weg von den steilen Almen und un-nützen Bergen ringsum. Genug hatte ich vom ganzen Bauerntum. Die grosse Welt wollte ich entdecken - nicht Mist zetteln. Übers offene Meer fahren - statt Brennholz sammeln mit dem Buckelkorb. Fremde Länder und andere Menschen kennen lernen - an Stelle von Vieh hüten. Frei sein wollte ich und Geld verdienen. Keine Milch mehr schleppen für einen Kan-ten hartes Brot.
Jahre sind seither übers Land gezogen. Manches habe ich erlebt. Viel verdient. Und wieder verloren. Die Kälte und Anonymität der Grossstadt erfahren. Kein Lächeln. Selten ein Gruss. Höchstens ein Kopfnicken. Kei-ner kennt den andern. Jeder ist allein, unter Millionen von Menschen. Schwer auszuhalten auf die Dauer. Oft hatte ich Heimweh. Bis zum Herz zerreissen. Zum Heimkehren und Geradestehen für das, was ich euch angetan habe, aber nie den Mut gehabt. Nur ab und zu ein Lebenszei-chen. Eine Ansichtskarte. Ein paar Worte dazu. Mehr nicht.
Für diese Zeilen hier gibt es einen besonderen Grund. Neulich stand ich am anderen Ende der Welt in einer Kirche vor einer alpenländischen Weihnachtskrippe. Sprachlos bestaunte ich die Schafe und Hirten, im Stall die Heilige Familie, Ochs und Esel, den Engel, im Hintergrund die Berge. Diese Darstellung versetzte mich unversehens zurück in die Kindheit. Ich sah mich mit Grossvater den Christbaum holen im verschneiten Wald. Roch Bratäpfel und Tannenduft. Hörte das helle Glöcklein klingen. Fühlte die Spannung, bis wir Kinder endlich in die Stube durften, wo wir mit glänzenden Augen und klopfenden Herzen vor dem leuchtenden Baum standen. Und dann kam mir das Lied in den Sinn, das du mich einst ge-lehrt hast, Mutter. Als kleiner Junge durfte ich es allein der ganzen Fami-lie vortragen. In weiser Voraussicht musst du damals geahnt haben, dass es mir später einmal nützen würde. Plötzlich konnte ich mich meiner Gefühle nicht mehr erwehren und liess den Tränen freien Lauf. Weit musste ich fortgehen, um die Heimat zu schätzen. Nun weiss ich, wohin ich gehö-re. Ich wünsche mir nichts mehr, als an Weihnachten endlich wieder bei euch zu sein - und dass ihr mir verzeihen könnt.
Die Versuchung
Ein alleinstehender Mann wollte jemandem eine Freude bereiten. In der Nähe kannte er eine arme Familie, in welcher der Vater gestorben war. Also machte er sich auf den Weg, um der Witwe 100 Franken zu geben, damit sie ihren Kindern wieder einmal etwas schenken könnte.
Als er ein Stück gegangen war, sagte eine innere Stimme zu ihm: 100 Franken ist viel Geld. Man soll die Leute nicht so verwöhnen! Wer weiss, ob die Frau richtig damit umgehen kann, wenn sie auf einmal so viel be-kommt?
Und so beschloss er, ihr nur 50 Franken zu geben.
Als er weiter gegangen war, meldete sich die Stimme wieder: Täten es nicht auch 20 Franken? Schliesslich bist du nicht der Einzige, der sich ver-pflichtet fühlen sollte, ihr zu helfen.
Daher entschied er sich, ihr 20 Franken zu geben.
Als er sich dem Haus näherte, forderte die Stimme in ihm erneut: Sind nicht auch 10 Franken genug; am Ende geht es ihnen ja gar nicht so schlecht. Sie haben ein Dach über dem Kopf und scheinen zufrieden zu sein. Gib ihnen 10 Franken! Das macht ohnehin kein anderer Mensch!
Da blieb der Mann stehen, erschrak über sich selbst und sagte aufge-bracht zu seinem inneren Versucher: „Wenn du nicht endlich deinen Mund hältst, dann gebe ich der Frau alles, was ich bei mir habe!“
Aber die stichelnde Stimme schwieg nicht und bedrängte ihn weiter: Überhaupt frage ich mich, was dich das Leben dieser Familie angeht? Du bist weder mit ihr verwandt noch kennst du sie besonders gut.
Nun reichte es dem Mann. Ohne zu zögern, klingelte er an der Haustür und gab der Frau alles, was er in seiner Brieftasche hatte. Es war einiges mehr, als er anfangs zu geben gedachte.
Die Überraschung
Was mochten die fünf Buben auf dem Schulhausplatz bloss wieder aus-hecken, fragten sich die Dorfleute, als sie die allseits als Bengel bekann-ten Oberdörfler geheimnisvoll miteinander tuscheln sahen. Wenn es nur nicht wieder einer von den üblen Streichen abgab, die sie das ganze Jahr hindurch mehr als genug zu spüren bekamen. Zuzutrauen wäre es denen schon, meinten die Alten klagend. Diesmal sollten sie sich aber getäuscht haben mit ihren Vermutungen.
Wie auf ein Kommando stob die Schar plötzlich auseinander. Kurze Zeit später trafen sie sich wieder in der Dorfmitte beim Brunnen. Einer hatte einen Rucksack umgehängt, der zweite zog einen Karren hinter sich her, die andern drei trugen Körbe. Dann marschierten sie los. Beim Haus des Doktors hielten sie erstmals an und klopften an die massive Tür. Als das Hausmädchen öffnete und das Quintett erkannte, wollte sie sogleich die Türe wieder schliessen, wusste man doch nie, was diese Strolche im Schilde führten. Doch da erschien auch schon der Doktor und fragte nach ihrem Anliegen. Sie wollen heute die armen und kranken Leute beschen-ken, hätten dazu aber selbst keine Mittel und bitten daher um einige Ga-ben. Der Doktor nickte zufrieden und gab der Jungfer einige Anweisungen. Bald darauf luden die Buben einen gefüllten Korb auf den Schlitten und zogen weiter zum Bäcker. Hier vollzog sich etwa das gleiche wie vor-hin, ausser mit der Zugabe einer leichten Ohrfeige, den die Bäckersfrau dem Grössten austeilte. Still nahm dieser sie hin, war ihm doch die Ge-schichte vom neulich gestohlenen Marzipanring noch in bester Erinnerung. Auch beim Metzger gingen sie nicht leer aus und sogar der knausrige Schuster legte ihnen ein Paar Stiefel in den Korb. Überall fanden sie Lob mit ihrem Vorhaben und trugen beinahe aus jedem Haus irgendwelche nützlichen Sachen zusammen. Gegen Mittag hatten sie ihren Rundgang beendet. Voller Freude deponierten sie die geschenkten Waren in einem Schuppen. Einer blieb als Wache dabei, damit nicht etwa eine Katze oder ein Hund sich daran gütlich täten, die andern vier machten sich auf in den Wald, wo sie eine Menge Fallholz wussten. Nach einer geschlagenen Stunde kamen sie mit dem holzbeladenen Karren beim Schuppen an. In der Zwischenzeit hatte der Wachestehende die Gaben redlich aufgeteilt. Auf siebzehn Häufchen lagen Zettel mit den Namen der Empfänger darauf. Dazu kamen jetzt noch die Holzscheite.
Als es dämmerte, hatten sie alles verteilt. Über jedes „vergelts Gott“, mit welchem ihnen die Alten und Kranken mit wässrigen Augen dankten, wussten sie nur zu erwidern, dass das nichts Besonderes sei und sie es gerne getan haben.
Nur ein paar Worte
Alles wurde bedacht. Nichts verschwendet, weder das Korn noch das Wort. Auch nicht das Lachen. Das Leben richtete sich nach dem Lauf des Natürlichen. Es war da, was der karge Boden hergab, schwielige Hände schafften. Kein Überfluss, wenig Mitgefühl. Nicht, dass sie sich deswegen beklagte. Nein! Dazu fehlte ihr die Eitelkeit, wie allen, die abseits vom hektischen Geschehen ein einfaches Leben führten. Auch litt sie nicht darunter. Es bedrückte sie nur, dass unter ihrem Dach nicht miteinander geredet wurde, sie sich nicht mitteilen konnte, nichts zu hören bekam. Wohl wurde laut gebetet, bei Tisch und vor dem Bett etwa, wenn das schwere Tagwerk beendet war. Aber dieser Dank und diese Bitten an Gott waren doch nur Selbstgespräch, wenn auch andere miteinbezogen wurden. Mütter hatten es einfacher, Kinder sind nicht schweigsam. Sie war keine Mutter, hatte keine Kinder um sich, nie gehabt. Sie lebte mit ihrem wortkargen Mann, allein, seit einem halben Jahrhundert. So kam es, dass der Glanz in ihren Augen langsam verblasste. Aber einmal, an einem Abend, geschah es: Draussen fiel leise der Schnee. In der be-scheidenen Stube zündete die Frau die eine Kerze an. Ihren Mann, der im Herbst beim Holzfällen schwer verunglückte, bettete sie auf die Ofen-bank, so dass er es bequem hatte. Als sie ihm eine Schüssel Suppe brachte, sagte er: „Danke! - Danke, liebe Frau, für alles - und vergelts Gott.“ Dabei sah er sie an und ein scheues Lächeln stand auf seinem Ge-sicht. Verwundert blieb die Frau stehen. Es schien, als glätteten sich ihre Falten und ihr Haar schimmere nun silbriger. Noch lange leuchteten ihre Augen an diesem Abend, auch als die Kerze erloschen war.
Plötzlich war alles anders
Alles war im Überfluss vorhanden. Nichts zu kostspielig. Mit dem verfüg-baren Geld war schnell beschafft, was gerade begehrt wurde. Daher war auch keine Wertschätzung mehr vorhanden. Selbst die teuersten Ge-schenke landeten achtlos neben allen anderen Kostbarkeiten. Kurz darauf waren sie meistens vergessen. Den Kindern stand ein ganzes Stockwerk für das unzählige Spielzeug zur Verfügung. Für Gemeinsamkeiten, Wärme und Geborgenheit hatte es wenig Platz. Geschenkt wurde auch nicht aus Freude oder Liebe, sondern einfach, weil Geld keine Rolle spielte und jeder versuchte, den anderen mit immer noch luxuriöseren Gaben zu überbieten. Das Herz wurde nie miteinbezogen. Schenken war eine reine finanzielle Angelegenheit. Nur das Teuerste ist gut genug, lautete die De-vise. Am schlimmsten war es an Familienfesten. Diese Feiern arteten jeweils zum regelrechten Protzwettbewerb aus.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Bei einem Routine Untersuch wurden beim Mann bösartige Geschwüre entdeckt. Anhand der fortgeschrittenen und bedrohlichen Lage rieten die Ärzte zu einer sofortigen Operation. Mit einem Schlag verlor das Materielle für die Angehörigen die bisherige Bedeutung. Die eingebüsste Gesundheit liess sich mit keinem Vermögen zurückkaufen. Aller Reichtum schien wertlos. Wohl konnte sich der Mann eine hervorragende Klinik mit ausgewiesenen Spezialisten leis-ten, doch den Ausgang der Operation konnte niemand vorhersagen. Teil-weise Lähmungen seien nicht auszuschliessen, sagten die Ärzte, doch ohne einen Eingriff hätte er kaum Überlebenschancen. Verzweifelt harrten die Betroffenen der Dinge, die auf sie zukamen.
Glücklicherweise nahm das Ereignis einen positiven Verlauf. Sein Leben sei an einem seidenen Faden gehangen, und zum Gelingen habe hier ein anderer die Hand im Spiel gehabt, sagte der Professor und deutete mit dem Zeigfinger symbolisch nach oben.
Ein paar Tage danach konnte der Patient mit Hilfe der Krankenschwester erstmals auf den Bettrand sitzen. Gehen, sprechen, essen, die natürlichsten Dinge musste er wieder erlernen. Nichts mehr war selbstverständlich wie vorher.
An seinem Geburtstag stand die Familie zum ersten Mal mit leeren Hän-den vor ihm. Dafür strahlten alle, schauten einander still an und staun-ten, wie erfüllend ein Festtag sein kann, wenn an Stelle einer sinnlosen Geschenkflut Dankbarkeit und Mitgefühl im Vordergrund stehen.
Der unbekannte Bruder
Wird wieder mal ein Walzbruder unterwegs sein, dachte der Bauer, als er im Weidstall eine Schlafstelle im Stroh entdeckte. Beim Brunnen waren zudem Fussspuren zu erkennen. Auch war er sich sicher, dass des Nachts bei einer Kuh immer ein paar Striche Milch gemolken wurden. Doch wenn er frühmorgens zum Stall kam, war der Übernächtler bereits ausgeflogen. Tagsüber verriet ein Rauchwölklein über der halb zerfalle-nen Köhlerhütte, dass dort jemand hauste. Es war nichts Besonderes, denn im Winter zogen oft Landstreicher umher. Meistens waren es friedfertige Leute, die es nirgends lange aushielten. Im Sommer führten sie ein freies Leben, bis sie die Kälte und der Hunger zu den Menschen und an die Wärme trieben.
Nach schönen Tagen schlug das Wetter um. Schnee lag in der Luft. Das Vieh wurde in den Stall getrieben und die Scheune winterfest gemacht. Eines Abends, als der Bauer beim Melken war, stand plötzlich ein magerer, finsterer Mann im Stallgang. Das wird wohl der Übernächtler sein, fuhr es dem Bauer durch den Kopf. Wortlos schauten sie einander an. In unverständlicher Sprache begann der Fremde zu sprechen. Der Bauer deutete auf den Melkkessel und fragte: „Hunger?“ Das musste der Unbe-kannte verstanden haben, denn er streckte ihm die zu einer Schale geformten Hände entgegen. Mit einer Geste gab ihm der Bauer zu verste-hen, dass er warten sollte. Er ging ins Haus und kam kurz darauf mit einem Stück Brot und einer Tasse zurück. „Brot“, sagt er und reichte es dem Fremden. Dann füllte er die Tasse mit Milch. Andächtig begann der Fremde zu essen. „Dableiben“, sagte der Bauer und zeigte auf die Stroh-ballen in der Ecke. Aber der andere schüttelte den Kopf, ging auf die Tür zu und seine Gestalt, ein langer schwankender Schatten, verlor sich im Dunkeln.
So ging es ein paar Abende. Nie wäre der Fremde zur Tageszeit erschie-nen. Und niemand ausser dem Bauer bekam ihn zu Gesicht. Mit der Zeit konnten sich die beiden ein bisschen verständigen. „Wo hergekommen?“, wollte der Bauer einmal wissen. Der andere wies gegen Sonnenaufgang. „Viel, viel“ sagte er und spannte dabei die Arme weit aus. „Dableiben“, bot ihm der Bauer erneut an. Doch der Fremde wehrte sich wieder und wollte gehen. „Wohin gehen?“, fragte der Bauer, als er ihn an der Schulter festhielt. Der andere schaute ihn mit traurigen Augen an, liess die Arme hängen und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht wohin. Eines Abends gab ihm der Bauer Brot, Speck und Käse, eine Kanne Milch, eine warme Jacke und wollene Strümpfe mit auf den Weg.
Ein paar Tage war nichts mehr von ihm zu merken. Es hatte jede Nacht geschneit, doch nie war eine frische Spur vom Wald her zu sehen. Eines Morgens stand auf dem Stallbänklein die leere Milchkanne. Dabei lag ein Stück vom Papier, in das die Socken eingewickelt waren. Merkwürdige Buchstaben standen darauf, die der Bauer nicht lesen konnte.
Der Bauer erzählte die Geschichte einem Bekannten und zeigte ihm das Papier. Das sei russisch, wusste dieser sofort. Er wolle den Zettel mit-nehmen und ihn von einem Kundigen entziffern lassen. Kurzum kam der Bericht zurück. Die Übersetzung lautete: „Du bist mein Bruder. Danke.“ Mehr nicht. Der Bauer wusste jedoch, was die wenigen Worte bedeuteten.
Wenn die Eisblumen blühen
Angefangen hatte es damit, dass die alte Bäuerin ihren einzigen Sohn dazu drängte, doch endlich eine Frau zu suchen. So könne es doch nicht weitergehen. Wer solle ihm denn den Haushalt richten, wenn sie es ein-mal nicht mehr bewältigen könne. Es sei schlimm genug, seit der Vater nicht mehr lebe. Nach langem Hin und Her kontaktierte er schliesslich ein Partnerinstitut.
Schon kurze Zeit später stand die zukünftige Bäuerin vor der Haustür. Doch es sah aus, als hätte sie sich in der Adresse geirrt. Nicht nur der Schminke und der hohen Absätze wegen. Ihr ganzes Verhalten passte nicht in diese ländliche Gegend. Von Abreisen war jedoch keine Rede. Im Gegenteil. Schon bald danach wurde geheiratet. Ebenso schnell war klar, wer fortan auf dem Hof den Ton angab. Herrisch sagte die neue Bäuerin zu ihrem Mann, dass sie erstens nicht mit dieser Alten unter einem Dach leben werde und zweitens ein junger, tüchtiger Knecht auf den Hof müsse. Dafür werde sie sich kümmern. Er solle schauen, dass die Alte mög-lichst schnell von hier verschwinde.
Hin- und hergerissen wusste der Jungbauer nicht mehr ein noch aus. Auf der einen Seite fühlte er sich für seine Mutter verantwortlich, auf der anderen stand seine junge Ehe auf dem Spiel. Nach einem heftigen Streit mit seiner Frau teilte er der Mutter kleinlaut mit, dass sie vom Hof gehen müsse. Aber wohin sie denn gehen solle, fragte sie verwundert, und wieso? Unnütze alte Menschen gehören ins Altersheim, war die zynische Antwort der Schwiegertochter. Es interessierte sie nicht, dass sich die Menschen hier seit Generationen von früh bis spät abrackerten und die-ses harte Dasein in unendlicher Genügsamkeit ertrugen.
Nie hätte sich die alte Bäuerin träumen lassen, dass sie einmal vom eige-nen Grund gejagt würde. Bis anhin wurden hier die Traditionen ebenso geachtet wie die alten Leute. Seit ihrer Geburt war sie hier daheim. Hier hatte sie ihre Wurzeln, war zufrieden mit dem, was sie hatte, wenn auch manchmal schwere Zeiten durchzustehen waren. Ihr ganzes Dasein be-stand aus Arbeit. Ihr Lebenssinn waren die Familie, die Tiere und das gesamte Anwesen.
Obwohl sie durch diese Ankündigung fast verzweifelte, traute sie sich nicht zu widersetzen. Zudem fühlte sie sich nicht unschuldig an dieser Situation, war sie es doch gewesen, die den Sohn zur Heirat drängte. Duldsam, wie die meisten Frauen ihres Schlages, liess sie diese Schmach über sich ergehen.
Nachdem die Jungbäuerin kurzerhand einen ihrer Bekannten als Knecht eingestellt hatte, regelte sie auch noch die Angelegenheit mit dem Alters-heim. Mit drei, vier Möbelstücken vom Hof wurde das Zimmer eingerich-tet. Damit sich die Alte schneller heimisch fühle, spottete sie.
Dann war es so weit. Der Abschied vom Vieh machte der Mutter am meisten zu schaffen. Besonders die Kälbchen, die sie umsorgte und grosszog, hatten es ihr angetan. So ging sie noch einmal zu jedem Tier, fuhr ihm mit der Hand liebevoll über den Kopf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein letztes Mal nahm sie die heimelige Wärme des schützenden Stal-les in sich auf. Mit Tränen in den Augen schloss sie leise die Tür.
Als sie sich mit den Worten von der Schwiegertochter verabschiedete, dass es sicher längere Zeit dauern werde, bis sie sich wieder sehen wür-den, meinte diese verächtlich, dass sie deswegen sehr traurig sei. Und auf das „Behüte dich Gott“ erwiderte sie, dass sie selbst entscheide, wer sie behüten soll. Dann drehte sie sich um und verschwand im Haus. Die Hand, die ihr die Schwiegermutter entgegenstreckte, beachtete sie gar nicht. Zum Sohn sagte die Mutter, dass er sie nicht hinfahren müsse. Sie finde sich allein zurecht. Für die Stunde Fussmarsch sei sie noch lange nicht zu alt.
Durch die frisch verschneite Landschaft machte sie sich auf den Weg. Als sie sich noch einmal umdrehte, glaubte sie, dass ihr jemand zuwinkte. Doch es waren nur die Eisblumen am Fenster, die im klaren Morgenlicht glitzerten.
Anfangs besuchte sie der Sohn jeden Sonntagmorgen im Altersheim. Später noch einmal im Monat und dann in immer grösseren Abständen. Dass sie demnächst Grossmutter werde, vernahm sie von der Heimlei-tung.
Würde sich das Geschick nun doch zum Guten wenden? Doch das Kind kam zu früh zur Welt und starb nach drei Tagen. Anstelle eines Trostes hatte der Doktor der Wöchnerin erklärt, dass sie keine Kinder mehr ha-ben könne. Sie lächelte nur und so, als sei es allein für den Arzt da, eine Art von Geheimsprache, in der lautlos das gesagt wurde, was nur sie beide verstanden: die Kenntnis um die törichten Umwege der Menschen. Am andern Tag war sie weg. Ohne eine Mitteilung weshalb oder wohin. Auch die Kammer vom Knecht war leer.
Wie jeden Abend sass die Bäuerin auch heute allein in ihrem Zimmer und schaute in Gedanken versunken aus dem Fenster. Als es an der Tür klopfte und nach dem „Herein“ niemand eintrat, öffnete sie die Tür. Im Flur stand ihr Sohn. Stockend erzählte er, was sich alles zugetragen hat-te. Zum Schluss fügte er hinzu, dass er nun wisse, wie schlimm Einsam-keit und Unrecht seien, und daher das Geschehene wieder gutmachen wolle. Ob sie ihm verzeihen könne?
„Fehler machen, ist das Eine“, sagte die Mutter, „daraus zu lernen, das weitaus Schwierigere. Ich habe immer an das Gute im Menschen ge-glaubt.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann nahm sie ihren Sohn in die Arme.
Kurz danach wohnte sie wieder auf dem Hof. Als der Frühling ins Land zog, kamen zudem täglich rüstige Frauen und Männer aus dem Alters-heim und halfen im Haushalt, auf dem Feld und im Stall mit, so gut sie es konnten. Platz und Arbeit für jedes Alter hatte es auf einem Gehöft be-kanntlich ja schon immer genug gegeben.
Als die Freude wiederkehrte
Draussen war es bereits dunkel, als sie sich müde, entmutigt und dem Weinen nahe auf die Treppe setzte und auf ihre Putzfrauenhände schaute. Warum, dachte sie, kann ich nicht einer anderen Arbeit nachgehen wie die meisten meiner Bekannten? Weshalb wasche und putze ich für die reichen und angesehenen Leute, damit es diese gemütlich und sauber haben? Doch wartet, in ein paar Stunden ist das alte Jahr zu Ende, dann beginnt ein Neues - dann fange auch ich ein anderes Leben an; Schluss wird es danach sein mit Abstauben, Fegen, Waschen und anderen Reini-gungsarbeiten.
Eine geraume Zeit haderte sie noch mit ihren trüben Gedanken, dann heiterte sich ihre miese Stimmung auf und ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Es wurde ihr bewusst, dass sie der einzige Mensch war, wel-chem die Hausherrin die Schlüssel zur luxuriösen Villa anvertraute. Zudem freute sie sich darüber, dass sie fast bei allen ihren Tätigkeiten ihre eigene Chefin war, niemand ihr befahl, wann und wie sie etwas zu erledi-gen hatte.
Diese positive Einstellung rückte den Sinn ihrer täglichen Arbeit in ein an-deres Licht und sie verspürte wieder neuen Lebensmut. Rasch stand sie auf und räumte ihre Reinigungsgeräte beiseite. Ein prüfender Blick noch, ob im Haus alles in Ordnung war, dann schlüpfte sie in den Mantel, schloss die Tür ab und machte sich frohgemut auf den Heimweg, um sich für eine Feier frisch und hübsch zu machen.
Die Zettelschreiberin
In einem schäbigen Mansardenzimmer einer verlotterten Kleinstadtwoh-nung hauste Johanna. Im Alter von drei Jahren traten bei einer Operation an ihren Beinen Komplikationen auf. Seither war sie gehbehindert. Ihr Vater irgendwer, die Mutter früh gestorben. Keine Verwandten. Gerne überliess die Vormundschaft das Mädchen der Obhut der älteren, allein-stehenden Frau Stoffel, die dafür monatlich eine Entschädigung einheims-te. Johanna musste Tante zu ihr sagen.
In die Schule durfte sie nicht. Erstens, weil es Kosten verursachte und zweitens, war sie ein Krüppel, eine Ausgestossene. Damals interessierte es niemanden, ob Kinder mit Schädigungen zur Schule gingen oder nicht. Um sich die Zeit zu vertreiben, humpelte Johanna mit ihren Krücken und umgehängter Tasche durch die engen Gassen. Solange es ihre Behinderung zuliess, führte sie für die alten Anwohner Botengänge und einfache Haushaltarbeiten aus und verdiente sich damit ein paar Batzen. Das Kleingeld hütete sie sorgfältig in einer Büchse. Bald einmal verschlechter-te sich ihr Gesundheitszustand aber derart, dass sie ihr armseliges Zim-mer nicht mehr verlassen konnte. Von da an lag sie meistens vernach-lässigt und kaum jemandem bekannt.
Die so genannte Tante war ihr nicht wohlgesinnt, half ihr weder beim Aufstehen noch beim Anziehen, kümmerte sich nicht um ihr Befinden und redete nicht mit ihr. Johanna musste mit ihrem Schicksal allein fertig werden. Das Essen, wenn man den Resten Eintopf als Mahlzeit bezeich-nen konnte, stellte ihr die Tante in einem Blechnapf neben der Liegestatt auf den Boden. Der Abort befand sich zwei Stockwerke tiefer. Da sie die steilen Treppen nicht mehr schaffte, musste sie sich mit einer Schüssel im Zimmer begnügen, die meistens erst geleert wurde, wenn sie randvoll war. Jedes Mal bekam sie dann zu hören, was für ein abscheuliches Ding sie sei.
Ihre Mutter hatte sie Lesen und Schreiben gelehrt. Wie gerne hätte sie ihren düsteren Alltag damit ein bisschen erhellt. Doch auf die Frage nach Papier, Bleistift und Lesestoff, entgegnete ihr die Tante ironisch, dass nutzlose Beschäftigungen in ihrem Hause nicht geduldet werden. Dass sie die Sachen mit ihrem Ersparten bezahlen könnte, verschwieg sie, die Tante hätte ihr das Geld weggenommen und für Alkohol ausgeben, dem sie ordentlich zusprach. So dämmerte Johanna dahin, bis sie ihren sehnli-chen Wunsch, sich mitzuteilen, nicht mehr unterdrücken konnte. An ei-nem sonnigen Morgen kroch sie zum Fenster, rückte einen Stuhl heran und mühte sich auf die Sitzfläche. Wenn sie hinauslehnte, konnte sie das lebhafte Treiben auf der Strasse beobachten. Sie freute sich über die neue Entdeckung, die sie auch die Einsamkeit und die Krankheit ein wenig vergessen liess.
Jeden Tag kam ein etwa gleichaltriger Junge auf seinem Schulweg am Haus der Tante vorbei. Die ersten dreimal antwortete er auf das „Hallo“ von oben lediglich mit dem gleichen knappen Gruss, schaute flüchtig zu Johanna hinauf und schlenderte weiter. Beim vierten Mal stand er still und fragte, ob sie eigentlich nicht in die Schule gehe. Du hast es gut, sagte er, nachdem sie den Kopf schüttelte, und zottelte weiter. Als er am nächsten Morgen wieder daherkam, nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte ihn, ob er ihr eine Besorgung machen würde. Kurz erklärte sie ihm was sie möchte. Wenn es nichts weiter sei als Papier und Bleistift zu holen, gehe das in Ordnung, sagte er. Er komme nach der Schule vorbei. In der Zwischenzeit knüpfte Johanna einen Wollschal, Taschentücher, Strümpfe und andere leichte Kleidungsstücke zusammen, bis der Strang von ihrem Fenster auf die Strasse reichte. Zuletzt befestigte sie einen Korb daran und wartete gespannt auf die Rückkehr des Jungen.
Was ist jetzt, tönte es von unten, soll ich dir nun etwas besorgen. Gleich darauf schwebte der Korb zu ihm herab. Was, für das ganze Geld nur Bleistifte und Schreibpapier, rief er erstaunt, als er im Korb die Handvoll Kleingeld sah. Da wüsste er etwas anderes damit anzufangen, frotzelte er und trottete davon. Kurz darauf zog Johanna einen Korb voller Schreibwaren zu sich hinauf. Freudestrahlend bestaunte sie ihre Errun-genschaft. Danke, danke, rief sie dem Jungen zu, während ihr die Trä-nen über die Wangen kullerten. Endlich konnte sie sich beschäftigen und fand dadurch neuen Sinn, ihr trauriges Dasein zu meistern.
Unermüdlich schrieb sie fortan alles auf, was ihr junges Herz bewegte. Mit der Zeit kamen Gedichte und kleine Geschichten dazu. Irgendeinmal fasste sie den Entschluss, die ordentlich auf Zettel notierten Texte täglich zwei- bis dreimal einzeln aus dem Fester fallen zu lassen. Wer weiss, dachte sie, vielleicht kann ich damit jemandem eine Freude machen. Vorerst regierte niemand darauf, doch eines Tages las ein Mann einen dieser heruntergeflatterten Zettel vom Gehsteig auf. Erstaunt über das Geschriebene steckte er das Blatt in die Manteltasche und ging weiter. Am nächsten Morgen kam der Mann auf seinem Arbeitsweg wieder an Johannas Haus vorbei. Und wieder lag ein vollgeschriebenes Blatt am Bo-den. Er hob es auf und las den sinnigen Text. Danach blickte er in die Runde, sah aber niemanden. Verwundert schüttelte er den Kopf und ging weiter seines Weges. Als er am dritten Tag fast an der gleichen Stelle erneut einen Zettel fand, war er überzeugt, dass es kein Zufall mehr war. Beidseitig suchte er die Häuserfronten ab, ob da nicht jemand an einem Fenster zu erkennen sei. Doch nirgends konnte er eine Person ausmachen. Gerade als er sich abwenden wollte, sah er, wie ein Mädchen aus einem Mansardenfenster mit einem Tüchlein winkte. Bist du die un-bekannte Zettelschreiberin? rief er hinauf. Knapp konnte er Johannas zaghaftes Kopfnicken erkennen. Zu verdattert war sie, um Antwort zu geben. Es sind wunderbare Texte, sagte er darauf, auf dem Heimweg komme ich dich besuchen.
Wie er es vorausgesagt hatte, klingelte der Mann vor dem Eindunkeln an der Haustür von Johannas „Tante“. Griesgrämig öffnete Frau Stoffel die Tür. Nein, hier wohne kein Mädchen, das Gedichte schreibe, gab sie mür-risch zur Antwort, als Herr Steiner danach fragte. Ob denn die Dach-kammer mit dem dunkelroten Fenster nicht zu diesem Haustrakt gehöre, wollte der Mann zudem wissen. Bevor Frau Stoffel antwortete, rief Jo-hanna von oben herab, dass sie die Zettelschreiberin sei und nicht gehen könne. Sei bloss ruhig da oben, du nutzloses Ding, keifte Frau Stoffel und schlug dem Mann die Tür vor der Nase zu. Dieser liess sich aber nicht einfach ohne weiteres abwimmeln. Schon eine halbe Stunde später läutete er, diesmal mit dem Bürgermeister als Begleiter, wieder an der Haustür. Nun blieb Frau Stoffel nichts anderes mehr übrig, als die zwei Männer zu Johannas schäbiger Kammer zu führen. Die beiden trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, unter welch erbärmlichen Zuständen das Mädchen hauste. Keine fünf Minuten später trug der Mann Johanna die Treppe hinunter. Zu der verdutzten Frau sagte der Gemeindevorsteher beim Hinausgehen barsch, dass sie morgen um neun Uhr in der Kanzlei zu erscheinen habe.
Kurzerhand wurde in der Nachbarschaft ein Handwagen organisiert und Johanna daraufgesetzt. Dann zog der Mann, der kein Geringerer war als der Herausgeber des lokalen Wochenblatts, mit dem Mädchen heimwärts. Als er sich seinem Haus näherte, stürmten ihm seine drei Kinder lauthals entgegen, hatte es sich doch in dem überschaubaren Städtchen bereits herumgesprochen, was sich in der Schmiedegasse zugetragen hatte. Hernach wurde für Johanna im Parterre ein leerstehendes Zimmer einge-richtet. Die drei Steiner-Mädchen steuerten allerhand aus ihren Kammern bei, damit es die neue Mitbewohnerin ebenso gemütlich hatte wie sie selbst. Johanna weinte vor Freude, als ihr Frau Steiner mitteilte, dass dies ab jetzt ihr neues Zuhause sei. Am darauffolgenden Tag erledigte Herr Steiner die nötigen Formalitäten beim Gemeindeamt, damit Johan-nas Zukunft in geregelte Bahnen geleitet werden konnte. Im Flur begeg-nete er Frau Stoffel, die ihm in den Weg trat und ihn gehässig anfuhr, was er sich eigentlich einbilde, ihr das Mündel wegzunehmen. Sie werde alle Hebel in Bewegung setzen, damit er wisse, wer hier den Ton angebe. Es wäre noch schöner, wenn da ein jeder machen könne, wie es ihm gerade passe. Er antwortete nur, dass erstens alles seine Zeit und zwei-tens sie selbstverständlich das Recht zur Klage habe, dann machte er kehrt und ging zum Seitenausgang hinaus.
Johanna wurde indessen liebevoll in die Familie aufgenommen und blühte auf wie eine Frühlingsblume nach einem eisigen Winter. Schon nach ein paar Tagen konnte sie, anfangs begleitet von einer ihrer neuen „Schwes-tern“, mit einem Rollstuhl die Schule besuchen. Alles Leid war vergessen. Endlich hatte ihr Leben einen Sinn. Ihre Gedanken schrieb sie weiterhin auf lose Blätter und legte diese da und dort auf. Bald einmal war sie im Ort bekannt und man nannte sie nur noch die Zettelschreiberin.
Dann geschah das Unglück: Auf dem Schulweg stürzte Johanna mit dem Rollstuhl über ein Bord und erlitt dabei mittelschwere Kopf- und Brustver-letzungen. Nach zwei Operationen und mehreren Wochen Spitalaufenthalt hatte sie auf einmal ein schwaches Gefühl in ihren Beinen. Sollte sie jemals wieder gehen können? Als sie einmal allein im Zimmer war, ver-suchte sie vorsichtig aufzustehen – und wirklich, auch wenn nur für eini-ge Augenblicke, stand sie ohne fremde Hilfe auf ihren eigenen Beinen. Mit immer mehr Selbstvertrauen schaffte sie es, täglich ein paar Sekun-den länger aufrecht zu stehen. Ihrem eisernen Willen, der fürsorglichen Pflege von Frau Steiner und der speziellen Therapie war es zuzuschrei-ben, dass Johanna im darauffolgenden Herbst wieder gehen konnte. Auch wenn sie nur langsam und hinkend vorwärtskam, war es für sie ein überwältigendes Lebensgefühl. In der Folge war sie in der Freizeit immer öfters in der Druckerei anwesend, was Herr Steiner, mittlerweile ihr Adoptivvater, sehr freute, denn seine drei leiblichen Töchter zeigten für den elterlichen Betrieb wenig Interesse. Wann immer es das Layout zu-liess, platzierte Herr Steiner eines von Johannas tiefsinnigen Gedichten oder einen trefflichen Sinnspruch in der Regionalzeitung. Bald einmal ge-langten Anfragen an die Redaktion, ob denn kein gesammeltes Werk von diesen Versen erhältlich sei. Angespornt durch diese Nachfrage schrieb Johanna weiter voller Tatendrang Zettel um Zettel voll, dass Herr Steiner eines Tages sagte, es sei nun an der Zeit, daraus etwas Ganzes zu machen. Ein paar Monate später hielt die strahlende junge Autorin ihr erstes Gedichtbändchen in den Händen – und es sollte nicht ihr letztes sein.
Jugendlicher Lichtblick
In einem Jugendlager teilen sich zwei etwa 12-jährige Mädchen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, das Zimmer. Karin, das gesunde und fröhliche Bauernkind und Angelika, die kränkliche und traurige Fabri-kantentochter. Am letzten Abend, es war bereits Lichterlöschen, hörte Karin, dass Angelika weinte.
Karin: Warum weinst du, Angelika?
Angelika: Weil wir morgen schon wieder nach Hause fahren.
Karin: Aber das ist doch schön, wieder daheim zu sein und alle wieder zu sehen.
Angelika: Zuhause bin ich wieder allein.
Karin: Ich bin nie allein. Auch nicht, wenn meine Eltern und meine Brüder auf dem Feld arbeiten. Wir wohnen zusammen mit Oma und Opa, Tante Johanna, Onkel Franz und Cousin Toni. Es ist immer jemand da.
Angelika: Ich habe keine Geschwister und meine Grosseltern sind in einem entfernten Altersheim untergebracht. Meine Eltern sind fast immer im Büro, an irgendwelchen Anlässen oder auf Geschäftsreisen. Damit ich mich nicht allein fühle, haben sie mir ein riesiges Spielzimmer eingerichtet und einen ganzen Schrank voll Computerspiele gekauft. Doch würde ich viel lieber mit Jemandem zusammen sein und etwas unternehmen.
Karin: Hast du denn keine Schulfreundinnen?
Angelika: Doch zwei, aber die kommen aus einfachen Familien und meine Mutter will nicht, dass sie zu mir nach Hause kommen.
Karin: Sonst hast du niemanden?
Angelika: Nein. Nach der Schule kommt eine pensionierte Lehrerin, um Schulaufgaben mit mir zu machen, dann geht sie wieder. Die Putz-frau, der Gärtner und die Köchin haben Anweisungen, dass ich ihnen nicht helfen darf. Nur dem Chauffeur von Papa darf ich manchmal beim Autowaschen helfen, wenn es niemand sieht.
Karin: Du musst du also nichts arbeiten und kannst immer das tun, was du willst?
Angelika: Ja – leider!
Karin: Bei uns gibt’s immer viel zu tun und jeder ist für etwas zuständig. Ich versorge die Hasen und die Hühner und ab und zu muss ich auch die Kälbchen tränken. Dazu kommen noch verschiedene Arbeiten im Haushalt. Kochen kann ich schon gut.
Angelika: Wie schön, wenn ich auch derartige Beschäftigungen hätte und für etwas verantwortlich wäre. Ich darf nicht mal eine Katze oder einen Hund haben, wegen der Haare.
Karin: Komm doch einfach zu uns. Dann kannst du tun, zu was du Lust hast.
Angelika: Das geht nicht. Meine Eltern würden es mir verbieten, weil ich dadurch vielleicht Allergien kriegen könnte. Wenn ich nicht gehorche, muss ich in ein Internat.
Karin: Weisst du was. Ich schenke dir zu deinem Geburtstag zehn Einla-dungen, zu uns auf den Hof zu kommen. Und Geschenke darf man nicht abschlagen. Besonders, wenn sie von Herzen kommen. Auch deine Eltern dürfen das nicht.
Angelika: Ich weiss nicht, ob das geht.
Karin: Sicher geht das. Da helfen bei uns alle mit. Wir sind eine „ver-schworene Bande“. Zusammen haben wir schon anderes fertiggebracht.
Angelika: Oh, das wäre schön.
Karin: Das wird sogar sehr schön! Und wenn deine Eltern sehen, dass du dabei aufblühst, haben sie sicher nichts mehr dagegen, dass du auch ohne Einladungen zu uns kommst.
Angelika: Gut. Wir können es ja versuchen.
Karin: Also abgemacht?
Angelika: Abgemacht! Nun kann ich es kaum erwarten, bis es Morgen ist und wir nach Hause fahren.
Ausgestorbenes Handwerk
Scherenschleifer waren meistens freundliche Leute eines friedfertigen Gewerbes, die nicht nur Scheren, sondern auch andere Schneidewerkzeuge schliffen und wieder gebrauchsfähig machten. Der Scherenschlei-fer schleppte seinen ganzen Gewerbebetrieb auf dem Rücken über Berg und Tal, von Ort zu Ort. Seine „Maschinerie“ bestand zwar nur aus einem dreischenkligen Bockgestell aus Holz, aber daneben musste er noch min-destens zwei bis drei recht gewichtige Schleifsteine mitschleppen, und das war eine recht ansehnliche Last.
Von Frühling bis Herbst zog er durch das Land. In den Bauerndörfern fand er freilich nicht viel Arbeit. Die meisten Bauern schliffen ihre Brot- und Schlachtmesser selber auf dem handgetriebenen Sandschleifstein, der auch im kleinsten Hof irgendwo in der Ecke stand. Auch ihre Sicheln und Sensen schärften und dengelten sie so genau wie kaum ein anderer. Und ihr gut gehütetes Taschenmesser gaben sie schon gar nicht einem daher fahrenden Scherenschleifer, das schliffen sie selber mit Sorgfalt und Bedacht.
Eigentliches Tätigkeitsfeld des Scherenschleifers waren daher die Markt-flecken der Städtchen. Gewichtig pflanzte er sich hier mit seinem Schleif-gerät am Rand belebter Strassen auf. Eine begeistere Kinderschar um-stand derweil seine mobile Schleifwerkstatt, aus der die Funken sprüh-ten. In der damals noch durch keinen Verkehrslärm gestörten Stille der Zentren klang das Surren des Schleifsteines auf der Straße wie eine nicht alltägliche, aber dennoch vertraute Melodie. Schnell öffneten sich Türen und Fenster der Bürgerhäuser, und unaufgefordert brachten Hausfrauen und Köchinnen, Mägde und Männer dem Scherenschleifer heraus, was alles zu schleifen und schärfen war. Viel Arbeit gab es für ihn, und war sie zu Ende, so schulterte er sein Gerät und trug es zur nächsten Stras-se, wo sich dasselbe Spiel wiederholte. Schleifen und Surren, Bewegung und Kindergeschrei. Und weiter zog er über Stock und Stein dahin.
Ein wenig tiefer auf der sozialen Rangstufe stand das ärmliche Gewerbe der Kesselflicker. Im Gegensatz zum Scherenschleifer kam der Kesselflicker fast nie allein, sondern stets mit der gesamten Habe. Diese bestand aus einem meist erbärmlichen, von einem dürren Gaul gezogenen Wohn-wagen, in dem die ganze Familie ihre Bleibe und an Regentagen auch ihre Arbeitsstätte hatte. Anders als die Scherenschleifer hatten die Kesselfli-cker ihren Wirkungskreis in den Bauerndörfern. Was gab es da nicht alles zu flicken und zu löten! Kochkessel und Töpfe, Pfannen und Eisen, Vieh-tröge und Dachrinnen! Im Verlaufe der Jahre verschleisst sich viel im Bauernhof. Die Kesselflicker kamen allerdings mit ihren Wagen selten ins Dorf. Sie schlugen ihre Lagerstätte achtungsvoll am Rand der Dörfer oder Kleinstädte auf. Auf Grund welcher Gesetzesbestimmungen auch immer, hielten die Ordnungshüter ein wachsames Auge auf sie und ihre Unterkunftsplätze. Auch im Volksmund wurde das Gewerbe der Kesselfli-cker vielfach auf die gleiche Stufe gestellt wie das der herumstreunenden Zigeuner. Oft zu Unrecht, denn auch die Kesselflicker waren mehrheitlich ehrliche Leute, die ihr hartes Brot im Umherziehen verdienen mussten. Ihr magerer, abgetriebener Wagengaul ernährte sich zumeist von den Bauernäckern.
War dann vor dem Dorf ein geeigneter Platz gefunden, gingen Frau und Kinder von Haus zu Haus, klingelten die Bewohner heraus und schleppten all das Geschirr, das zu reparieren war, zur Arbeitsstätte. Zwei, drei Ta-ge dauerte in der Regel die Arbeit des Kesselflickers. Wenn kein schad-haftes Gefäss im Dorf mehr aufzutreiben war, ging es mit dem klappri-gen Wohnwagen über Land zum nächsten Ort den ganzen Sommer über.
Der gläserne Eiszapfen
David ist auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. Seine Augen glänzen, aber er humpelt, mehr sogar, er zieht das eine Bein regelrecht steif nach. Schon will ihm der Bus davonfahren. „Bitte, warten sie noch ein wenig, ein gehbehinderter Bub will noch mit“, sagt eine beherzte Frau zum Chauffeur.
„Komm, ich helfe dir einsteigen“, ruft ihm der stattliche Mann am Eingang zu und streckt dem Jungen seine Hand entgegen.
Indessen sagt eine ältere Frau zu ihrem Sitznachbar: „Würden sie bitte ein bisschen zur Seite rutschen, damit der Junge mit dem kranken Bein auch noch Platz hat? So, danke schön.“ „Komm, setz dich hierher“, sagte die Frau danach zu dem Jungen, „hier hat es für dich ein freies Plätz-chen. Wie heisst du denn?“ „David“, gab dieser geduckt zur Antwort.
Alle Fahrgäste müssen es zugeben, es ist ein zu Herzen gehender An-blick, wie mühselig dieser arme Knabe auf der Bank sitzt und das rechte Bein behutsam in den Gang strecken muss, weil er es nicht biegen kann. „Ein Kreuz ist so etwas, noch dazu in so jungen Jahren“, sagt die ältere Frau bekümmert zu den anderen. „Ich kenne das von meinem Bruder her …“
„Tut es auch weh?“ fragt ihn der Herr im grauen Lodenmantel. „Nein! Überhaupt nicht“, antwortet David, „nur abbiegen darf ich es nicht!“ „Bei der nächsten Haltestelle muss ich aussteigen“, sagt er danach.
Dafür ist wieder der stattliche Mann da. „Bitte Leute, gebt ein bisschen Obacht, damit der Junge durchkann“, mahnt er in die Runde. Alle rücken auf die Seite und machen Platz.
„Wie ist das mit deinem Bein denn passiert?“ wollte eine noble Dame wis-sen.
„Mit meinem Bein ist überhaupt nichts passiert“, sagte David. „Ich war am Weihnachtsmarkt und habe mir einen wunderschönen gläsernen Eis-zapfen gekauft …“ Alle Blicke zielen jetzt auf ihn. „Den habe ich in mei-nem Hosensack – und wenn ich mein Bein abbiegen täte, würde er zer-brechen“, fügte er ganz selbstverständlich hinzu.
Die ältere Frau lacht plötzlich sonnenhell. Der stattliche Herr ebenfalls und die noble Dame kichert mit höchster Stimme so lange, bis unter sämtli-chen Passagieren ein herzhaftes Gelächter ausbricht.
Derweil hält David auf den Ausgang zu, alle stellen sich zur Seite, passen auf, damit er nicht stolpert. So humpelt er mit seinem Schatz im Hosensack durch den Wagen und wird schliesslich vom stattlichen Herrn über die Stufen gehoben und sachte auf den Gehsteig gestellt, damit er ja nicht in die Brüche geht, der wunderschöne gläserne Eiszapfen.
Erinnerung an einen Nikolaustag
Es war am Abend vor dem 6. Dezember. Die kleine Ilse sagte zu ihrer Mutter: „Schlafen kann ich sowieso nicht, also brauche ich auch nicht ins Bett.“ Zu aufgeregt war sie, kam doch morgen der heilige Nikolaus in den Kindergarten. Sein grosses rotes Buch, in dem das Brave und weni-ger Gute der Kinder geschrieben standen, war ihr vom letzten Jahr noch in bester Erinnerung. Dann musste sie aber doch zu Bett, konnte jedoch wie vermutet nicht einschlafen. Bis spät in die Nacht hinein besprach sie die morgige ernste Sache mit ihrer älteren Schwester, die im gleichen Bett neben ihr lag. Hätte sie doch folgsamer sein sollen? Dazu kam noch die ungeklärte Sache mit dem zerschlagenen Kaffeekrug und dann noch dieses oder jenes, welches sie als nicht sehr schlimm einstufte, für den Sankt Nikolaus aber bestimmt nicht zu den manierlichen Sachen zählte. Ihre Schwester, die bereits zur Schule ging und daher einiges mehr über den Nikolaus wusste, tröstete sie damit ein wenig, dass die meisten ihrer Gespanen auch einiges auf dem Kerbholz hatten. Auf die Eisblumen am Kammerfensterchen schauend, fielen ihr doch endlich die Augen zu.
Gleich nachdem sie am Morgen aufwachte, war das bedrückende Gefühl wieder da. Ungewohnt langsam und nicht sehr gesprächig stand sie auf. Lange trödeln durfte sie jedoch nicht, denn die Mutter musste zur Arbeit, die Geschwister in die Schule und sie ja schliesslich - an die Nikolausfeier.
Allein, mit pochendem Herzen zog sie los. Im Kindergarten war schon alles feierlich hergerichtet. Stolz stand sie im Sonntagskleidchen, das ihre Mutter neulich genäht hatte, inmitten der zappeligen Kinderschar. Plötzlich ertönte ein Glöcklein. Augenblicklich wurden alle still und rannten zu den Fenstern. Erwartungsvoll schauten sie auf das grosse Eingangstor im Hof. Geraume Zeit verging, dann wurden langsam die schmiedeeisernen Türflügel aufgestossen. Unter dem Torbogen erschien eine wunderschö-ne, von zwei Pferden gezogene Schlittenkutsche. Darin, umrahmt von zwei weissen Engeln mit goldenen Flügeln und leuchtendem Heiligen-schein, sass der Nikolaus mit goldbestickter Bischofsmütze und rotem Samtmantel. Nebenher stampfte der Krampus mit schwarzem, zottigem Fell, einem Menschen- und einem Klauenfuss, Teufelshörnern und flam-menroter Zunge. Ketten- und rutenbewehrt stand er dem Nikolaus zur Seite, sollte jemand übers Jahr hindurch sehr unartig gewesen sein. In seinem umgehängten Buckelkorb würden die ganz Schlimmen in die Hölle getragen.
Wie angewurzelt standen die Kinder da und staunten mit offenem Mund durch die angehauchten Fensterscheiben. Dann klopfte es an die Tür. „Komm nur herein, lieber Nikolaus“, rief die Kindergärtnerin, während sie ihre Schützlinge anwies, sich in einer Reihe hinzustellen, welchem sie auch ohne Widerrede folge leisteten. Gross und mächtig trat Sankt Niko-laus herein, gefolgt von den beiden Engeln. Den Krampus liess er draussen. Damit sie ihn aber nicht vergassen, trampelte er wild über den Hof und rasselte dabei mit seiner Kette. Mit dem goldenen Krummstab klopfte der Nikolaus dreimal auf den Boden, sah prüfend in die Runde und begrüsste die Schar mit seiner freundlichen, tiefen Stimme. Nun be-gab er sich von einem zum andern, hörte sich hier und da ein Verslein an, blätterte im dicken Buch und wusste über jedes einzelne Kind etwas zu berichten. Die Braven lobte er und beschenkte sie mit einem Säckchen voller leckerer Sachen. Die anderen bekamen mahnende Worte, dazu eine Rute als Denkzettel. Zudem mussten sie ihm versprechen, im fol-genden Jahr gehorsamer zu sein, sonst müsste er nächstes Mal den Krampus hereinrufen. Mit leichtem Kopfnicken unterstützten die Engel seine Mahnungen, leerten aber dennoch einen Sack mit Nüssen, Lebkuchen, Mandarinen und Zuckerwerk auf den Tisch, dass auch die weniger folgsamen Kinder nicht leer ausgingen. Endlich klappte der Nikolaus das rote Buch zu, klopfte wiederum mit seinem Stab dreimal auf den Boden und verabschiedete sich. Die Engel verneigten sich und folgten ihm laut-los. Die Kinder kümmerten sich nicht mehr darum, wie er den Schlitten bestieg und himmelwärts in den Wolken verschwand, sondern machten sich eifrig über das Naschwerk her. So ging die Nikolausfeier langsam zu Ende.
Bedrückt, mit einer Handvoll Süssigkeiten, der Rute und einem nicht sehr guten Gewissen schlich die kleine Ilse auf Umwegen, damit sie niemandem begegnete, nach Hause. Schadenfroh und lachend empfingen sie die Geschwister. Auch ihre Mutter wunderte sich nicht, dass sie eine Rute mitbrachte und sagte nur: “Aha, also doch!“ Kurz darauf schickte sie Ilse in den Keller, um Kartoffeln zu holen. Mürrisch stieg sie die Treppe hinun-ter, hätte sie doch lieber in ihrem Weihnachtsbüchlein weitergeblättert, wo alle Kinder vom Christkind beschenkt wurden, besonders die armen. Als sie auf der Schwelle zum Keller stand und das Licht einschaltete blieb sie verblüfft stehen. Ein Stiefel, prall gefüllt mit allerlei Backwerk, Äpfel und Nüssen, stand in der hinteren Ecke. Obenauf lag ein Zettel mit ihrem Namen. Urplötzlich heiterte sich ihre Miene auf. Schnell packte sie den Stiefel unter den Arm und lief, natürlich ohne Kartoffeln, hinauf in die Küche, wo sie von ihrer Mutter und ihren Schwestern schmunzelnd er-wartet wurde. So kam die kleine Ilse also doch noch zu ihrem Nikolaus-geschenk.
Bergwinter
Der Wind jault über das Eis. Tagelang, nächtelang, wochenlang. Schwar-zen Eisklumpen oder Steinen gleich liegen tote Vögel in den Schneewe-hen. Erfroren. Menschen wagen sich nicht mehr aus ihren Behausungen. Die Alten schon gar nicht. Der Frost würde sie einhüllen wie ein Stück Holz, der Sturm über ihre glasig erstarrten Gesichter hinweg heulen, als wäre nie etwas Lebendiges gewesen. Wohl würden sie vermisst, von den Tieren etwa, die versorgt werden müssen oder von einem Kranken, der sonst allein, ohne Beistand auf das Erlöschen des noch kümmerlich fla-ckernden Lebenslichts warten müsste. Sonst aber würde niemand nach ihnen fragen, nach dem Dutzend Leute im fast vergessenen Flecken hoch über den letzten knorrigen Bergarven. Die Jungen haben sich beizeiten rar gemacht. Die meisten sind abgewandert. Ins Unterland, nahe den Städten, wo es mehr zu verdienen und zu erleben gibt.
Wie angesengte Würfel kauern die von der Sonne geschwärzten Hütten im aufgetürmten Schnee. Lawinenhänge versperren den Weg ins Tal. Härter als je zuvor umklammert die unbändige Natur das zähe, eigen-wüchsige Volk. Die Lebensmittel sind knapp. Das Futter fürs Viehzeug ist auf ein kärgliches Häuflein geschrumpft. Feuerholz wird nur noch spar-sam nachgelegt, obwohl Eis an den steinernen Wänden glänzt. Mehr als sonst ist die Handvoll Menschen auf sich selbst gestellt, jeder auf den andern angewiesen.
Sie haben sich in der grössten Hütte zu einer Gemeinschaft zusammen-geschlossen. In Decken gehüllt hocken die Frauen am derben Tisch, die Männer werkeln, schauen zum Vieh, beobachten das ungestüme Wetter. Um den Herd, auf Strohsäcke gebettet, die Bedürftigen. Der Wind lässt ihnen keine Ruhe. Er rüttelt am Dach, raschelt mit rauer Hand im Heu, scharrt an der Türe, kratzt an den Scheiben und fährt sausend dicht überm Boden an der Hauswand entlang. Zu reden gibt es wenig. Es kommt nichts Neues zu ihnen. Selbstversunken, auf die gefalteten Hände schauend, sagt eine Alte: „Ob der Perren noch lebt?“ - Keine Antwort. Jeder hängt seinen Gedanken nach.
Die Stille erzählt, was ungesagt bleibt: Perren, kein schlechter Mann, nur ein Sonderling, der unnützes Geschwätz verabscheut. Darum verliess er das Gemeinschaftsleben. Es war ihm zu einfach darin, zu wenig heraus-fordernd. Er musste in die Abgeschiedenheit, um sich selbst zu finden. Sie liessen ihn ziehen. Wie und aus welchem Grund auch sollten sie ihn zurückhalten. Eine geschlagene Wegstunde bergwärts, hart an einem senkrechten Felsriegel, der den Zugang zu den vergletscherten Höhen verschliesst, haust er seit Jahren in einem einstigen Schäferunterstand.
Hier oben überleben nur Einzelne. Hart und selbstgenügsam müssen sie sein. Sie verhalten sich ähnlich wie bestimmte Arten von Wüstenpflanzen, die weit entfernt voneinander wachsen. Einer der Gründe dafür ist, dass jeder Busch um sich herum ein Gift verbreitet, das jeden anderen Able-ger tötet. Es geht nicht anders, denn wenn mehrere Büsche zu dicht bei-einanderständen, wäre nicht genug Wasser für alle da.
Perren mag die karge, schier unfruchtbare Region. Mehr noch, er ge-niesst die Einsamkeit, das Alleinsein, das Gefühl, tage-, sogar wochenlang zu arbeiten oder unterwegs zu sein, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Andere Menschen, ganz gleich wie sehr sie sich auch unter-scheiden, betrachtet er stets als Spiegel des eigenen Ichs. Perren mag keine Spiegelbilder. Ab und zu im Sommer, wenn das Wildheu einge-bracht wird, bekommen sie ihn zu Gesicht. Ein stummer Gruss, ein Kopficken untereinander. Mehr nicht. Verstohlen folgen ihm die Blicke der Bergler, bis er mit seinen kräftigen Schritten irgendwo zwischen Legföh-ren und Geröll verschwindet. Perren dagegen hat sich noch kein einziges Mal nach ihnen umgedreht.
Nicht, dass er die anderen Bergbewohner übersehen würde. Keineswegs. Er respektiert ihre Lebensweise, tadelt nicht und hat auch für sonstige Ungerechtigkeiten längst kein Interesse mehr. Er will einfach in Ruhe ge-lassen werden. Anders wäre für ihn ein Einzeldasein undenkbar. Zudem lässt ihm das Leben in völliger Abgeschiedenheit wenig Raum für Hoch-mut. Daher ist auch die Angst für ihn eine vertraute Begleiterin. Angst, so natürlich wie in der Urzeit, als Vergänglichkeit und Tod noch keine Ta-bus waren. Längst hat er erfahren, dass gebührende Angst als Schutz, übertriebene jedoch als Gefahr wirken kann. Der dauernde Alleingang hat seinen schlummernden Instinkt derart geweckt, dass in ihm die Angst in dem Mass wich, wie der Instinkt, die angeborenen Fähigkeiten geschärft wurden. Die Winzigkeit des Menschen in der unerbittlichen Natur ist ihm bewusst sowie, dass Besitz nur ausgeliehene Ware ist, die irgendwann einmal wieder abgegeben werden muss.
Perren begehrt wenig. Ihm reichen eine Feuerstelle, ein Nachtlager, die notwendigsten Haushaltgeräte, einige Vorräte wie Reis, Linsen oder Mehl vielleicht. Milch und den daraus gewonnenen Käse liefern ihm seine drei Ziegen, die er in einem Verschlag neben seinem Unterschlupf versorgt.
Gespart hat er nie etwas. Wie und wozu auch! Einem eigenartigen Drang aber konnte er bis anhin nicht widerstehen. Vor langer Zeit bereits ent-deckte er unterhalb seiner Bleibe eine Höhle, die mühelos zugänglich aber von nirgendwoher einzusehen ist. Und diese Höhle füllt er laufend mit Baumrinden, Flechten, Blättern, Moosen, Tannenreisig sowie Nüssen, geräuchertem Gamsfleisch. getrockneten Pilzen, Beeren und Kräutern, Ziegenkäse und Brennholz. Die verderblichen Esswaren wechselt er stetig aus. Es ist eine Manie, spielt sich ab wie ein Ritual, für das er selbst keine Erklärung findet. Gewissenhaft verschliesst er den Eingang jedes Mal wieder mit einer Granitplatte.
Draussen dämmert es. Langsam breitet sich die Finsternis wie ein schüt-zender Mantel über Berge und Wald. Der Heilige Abend steht unmittelbar bevor. In der Hütte schickt man sich eben an, Decken und Laternen für die Nacht herzurichten. Da wird die Tür aufgestossen. Eine Bö wirbelt Schneestaub in den russgeschwärzten Raum. Zwei Kerzen flackern und löschen aus. In der Türöffnung steht Perren, das Gesicht in eine eisige Dunstwolke gehüllt und von der Kälte blau und zu einer Fratze entstellt. „Die Männer sollen mitkommen. Schlitten und Säcke brauchts“, murmelt er, ohne sich mit einem Gruss oder wenigstens mit einem Kopfnicken anzukündigen. Dann ist er bereits wieder draussen. Hart wirft der Sturmwind die Türe ins Schloss. Bevor sich die Alten vom Schrecken er-holt haben, stehen die Männer in Mäntel und Mützen vermummt bereit. Wortlos stapfen sie hinter Perren her. Wie von Furien getrieben rast der Sturm und bläst in allen Tönen. In wilden Schwallen wirft er sich über die Männer und schleudert ihnen Händevoll stechenden Schnee ins heisse Gesicht. Als Perren die Steinplatte beiseite wälzt, meckern die drei Zie-gen. Die Laterne brennt bereits. „Das ist für euch“, sagt er mit heiserer Stimme und heisst die Männer in die Höhle treten. Misstrauisch begibt sich einer nach dem anderen in den felsigen Speicher. Erstaunt schauen alle auf die ordentlich angelegten Vorräte. Keiner sagt ein Wort. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Nach einer Weile räuspert sich einer und fängt an, die verschnürten Säcke aufzuknoten. Dann löst sich auch bei den anderen allmählich die Verwirrung. Und als die Männer, im-mer noch erstaunt, die Säcke füllen, macht sich Perren auf den Weg...
Hinter ihm löscht der gnadenlose Sturm seine Spur.
Später einmal werden die Leute erzählen, wenn der Perren nicht gewe-sen wäre, hätte niemand vom Berg den strengen Winter überlebt.
Passion am Hausberg
Der graue, alte Berg spielte die Hauptrolle in seinem Leben, denn an kei-nem anderen Ort konnte er seine Grenzen besser ausloten, als wenn er in seinen Gefilden umherstreifte. Schon als Dreikäsehoch, als ihn sein Grossvater das erste Mal auf eine Wanderung mitnahm, spürte er die enorme Kraft, welche der Berg auf ihn ausübte. Seit diesem Erlebnis zog ihn der markante Hausberg an. Hier war sein Reich, in dem er sich ausle-ben und seinen jugendlichen Mut erproben konnte. Bei jeder Gelegenheit kraxelte er in den Karen und Schrofen herum, wobei er sich neben ein paar Kratzern jeweils auch noch eine gehörige Standpauke seiner Eltern einhandelte. Einzig der Grossvater hatte Verständnis für das Verhalten des Jungen, was dazu führte, dass die beiden den Berg fortan gemein-sam von allen Seiten her erkundeten.
Nach Grossvaters Tod wurde ihm das Bergwandern mehr und mehr zu einer Auseinandersetzung mit dem Naturgemässen. Seine Absicht bestand darin, die Natur zu verstehen – nicht als Zuschauer, sondern als Beteiligter. Er wollte sie nicht bezwingen, aber erfassen und an der Ener-gie teilhaben, die sie antreibt, damit auch sein ganzes Menschsein von dieser Tatkraft angetrieben würde. Es war ihm ein Bedürfnis, körperlich und geistig mit der Urkraft verbunden zu sein; eine Verbindung mit der Schöpfung einzugehen, die sich mit wohlbekannten Begriffen schwer be-schreiben lässt.
Diesen Drang konnte er am besten im Unterwegssein am Berg stillen. Bei keiner anderen Sportart spürte er die Naturgewalten so deutlich. Als Berggänger war er ihnen ausgeliefert, und zwar schonungslos. Das aus-gesetzt sein, bei dem alles auf das Wesentliche reduziert wird, war für ihn das Reizvolle, berührte das Lebendige in ihm und legte seine inne-wohnende Energie frei. Er liebte diesen Berg nicht nur, er war ihm sozu-sagen verfallen.
Obwohl er eher zu den besonnenen Menschen gehörte, war ihm die mo-derne Welt zu bequem eingerichtet und zu stark abgesichert. Die berufli-che Tätigkeit in einem Grossraumbüro und der geregelte Alltag boten ihm nur begrenzte Möglichkeiten, um Herausforderungen und Abenteuer aus-zuleben. Ebenso fühlte er sich durch die vielen Bestimmungen und Nor-men stark eingeengt. Weil er aber nicht bloss funktionieren, sondern als Individualist möglichst viel Freiheit, Erlebnis, Freude und Herausforderung erfahren wollte, brauchte er ein gerütteltes Mass an Selbstbestimmung. Die intensive Zwiesprache mit den Naturelementen öffnete ihm eine Tiefe und Weite, die positive Veränderungen bewirkte und sein Leben bis ins äusserste Empfinden bereicherte. Das Aufwärtsstreben, das in jedem Augenblick Form und Ausdruck gewinnt, bedeutete ihm nicht nur höchs-ten Genuss, sondern eigentlichen Lebenszweck. Darum verbrachte er seine Freizeit auch nach vielen Jahren immer noch am Berg. Auch wenn er das Gebiet längst kannte wie seine Westentasche, hatte es für ihn nichts von seiner Anziehungskraft verloren.
Wie jedes Jahr am 1. Advent, vorausgesetzt, dass das Wetter mitspielte, unternahm er auch heuer wieder einen ausgedehnten Ausmarsch auf seinen Hausberg. Dass eine Tour einmal anders verlaufen könnte, als er es geplant hatte, darüber machte er sich keine Gedanken. Diesmal sollte aber alles anders werden.
Es war kühl geworden. Noch Stunden zuvor, als sich unter seinem Tritt der Felsbrocken aus einem kompakt scheinenden Vorsprung gelöst und ihn mit der Wucht eines Hammerschlags in die Tiefe gerissen hatte, war es ein milder und sonnenerfüllter Spätherbsttag gewesen. Aber jetzt, in der zunehmenden Dämmerung, kam ein eisiger Hauch vom Berg herab, strich über ihn hin und liess seinen Atem zu fahlem, sich im Nichts auflö-senden Dunst werden.
Ob ihn Susanna, seine langjährige Lebensgefährtin, eine passionierte Berggängerin, die er auf einer Wanderung kennen- und danach lieben gelernt hatte, schon vermisste? Wenn sie nach der Arbeit gleich nach Hause gegangen war, hatte sie bestimmt schon bei der Talstation ange-rufen, von der er lange vor Tagesanbruch zu dieser Tour aufgebrochen war, ob sein Auto noch auf dem Parkplatz stehe. Natürlich würde sie sich jetzt um ihn sorgen, würde unruhig im Wohnzimmer auf- und abgehen und bei jedem Laut des Telefons aufgeregt nach dem Hörer greifen, aber im Innersten ihres Herzens würde sie wissen, dass ihm nichts Ernsthaftes geschehen konnte. Sie vertraute seinen Fähigkeiten und war sich sicher, dass er kein unnötiges Wagnis eingehen würde.
Es ist allein meine eigene Schuld, räsonierte er. Ich hätte auf meine inne-re Stimme hören müssen, die mich ermahnte, das freiwillige Spiel mit der Gefahr nicht zu unterschätzen. Obwohl er Bergtouren mit unkalkulierbarem Ausgang nie suchte, war er diesmal in die Falle getappt. Im Grunde war es ohnehin unvernünftig gewesen, vom Wanderweg abzu-weichen und über die steilen Felsrippen abzusteigen. Die alpine Erfahrung hätte ihm sagen müssen, dass er allein und ohne Seilsicherung ein sehr hohes Risiko einging. Das Grübeln über seinen verhängnisvollen Fehler liess ihn fast das klopfende Rotorgeräusch des Hubschraubers überhören, das plötzlich über ihm laut wurde. Entlang des Grates, der sich wie ein steinerner Schuppenpanzer eines Riesenungeheuers in den Himmel bu-ckelte, schwebte er einige Male auf und ab und zog dann brummend wie-der talwärts davon. Gott sei Dank, dachte er aufatmend, dann sind sie ja bereits auf der Suche nach mir. Sehr lange kann es sicher nicht mehr dauern, bis sie mich finden.
Er spürte die harten Konturen des Kalksteins im Rücken und versuchte zum x-ten Mal, sich zu drehen, aber schon die geringste Bewegung liess den Schmerz wie flüssiges Feuer durch seinen Körper rasen und presste ein röchelndes Stöhnen aus seiner Kehle. Resigniert gab er es wieder auf. Ich muss aber durchhalten, hämmerte es in ihm, ich darf nicht auf-geben. Wenn sie kommen, muss ich mich bemerkbar machen. Ich liege ja hier eingeklemmt in diesem Felsspalt, dass man fast über mich stol-pern muss, um mich zu entdecken.
Er schaute zum Himmel empor, in dessen Blau sich über dem Tiefland mehr und mehr dunkle Wolkenfetzen anhäuften, durch welche die Sonne nur noch vereinzelt hindurchblinzelte. Ein bezauberndes Lichtspiel, das jedoch nichts Gutes verhiess. Jäh fühlte er die Angst wie eine würgende Faust in seiner Kehle. Nur jetzt kein schlechtes Wetter, dachte er ent-setzt. Wie sonst sollen sie mich finden, wenn der Heli nicht fliegen kann? Mit jeder Stunde, die gleichförmig verstrich, schwand seine Hoffnung auf Rettung dahin.
Das Unwetter, mit dem niemand gerechnet hatte, welches sich über dem Berg austobte, dauerte zwei Nächte und einen Tag. Knietief bedeckte der Neuschnee danach die Hänge und Felsbänder, was jeglichen Rettungsver-such von unten her verunmöglichte. Er hatte die erste Nacht und den grössten Teil des folgenden Tages hellwach und frierend in seiner schmerzlichen Lage verbracht, war dann gegen Abend in einen unruhi-gen, von quälenden Träumen durchsetzten Schlaf gefallen, aus dem er gelegentlich aufwachte.
Als es aufklarte, riss ihn ein dröhnendes Geräusch aus seiner Erstarrung. Entkräftet und mit klammen Fingern fuhr er sich über sein blutverkruste-tes Gesicht. Mühevoll versuchte er den Kopf zu heben, warf einen Blick auf die verschneiten Felsen über sich und spürte, wie die Freude einer Stichflamme gleich in ihm emporschoss. „Grossvater“, hauchte er. „Grossvater…!“ An einem endlos scheinenden Seil schwebte sein Gross-vater über ihm, sank tiefer und tiefer, winkte und lächelte ihm zu, und dann war er neben ihm und ergriff seine Hand. „Komm, mein Junge“, sagte er leise. „Komm, steh auf, wir gehen heim.“
Mit einer hilflosen Geste deutete er auf seinen zerschlagenen Körper. „Ich kann nicht, Grossvater. Ich kann mich nicht bewegen.“
Schweigend schob der Grossvater den Arm unter seine Schulter. „Doch du kannst es“, sagte er dann auffordernd. „Versuche es nur, du wirst sehen, dass es möglich ist.“
Er wusste nicht wie ihm geschah, konnte es nicht begreifen, aber es war, als hätte ihm der Zuspruch neue Kraft verliehen. Auch die Angst war plötzlich verschwunden. „Ich kann es nicht glauben“, stammelte er und stand mühelos auf. „Die ganze Zeit über, gestern, heute … ich dachte immer, jetzt ist alles aus und vorbei.“
„Im Gegenteil“, flüsterte der Grossvater. „Nichts ist vorbei. Jetzt fängt alles erst richtig an …“
Der Pilot hielt den Hubschrauber in der Schwebe. Der Flughelfer liess den Arzt und den Bergführer am Stahlseil in die Tiefe.
„Was ist, Doktor?“, fragte der Pilot über Funk, als die beiden Retter die Absturzstelle erreicht und sich ausgeklinkt hatten. „Hat er noch eine Chance?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht und hat er nie gehabt“, erwiderte er. „Er muss den Halt verloren haben und kopfüber gestürzt sein. Wahrscheinlich war er auf der Stelle tot.“
Der Pilot drehte seitlich ab und meldete sich bei der Bodenleitstelle: „Wir haben ihn gefunden“, sagte er mit belegter Stimme, „aber es ist leider nichts mehr zu machen. Er ist tot. Wir werden jetzt mit der Bergung beginnen. Verständigt bitte die Einsatzzentrale – Ende.“
Schicksal in den Bergen
Vor Weihnachten fiel eine grimmige Kälte über das Land. In den Bergen türmte sich der Schnee fast ins Unermessliche. Lawinen donnerten mit einer Wucht zu Tal, wie es die Menschen noch nie erlebt hatten. Als An-zeichen zogen um die Abende der Dezembermitte zarte Eiswolken durch das blank gefegte Himmelsgewölbe, so fein, als hätten Engel sie hinge-haucht. Dann schlug eine eisige Faust in diese vergänglichen Gebilde. Al-les Fliessende erstarrte. Teiche und Seen froren meterdick zu. Die Enten hielten sich in Scharen an offenen Stellen, bis auch diese sich schlossen, und manche schliefen in den Tod hinein. Der Wald stand reglos wie ein Säulensaal. Den Bäumen kroch der Frost ins Mark und spaltete gelegent-lich urwüchsige Stämme mit lautem Knall, dass die Vögel erschraken und ins Unterholz flatterten. Eisiger Fallwind drang in jeden Winkel und liess alles ersterben. Unerbittlich herrschte die Materie.
Nach der Arbeit im Freien verkrochen sich die Menschen eilends in ihre warmen Stuben, und noch lange danach zürnte die Kälte in ihren Fingern. Die Nächte waren sternenklar. Kein Fuchs bellte. Nicht mal ein Käuzchen schrie. Lautlos und abweisend erwachten die Tage. Die Schöpfung schien den Atem anzuhalten. Einzige Lebenszeichen waren kleine Rauchsäulen, die sich aus den Kaminen der eingeschneiten Häuser in die beissende Luft schlängelten. Es gab auch keine Nähe mehr. Was bis anhin zu Fuss ohne grosse Schwierigkeiten erreichbar war, schien nun unendlich weit, ja so-gar unmöglich.
Hart an einen überhängenden Felsen gebaut, stand die kleine Alphütte von Christian, in der er zusammen mit ein paar Ziegen ganzjährig haus-te. Im Sommer musste für den Weg ins Tal mit einer guten Stunde Geh-zeit gerechnet werden. Bei diesen Verhältnissen war an einen Abstieg nicht zu denken. Ermattet lag der Einzelgänger in der dämmrigen Stube auf der Ofenbank. Seit Tagen hatte er Fieber und hustete fast ununter-brochen. Zwischendurch stand er auf und ging über den nackten Holzbo-den, um einen Armvoll Holz in den Schober, damit wenigstens der Ofen warm blieb. Viel mehr konnte er nicht tun. Seine Küchenvorräte waren fast zu Ende gegangen. Ausser Kräutertee, ein paar Löffel Honig und Essig für die Wickel, die das Fieber ein wenig senkten, war nichts vor-handen, was ihm Linderung verschaffen würde.
An einem frühen Morgen, als er nur noch röchelte, fasste er trotz der Gefahr den verwegenen Entschluss, den Doktor aufzusuchen, um Medi-kamente zu holen. Der Winter zog weiterhin alle Register und überdeckte den ganzen Landstrich erneut mit seinen kalten Daunen. Als Christian, dick eingemummt und mit geschultertem Rucksack, nach den Ziegen schaute, die er für die nächste Zeit versorgt glaubte, meckerten diese, als wären sie mit seinem Vorhaben nicht einverstanden. Ohne ernsthafte Zwischenfälle sollte er bis am Abend wieder zurück sein, dachte er.
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, ergriff ihn die garstige Kälte. Eisiger Wind und aufwirbelnde Schneefahnen nahmen ihm Atem und Sicht. Mühsam pflügte er sich durch das mannshohe Weiss. Er war seit zirka drei Stunden unterwegs, und hatte noch nicht einmal die halbe Wegstrecke hinter sich, als er sich in einer Mulde unter einem Felsbro-cken eine Verschnaufpause gönnte. Der Frost lockte das Leben, sich nie-derzulegen und einzuschlafen. Christian wusste, dass Verweilen den Tod bedeuten konnte. Also stand er wieder auf und kämpfte sich aus der Todeslockung weiter talwärts. Auch die Lawinengefahr stieg mit dem wachsenden Tag stetig an. Es galt daher keine Zeit zu verlieren, denn die gefährlichste Hangquerung stand ihm noch bevor. Einen anderen Weg gab es nicht. Die Vorstellung, von Schneemassen begraben zu werden und ersticken zu müssen, gehörte, seit er denken konnte zu seinen Ur-ängsten.
Lawinen kündigen sich oft durch Risse und Vibrationen in der Schneede-cke oder dumpfe "Wumm"-Geräusche beim Betreten oder Befahren des Hanges an. Christian kannte diesen Laut, der einen trotz der Gedämpftheit durch Mark und Bein fährt. Sein Vater hatte ihn schon in jungen Jah-ren auf viele Ausmärsche mitgenommen und ihn mit den Gefährdungen in den Bergen vertraut gemacht, bis er eines Tages von einer Strahler-tour nicht mehr zurückkam.
Am Rand eines schmalen Buschwäldchens stand Christian vor der unbe-rührten Lawinenschneise. Gespannt, bis zu den Hüften im Schnee steckend, bahnte er sich Schritt um Schritt vorwärts in den Steilhang. Zwi-schendurch hielt er den Atem an, um sich damit vermeintlich leichter zu machen. Weit kam er nicht. Plötzlich, ohne eine Vorwarnung, rutschte der Boden unter seinen Füssen weg. Er kam zu Fall und versuchte sich reflexartig irgendwo festzuklammern. Vergeblich. Nirgends gab es einen Halt. Alles schien in Bewegung. Unaufhaltsam schlitterte er mit dem los-getretenen Schneebrett in die Tiefe. Die Fahrt wurde immer schneller. Mit rudernden Armbewegungen versuchte sich Christian an der Oberflä-che zu halten. Doch immer wieder spülte es ihn unter die wallende Masse und drohte ihn zu erdrücken. Auf einmal fühlte er sich leicht und befreit. Die Lawine, die ihn mitriss, sprang wie aufgebrachte Gischt über eine Felskante und ergoss sich stiebend einige duzend Meter in ein Tobel.
Wie still es ist, sinnierte Christian. Kein Laut drang an sein Ohr. Er wollte sich bewegen, konnte aber nicht einmal einen Finger krümmen. Wie ein-betoniert stak er im zusammengepressten Schnee. Bruchstückhaft erin-nerte er sich an das Vorgefallene. Im Grunde war es Wahnsinn gewesen, bei diesen Wetterverhältnissen den Abstieg ins Tal zu wagen. Die Erfahrung hätte ihm sagen müssen, dass er dabei ein viel zu hohes Risiko ein-ging.
Ob ihn jemand vermisste? Der Gedanke an Hilfe mobilisierte neue Kräfte in ihm. Aber das Bewusstwerden seiner bedrohlichen Lage entmutigte ihn schnell wieder. Mit einer Rettung vom Tal her konnte er nicht rechnen. Sicher wusste niemand von diesem Unglück. Selbst wenn sie es wüssten und eine Rettung versuchten, wäre es hoffnungslos. Sie kämen zu spät. Eine lähmende Angst breitete sich in ihm aus.
Christian spürte, wie sein Körper allmählich erkaltete und gefühllos wurde. Die Luft im Hohlraum, der sich beim Aufprall zwischen Achsel und Kopf gebildet hatte, wurde knapper. Das Atmen fiel immer schwerer. Seine Gedanken verloren sich nach und nach im Nichts. Gegenwart, Idee und Wunsch starben.
Auf einmal war alles leicht. Es war wie ein Traum vom Fliegen. Nur hörte dieser Traum nicht auf. Er schwebte über dem Lawinenkegel und sah sich gleichzeitig dort unten, tief im Schnee vergraben. Wie ist das möglich, dachte er, die ganze Zeit über versuchte ich mich zu befreien und hatte nicht die geringste Chance. Auch die Angst war verschwunden. Alles Schwere blieb unter ihm. Ein grosses Licht stand jetzt über den Bergen, die er mühelos überwand. Es zog ihn an, wie eine lang ersehnte Heimat.
Bedrückende Stille
Müssiggang kannte sie nicht. Um sie herum musste immer etwas laufen. Ihre Agenda war randvoll. Beruflich als Abteilungsleiterin eines grossen Unternehmens, nebenbei als Gemeinderätin oder als Aktivmitglied ver-schiedener Vereine, überall war sie mit vollem Einsatz dabei. Anfang Herbst dann unvorbereitet die Hiobsbotschaft. Die Firma, in der sie seit mehreren Jahren arbeitete, ging in Konkurs. Der Betrieb wurde unver-züglich eingestellt. Die Kündigung traf sie wie ein Schlag.
Die erste Zeit ohne Stelle war sie noch optimistisch und mit viel Amtli-chem beschäftigt. Doch schon bald einmal fehlte ihr der gewohnte Alltag. Sie vermisste die Tagesstruktur – und die Gewissheit, dass sie gebraucht wurde. Trotz aller Bemühungen blieb sie arbeitslos. Am schlimmsten für sie war die unbekannte Ruhe. Auf einmal war es um sie still, als sei kein Leben mehr vorhanden. Es kam ihr vor, als hülle sich alles in Schweigen. In der Folge traten psychosomatische Beschwerden auf. Sie litt unter Minderwertigkeitskomplexen, verfiel in Resignation. Nach und nach iso-lierte sie sich und verlor ihr soziales Netz. Ohne Boden unter den Füssen konnte sie auch ihre Nebenämter und Freizeitaktivitäten nicht mehr aus-üben. Letztlich brannte sie aus.
Je näher Weihnachten rückte, desto beengender wurde für sie die Stille. Früher überbrückte sie die besinnliche Zeit, indem sie sich in ein noch höheres Arbeitspensum stürzte, Weiterbildungskurse besuchte, Anlässe organisierte oder Geschenke für irgendwen einkaufte. Nur keine Ruhe aufkommen lassen, kein In-sich-Hineinhorchen. Es könnten ungewohnte Gedanken aufsteigen, seltene Bilder erscheinen, fremde Gefühle entste-hen. Vielleicht würde auch das Herzklopfen spürbar werden und der Druck auf der Brust oder die Last auf den Schultern. Möglich auch die Befürchtung, Lebens-Leerlauf könnte ihr hier höhnisch ins Gesicht lachen oder Lebens-Unruhe würde sich hier offenbaren. Und was würde gesche-hen, wenn sie tatsächlich einmal zuhause wäre, wenn sie sich selbst besuchte?
Als Opfer ihrer dauernden Arbeitslust kam sie allein nicht mehr aus ihrem Tief. Mit ärztlicher Hilfe lernte sie, dass bei allem Engagement die erho-lenden Unterbrechungen nicht vergessen werden dürfen, um die Energie-tanks wieder aufzuladen. Es war nicht einfach, sich nach all den geschäf-tigen Jahren eine ruhigere Verhaltensweise anzueignen. Je intensiver sie sich in der Folge mit sich selbst beschäftigte, in die Mitte ihres natürlichen Seins rückte, den scheinbaren Verpflichtungen einen anderen Stellenwert beimass, ihrem Denken und Fühlen den unverfälschten Lauf liess, desto mehr freute sie sich auch wieder auf den Rhythmus der Jahreszeiten und dem damit verbundenen Brauchtum. Bald darauf hatte sie sich wieder fest im Griff, fand eine neue Anstellung und musste künftig weder durch die besondere Zeit des Jahres hasten noch dem Zauber der Stille auswei-chen.
Der Stadtstreicher
Die halbe Stadt kannte seine Wenigkeit, die allen und überall zu viel war. Seine Lebensweise passe nicht in die heutige Gesellschaft, hiess es. Schlief er unter einem Brückenbogen, verjagten ihn die Ordnungshüter. Verkroch er sich in irgendeinem Schuppen, musste er vor dem Besitzer auf der Hut sein. Suchte er eine geordnete Bleibe, kehrten ihm die An-wohner den Rücken zu. Und wenn er sich um eine Anstellung bewarb, belächelten ihn die Arbeitgeber und wiesen ihn ab.
Trotzdem blieb er immer friedfertig, kam nie wegen grober Fahrlässig-keit mit dem Gesetz in Konflikt. Auch die Kinder hatten keine Angst vor ihm.
Sie waren es auch, die Kinder, die ihn am Weihnachtsmorgen fanden. Zusammengekrümmt lag er in einem Hinterhof. Erfroren. Jetzt, da er keiner Hilfe mehr bedurfte, war er plötzlich der Mittelpunkt. Blaulicht und Sirenen wurden eingeschaltet; Polizisten riegelten das Quartier ab; ein Heer von Ärzten bemühte sich vergebens, ihn wieder unter die Lebenden zu bringen; im Sozialamt spuckten programmierte Drucker die wenigen Daten seiner Identität auf blütenweisses Papier; Tageszeitungen setzten seinen Tod als Schlagzeile auf die Titelseiten; die halbe Stadt, die ihn kannte, redete nun von ihm. Und alle, sogar die unvermeidlichen Gaffer, waren empört darüber, dass ein Mensch inmitten dieser wohlstandsorien-tierten Zeit, dazu in der Christnacht, derart kümmerlich zu Grunde gehen muss.
Der Weihnachtsengel
In der Adventszeit steht ein Weihnachtsengelchen an einer belebten Ecke in der Altstadt. Es ist ein kleines Mädchen, das den Passanten in Seiden-papier eingewickelte Bonbons entgegenstreckt. In der Meinung, dass es sich um ein Bettelkind von organisierten Banden handelt, machen die meisten Leute einen Bogen um das Mädchen. Nur ab und zu erkennt je-mand, dass das freundlich lächelnde Engel-Mädchen nicht bettelt, sondern etwas schenken will.
Nach mehr als zwei Stunden ist das Säckchen mit den Süssigkeiten noch fast voll. Trotzdem verliert das Kind nicht den Mut und bietet den Vorbei-gehenden weiterhin seine Bonbons an. Als ein kleiner Bub endlich ein Bonbon annimmt, nimmt es ihm die Mutter wieder aus der Hand und wirft es einige Meter weiter achtlos weg. Dann nähert sich dem Mädchen eine lautstarke Gruppe von Jugendlichen. Einer von ihnen reisst ihm grob das Säckchen aus der Hand und prahlt damit vor seinen Kumpanen. Das kleine Mädchen zittert vor Angst und fängt an zu weinen.
Als der eine unter lautem Gelächter den Inhalt an die Gefährten verteilen will, greifen zwei beherzte Damen ein. Ein kühner Griff und schon hat die Ältere das Säckchen in der Hand. Als sich ein anderer der Frau drohend nähert, tritt deren jüngere Begleiterin dazwischen, schaut ihn an und sagt: „Eine grossartige Leistung, einem kleinen Mädchen etwas zu steh-len.“ Als auch andere Erwachsene eindeutig Stellung beziehen, ziehen die Burschen murrend ab.
Als die ältere Dame dem völlig verstörten Kind das Säckchen zurückgibt und es fragt, wer sie sei und woher sie komme, antwortet es in gebro-chenem Deutsch, sie heisse Mariana und komme aus Rumänien. Als vor einem Jahr ihre Mutter starb, sei sie mit ihrem Vater in diese Stadt ge-kommen. Und weil es ihnen hier viel besser gehe als zu Hause, wollte sie als Dankeschön den netten Leuten eine Weihnachtsfreude machen.
Und siehe da, plötzlich baten alle Zuhörenden das Mädchen um ein Bon-bon. Als das Säckchen in kurzer Zeit leer war, strahlte das selbstlose kleine Weihnachtsengelchen vor Freude. Auf eindrückliche Weise wurde den Umstehenden bewusst, was den eigentlichen Sinn von Weihnachten ausmacht.
Ein neuer Weg
Als alles in der nächtlichen Stille lag, der wallende Nebel die verschneiten Bäume, die Wiesen und Äcker zu verschlingen drohte, sass sie am Fens-terchen im kleinen Stübchen. Den Kopf an die Scheibe gelehnt, schaute sie selbstversunken in die scheinbar undurchdringliche Trübe. Schritt für Schritt tastete sie mit ihren Augen den Weg voraus, und sie wünschte sich nichts, als diesen Weg gehen zu können. Nur dieses eine Mal noch, dachte sie, dass ich mit der Dorfgemeinschaft die Christmette feiern könnte - und nicht allein wäre. Vieles hätte sie darum gegeben. Dieser Wunsch wuchs in ihr so stark an, dass sie unweigerlich die Hände auf die Armlehnen stützte und vom Rollstuhl aufzustehen versuchte. Doch ach -, wie schnell holte sie die Realität wieder ein. Mit einem Seufzer liess sie sich in ihr Fortbewegungsgerät fallen und senkte den Kopf. Wäre nicht der dichte Nebel, würde sie über dem schwarzen Wald den hellen Wider-schein der vielen Kerzen sehen, welche am Heiligen Abend ihr warmes Licht aus der kleinen Kapelle verbreiteten. So aber blieb ihr auch dieser Zauber verborgen.
Warum hatte dies alles passieren müssen? Wieso musste ausgerechnet sie dieser fatalen Sekunde unterliegen, nach der ein ganzes Leben blitz-artig verändert wurde? Fragen über Fragen. Doch anstelle einer Antwort blieb ihr jeweils nichts anderes übrig als die Tränen fortzuwischen und sich zu sagen, irgendwie müsse es auch so weitergehen. Bis vor kurzem hatte die Mutter für alles gesorgt. Die immer wiederkehrenden Schick-salsschläge aber hatten sie zermürbt. Sie war des Lebens müde und ihr krankes Herz zu schwach, um das karge Dasein auf dem abgelegenen Hof weiterhin ertragen zu können. Nun ruhte ihr Körper unter dem frischen Grabhügel im kleinen Gottesacker neben der Kapelle. Sie musste ihrem Tod furchtlos begegnet sein, denn ihr Antlitz war entspannt und ein angedeutetes Lächeln stand um ihre Mundwinkel als sie gestorben war.
Auch mit diesem endgültigen Abschied rang sie - und musste ihn dennoch hinnehmen können. Sie fragte sich, wie lange man sie noch allein gewähren liess im alten Haus, das in keiner Weise den Bedürfnissen einer Behinderten entsprach.
Ein Geräusch, wie wenn jemand im Hause umherging, liess sie aufhor-chen. Ob die Nachbarin, die ihr oft hilfreich zur Seite stand, noch vorbei-schaute? Sie drehte den Kopf zur Tür und wartete darauf, dass sie ein-trat. Ausser der bedrückenden Stille, die sich ausbreitete, geschah nichts. Dann, fast unmerklich wurde die Türklinke nach unten gedrückt und die Türe aufgestossen. Der Strahl einer Taschenlampe geisterte durch den Raum. In die dämmrige Kammer hinein fragte sie, wer da sei. Augen-blicklich erlosch die Lampe. Wieder trat Stille ein und erneut kam ihre Frage, wer denn da sei. Keine Antwort. Obwohl sie nie feige war, bekam sie nun doch Angst. Wie sollte sie sich wehren, wenn ihr jemand Gewalt antun wollte? Sie ergriff die Zündholzschachtel auf dem Tisch und ent-fachte ein Streichholz. Mit zitternder Hand zündete sie die Kerze an. Ir-gendwer stand in der Türöffnung, machte kehrt und lief davon. Halt, rief sie scharf. Bleiben sie stehen und zeigen sie, wer sie sind. Die Bestimmt-heit in ihrer Stimme liess die Gestalt verharren. Dann drehte sich diese um und kam langsam auf sie zu. Im flackernden Kerzenschein stand ein junger Mann vor ihr. Was er hier suche und warum er nicht wie andere Leute anklopfen könne, fragte sie ihn immer noch erregt. Er habe Hun-ger, bekam sie zur Antwort. Hunger sei noch lange kein Grund, um in ein fremdes Haus einzudringen, fügte sie darauf hinzu. Das sage sich leicht, entgegnete er, doch wenn kein Geld vorhanden sei, müsse man sich eben auf andere Weise durchschlagen. Sie kenne keine Arbeit die nicht irgendwie entgeltet werde, erwiderte sie. Wenn man Arbeit habe, stimme er dem zu. Wenn nicht, könne es passieren, dass man den rechten Weg verliere. Zudem sei es im ganzen Haus dunkel gewesen, daher habe er angenommen, dass niemand anwesend sei. Auch hätte er nie erwartet, hier jemanden im Rollstuhl anzutreffen. Ob es leichter sei, im Dunkeln fremdes Gut an sich nehmen, als mit redlich verdientem Geld das zu er-werben, was man brauche, fragte sie, während sie ihm direkt in die Augen sah. Verlegen wendete er den Blick von ihr und schaute zu Boden. Er räusperte sich und sagte, es tue ihm leid. Wenn sie es damit gut sein lassen könnte, würde er nun gehen. So leicht könne er sich nicht davon machen, meinte sie. Zum einen habe auch sie noch nichts gegessen, da-her wäre sie froh, wenn er im Schuppen Holz holen und danach in der Küche Feuer machen würde. Sicher könne er das besser als sie in ihrem Zustand. Zum anderen hätte sie ein Anliegen, aber das würde sie ihm beim Nachtessen erzählen.
Die Mitternachtsmesse hatte bereits angefangen. Der Pfarrer erzählte soeben von Weihnachten, vom Fest der Liebe und der Menschlichkeit, vom Vergeben und gegenseitigen Beistand, als die schwere Eichentür aufging und in Wolldecken gehüllt die Frau im Rollstuhl vom jungen Mann in die Kapelle geschoben wurde.
Am Ende der Heiligen Messe ging der junge Mann zum Pfarrer und fragte ihn, ob er für eine wichtige Angelegenheit noch ein paar Minuten Zeit hätte. Zeit hätte er immer, entgegnete ihm der Pfarrer freundlich und wies ihn an, ihm zu folgen.
Als er darauf in der Sakristei dem Geistlichen gegenübersass, sagte er verschämt, dass er kein Kirchengänger sei. Der andere erhob nur die Hand und meinte, sie wollen von der wichtigen Angelegenheit sprechen. Dann erzählte er dem alten Herrn von seinen Misstritten und die Ge-schichte, welche er an diesem Abend erlebt hatte. Zum Schluss fügte er hinzu, dass er einen neuen Weg einschlagen werde, vorher jedoch für den bisherigen geradestehen wolle. Und wenn der Herr Pfarrer nun die Sache in die Hand nehmen könnte und das Notwendige in die Wege leiten würde, wäre er dafür sehr dankbar. Keine Moralpredigt, nur ein klares Wort und ein verständnisvoller Blick aus dem guten, faltigen Gesicht be-endeten das nächtliche Gespräch.
Vor dem Ausgang wartete die Frau im Rollstuhl auf den jungen Mann. Langsam verliessen sie zusammen die Kirche und verschwanden kurz darauf im einsetzenden Schneetreiben.
Ein Stern ging auf
Unter jedem Schritt knarrte die erstarrte Erde. Heulend fuhr der Sturm übers Land und peitschte dem einsamen Wanderer Graupeln ins Gesicht. Obwohl er die Kapuze über den Kopf gezogen hatte, war sein Bart steif gefroren. Schon seit den ersten Morgenstunden war er unterwegs. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Aber eine Höhle oder ein schützendes Dach fand er bis anhin nirgends. Nicht mal einem Baum ist er begegnet in dieser unwirtlichen Gegend. Soeben wollte er die Bürde Holz die er mit sich trug abwerfen und sich ausruhen, da gewahrte er durch das Gestöber einen halb zerfallenen Stall. Er schritt darauf zu und trat durch den windschiefen Eingang in die Hütte. In der Ecke hockte eine junge Frau am Boden und hielt ein Bündel in den Armen, aus dem es leise wimmerte. Sie schien zu schlafen. Sachte rüttelte er sie an der Schulter. Ohne dass sie erschrocken wäre, öffnete sie die Augen.
Er sagte nur, gleich werde es warm werden. Wärme sei das Wichtigste.
Sie nickte, während der Anflug eines Lächelns über ihr blasses Gesicht huschte.
Als das Feuer knisterte, schnürte er den Rucksack auf, packte daraus einen Topf, den er mit Schnee füllte und auf die Glut stellte.
Halb träumend verharrte sie immer noch regungslos in der gleichen Hal-tung.
Ob sie in ihrer schweren Stunde allein gewesen sei, fragte er.
Wieder nickte sie.
Wann?
In der vorigen Nacht.
Weshalb hier?
Er wollte kein Kind - habe sie fortgeschickt. Sie habe nicht gewusst wohin, sei einfach gelaufen und gelaufen bis sie zu diesem Stall gekommen sei, antwortete sie leise.
Noch jung!
Erst siebzehn.
Und Ihre Eltern?
Habe sie nie gekannt.
Waisenhaus?
Mmhh.
Und nun, wie weiter?
Sie zuckte mit den Achseln.
Aus einem Säckchen schüttete er eine Kräutermischung in das heisse Wasser. Dann füllte er einen Blechnapf und reichte ihn ihr hin. Zaghaft schlürfte sie die kräftige Brühe.
Ob es ein Junge sei, fragte er.
Nein, ein Mädchen.
Und gesund?
Sie glaube schon.
Und sie selbst?
Es sei alles so schnell gegangen, aber sie fühle sich nicht schlecht.
Dann sei es gut, sagte er.
Mit einem Mal wurde es draussen hell. Bedachtsam trat der Mann vor die Tür und spähte verwundert zum Himmel. Es schneite immer noch. Aus einem Wolkenfenster jedoch glänzte ein Stern und warf seinen flim-mernden Schein auf die schüttere Hütte. Wortlos räumte er seine Sachen zusammen.
Ob sie gehen könne?
Sie glaube schon.
Er half ihr langsam aufzustehen und stützte sie. Sieben Kinder hätten sie, sagte er. Nun wären es neun. Und das sei ihm recht so. Auch seine Frau würde dieser Meinung sein.
Wortlos nahm er die junge Mutter, die das Bündel an die Brust drückte, bei der Hand. Danach zogen sie gemächlich los. Kurze Zeit später ver-schmolzen sie mit dem Dunkel der Nacht. Der Stern aber wanderte über ihnen mit und leuchtete ihnen heim.
Heilendes Mitgefühl
In der Weihnachtszeit war eine junge Frau wegen erneutem aggressivem Verhalten inhaftiert worden. Die Therapeutin wurde vor der Gefährlich-keit der Schlägerin gewarnt und dürfe daher auf keinen Fall allein die Zelle betreten. Durch die Türöffnung sah sie, wie die Festgenommene verkrampft vor sich auf den Boden starrte. Die Betreuerin liess die Zel-lentür öffnen, ging allein auf die Frau zu und nahm sie sanft in die Arme. Da sank diese in sich zusammen, begann zu weinen und sagte nach einer Weile: „Das ist das erste Mal, dass mich jemand umarmt hat.“
Traurige Weihnachten
Alles war künstlich: der Weihnachtsbaum, die Kerzen, die Freude... Kein liebes Wort, kein Ton von „Stille Nacht“. Dafür ein Videofilm mit lauter Pop-Musik, um Fragen und traurigen Kinderaugen auszuweichen. Das Fest der Liebe, verkommen zur plumpen Abendunterhaltung. Sogar der Hund verkroch sich.
Wenn sie ihn angesehen hätten, den Sechsjährigen, würden sie gemerkt haben, dass er weinte. Aber es kümmerte sich niemand um ihn.
Sonst würden sie gesagt haben: Ein so grosser Junge weint doch nicht, weil seine Eltern sich scheiden lassen. Du bleibst nicht allein. Dein kleiner Bruder ist schliesslich auch noch da.
Am nächsten Morgen haben sie ihm den kleinen Bruder weggenommen. Nur für ein paar Tage, sagten sie. Obwohl sie wussten, dass es anders war.
Als sie ihn fragten, ob er lieber bei seiner Mutter oder bei seinem Vater bleiben möchte, fing er wieder an zu weinen. Er verstand nicht, warum Eltern so etwas fragen, wenn man beide gleich liebhat.
Weihnachten im Gefängnis
Wie es dazu kam, weiss ich selbst nicht mehr genau. Nach Arbeitslosig-keit, Saufgelagen, Schulden, Trennung war es nur eine Frage der Zeit, bis ich wegen eines Betrug Deliktes in den Strafvollzug kam. Nun bin ich bereits die dritte Weihnacht im Gefängnis. Viel davon spürt man hier nicht. Der Anstaltsrhythmus nimmt keine Rücksicht auf Feiertage. Weih-nachten verläuft im Alltagstakt: Sieben Uhr Frühstück, 11.30 Uhr Mittag-essen, 17 Uhr Abendessen, 21 Uhr Lichterlöschen. Die Eintönigkeit in der Zelle wird durch einen Spaziergang im Freien unterbrochen. Zudem kön-nen sich die Gefangenen für Gespräche zwei Stunden in einen Gemein-schaftsraum zusammenfinden. Das Essen fällt etwas üppiger aus. Unter der Decke im Speisesaal, in zirka sechs Metern Höhe, hängt ein Advents-kranz. Man muss den Kopf schon weit in den Nacken legen, um ihn dort oben zu bemerken. Zwischen den Gittern in der Halle ist eine kleine Krippe aufgestellt. Vor dem Überwachungsraum steht ein Weihnachtsbaum, ein zweiter im Innenhof der Anstalt – für den Freigang und für den Blick durchs Gitterfenster. Die kalte Atmosphäre des Gefängnisses lässt sich damit nicht gross aufwärmen. Und das ist gut so. Zu viel Weihnachten wäre für mich als Gefangener kaum auszuhalten. Die Emotionen gehen zu tief. Ich könnte die Gemütsbewegungen schwerlich auffangen. Zu kei-nem anderen Zeitpunkt des Jahres spüre ich die Unfreiheit in diesen Mauern so stark wie in dieser Zeit. Die Sehnsucht nach dem, was Weih-nachten für die Menschen bedeutet, ist hier drinnen genauso gross wie draussen. Familie, Geborgenheit, Besinnung – eine Sehnsucht, die auch in der Zelle nicht von mir abprallt. Doch es ist schwer, Gefühle wie Glück oder Harmonie aufkommen zu lassen. Einklang kann hier gefährlich wer-den. Wie gerne wäre ich bei meinen Angehörigen, d.h. in Freiheit. Briefwechsel und Besuche sind gestattet. Wer aber will schon mit einem Straftäter etwas zu tun haben. Da verschiebt sich die unterschwellig spürbare Stimmung gerne in Richtung Aggressivität. Die Rückschau in die eigene Vergangenheit sowie die vermittelten Eindrücke von einstigen Weihnachten frustrieren mich. Die Wirkung eines oberflächlichen inneren Friedens ist sehr riskant. Ich würde etwas anstossen, aber damit nicht fertig werden. Daher lebe ich hier auch nicht in Erwartungen an die Zukunft, sondern vor allem im Hier und Jetzt. Ich bin froh, dass ich tags-über Beschäftigung habe. Ohne Arbeit wäre es schlimm.
Am Heiligabend findet eine Art Weihnachtsfeier im Mehrzweckraum statt. Der Stuhlkreis wirkt fast befremdend. Muskelbepackte Oberarme und Tätowierungen sind in der Überzahl. Auf dem Boden ziehen sich die Linien des Handball-Feldes. Das Kreuz an der Wand und der Gefängnispfarrer darunter sind Mittelpunkt. Wer teilnehmen will, schreibt einen Antrag und wird von der Anstaltsleitung ausgewählt. 25, für mehr ist kein Platz. Ab einer CD werden Weihnachtlieder gespielt. Mitsingen ist erlaubt. Zwi-schendurch liest der Priester die Weihnachtsgeschichte. Wer die Feier stört, muss mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen. Wenn es auch keine Christmette ist, wie sie draussen geschieht, spürt man doch, dass keine Mauer zu dick ist, dass die Frohe Botschaft von Christi Geburt sie nicht durchdringen könnte. Doch sind es vielleicht weniger die Mauern, die durchdrungen werden müssen als vielmehr die Herzen, die sich auf Abwegen befinden.
Rückblende
Gemütlich, am Kamin sitzend, las sie interessiert einen Artikel zum The-ma Krankheit, Alter und Reife. Die Beschreibung faszinierte sie, weil sie viele Parallelen mit ihrer eigenen Vergangenheit aufwies. Sie legte die Zeitschrift beiseite und sann darüber nach, wie es sich damals bei ihr zugetragen hatte, als sie noch nicht bereit war, auf ihre innere Stimme zu hören, sich noch nicht von der Hoffnung beseelen liess und daher den Silberstreif am Horizont nicht sah, der ihr in ihrer schwierigen Lebenssitu-ation Halt geben konnte.
Nach jahrelangem Einsatz, viel Arbeit als alleinerziehende Mutter dreier Kinder, merkte sie, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse mehr und mehr eine andere Richtung nahmen. Immer schon standen für sie der Mensch und die Natur im Mittelpunkt. Sie respektierte alles und jeden und gab sich Mühe, nichts und niemanden unnötig zu belasten. Als die Kinder aus dem Hause waren und ihre eigenen Wege gingen, fasste sie den Ent-schluss, neben ihrer Halbtagesanstellung in einer Spedition, die Ausbildung zur Ernährungsberaterin zu beginnen. Dass dies im fortgeschrittenen Alter und ohne entsprechende Grundausbildung nicht leicht sein würde, war ihr bewusst. Sie war inzwischen 52 geworden. Daher gab sie sich min-destens ein halbes Jahr Zeit, um sich neu zu orientieren, aber auch, um ihren Rückenschmerzen nachzugehen, die sie seit längerer Zeit plagten.
Doch da hatte sie etwas in Bewegung gesetzt, was sie nicht kannte. Ihr Körper, der bis anhin immer recht funktionierte und an Beachtung nicht gewöhnt war, hatte die Gelegenheit ergriffen und ihr seinen Bedarf unmissverständlich klar gemacht. In der Folge hatte sie ihren Körper zu allen möglichen Spezialisten, Therapeuten und auch Kurpfuschern getra-gen. Dafür nahm sie jeden Weg in Kauf und bezahlte dafür Unmengen von Geld. Die Schmerzen aber nahmen zu. Vermehrt blieb sie ihrer Ar-beit fern und verlor deswegen nach einem halben Jahr die Stelle. Um ein bisschen Geld zu verdienen, nahm sie hier eine Stelle im Haushalt und da eine Tätigkeit in einer Reinigungsfirma an, alles typische, schwere Frau-enarbeiten, und daher auch schlecht bezahlt. Intensiv suchte sie nach einer leichteren Arbeit. Ihre Vielseitigkeit und ihre Erfahrungen interes-sierten aber höchstens am Rande. Meistens wurden Jüngere mit höheren Qualifikationen gesucht. So fiel ihr Selbstwertgefühl langsam, aber sicher auf einen Tiefpunkt. Aber sie war noch nicht bereit, sich mit ihrer Ge-schichte zu befassen. Auch, dass ihre Gebresten etwas mit dem Älter-werden zu tun haben könnten, wollte sie nicht wahrhaben. Sie hatte als junges Mädchen viel durchlitten, schliesslich ein Leben lang hart gearbei-tet, für ihr Recht gekämpft und die Kinder zu anständigen Menschen er-zogen, dafür beharrte sie darauf, vom Schicksal etwas zu gut zu haben. Ihr Körper kümmerte sich aber nicht um ihre Meinung. Er wollte gespürt werden - und sonst nichts. Inzwischen hatte sie immer mehr das Gefühl, ihr Rücken breche im Kreuz auseinander. Oft meinte sie zweigeteilt zu sein und spürte sich nicht mehr als Einheit. Hartnäckig versuchte sie der Unbill des Lebens zu widerstehen. Was blieb ihr auch anderes übrig als ältere alleinstehende Frau ohne Anstellung und bei schlechter Finanzlage. Den Kindern verheimlichte sie ihr Leiden und ihre Situation, wollte alles wie bis anhin allein durchstehen. Hilfe anzunehmen wäre beschämend für sie gewesen. Eine Bekannte überredete sie für einen Malkurs. Das war wunderbar, hier konnte sie sich entfalten und ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Ihre Probleme aber wurden dadurch nicht gelöst. Immer mehr verkroch sie sich in ihrer Wohnung, rebellierte schweigend gegen ihr Los und getraute sich nicht, an ihr Innerstes zu rühren, aus Angst, noch ver-letzlicher zu werden. Den Sommer über arbeitete sie in einer Gärtnerei, schaffte es aber nur noch mit Schmerzmitteln. Am Abend war sie jeweils erledigt und fragte sich oft, wozu sie überhaupt noch leben sollte.
Als sie sich nach Feierabend wieder einmal nach Hause schleppte, begeg-nete sie einer stark körperlich behinderten Bäuerin. Von ihr erfuhr sie, wie es die über achtzigjährige Landfrau fertigbrachte, ohne Verbitterung mit ihrer Krankheit umzugehen, und dass sie sich trotz des hohen Alters immer noch auf Feld und Hof nützlich einbringen konnte.
Seit sie erkannt habe, erzählte die Bauersfrau, dass ihre Gebrechen Aus-druck ihrer Persönlichkeit seien, halte sie sich an den Spruch von Albert Einstein der gesagt hat, wer keinen Sinn im Leben sehe, sei nicht nur unglücklich, sondern kaum lebensfähig. Dieser Erkenntnis stimme sie vollends zu. Daher suchen wir, oft Zeit unseres Lebens, nach einem Sinn. Dabei scheine zunächst jeder mit der Ungewissheit allein zu sein, denn unser Streben nach Einmaligkeit verlange auch eine eigene Sinnfindung. Zudem beobachte sie die Natur und versuche so viel wie möglich daraus für sich zu gewinnen: nichts erzwingen, keine Schuldigen suchen, das Geschick so annehmen, wie es einem zugedacht sei und vor allem die eigenen Kräfte nicht überfordern. Geduld und Ausdauer brauche es dazu. Als sie sich trotz allen Widrigkeiten wieder der Natur zuwenden konnte, die Blumen ringsum bestaunte, den Gang durch die Wiesen genoss, sich an den Vögeln in den Zweigen erfreute und dem Wind in den Wipfeln zu-hörte, gelangte sie wieder in ihre Mitte und spürte, welch unermessliche Güte und Gerechtigkeit über allem walte, die sie im Schmerz aus den Augen verloren habe. Um sich wirksam helfen zu lassen, fuhr die Bau-ersfrau fort, musste sie lernen, sich zu öffnen und sich ehrlich mitzuteilen. Vieles verlor dadurch an Schwere und so konnte sie sich mit der Zeit selbst geben, was sie brauchte. Je schwerer das Leid einen Menschen drücke, desto mehr brauche es Mitmenschen, die mittragen, damit wie-der Lebensmut und Zuversicht die Oberhand gewinnen. Doch kann nur dort mitgetragen werden, wo es auch zugelassen wird. Kämpfe nicht gegen das was ist, stärke das Annehmen, habe sie sich gesagt. Mancher Leidensweg sei lang, aber wenn der Schmerz tapfer überwunden werde, verwandle sich alles Erlittene zur Kraftquelle. Auch wenn der Schmerz ein Rätsel sei, verdiene er unsere Aufmerksamkeit und unser Mitgefühl. Da-für ermögliche er, sich ganz zu spüren und sich selbst zu leben. Die Fra-ge nach dem Warum des Schmerzes verfinstere und verbittere. Aufleh-nung gegen das Unabwendbare schwäche. Schmerz sei Reifung und wolle angenommen werden, und Reifung geschehe durch Herausforderung, und Herausforderung sei Suche, denn in der Suche sei Hoffnung. Sie ha-be das Wunder erlebt, dass aus ihrer Hoffnung Zuversicht wurde, die sie brauchte, um Probleme zu lösen, die Zukunft zu gestalten und ihr Leben in die Hand zu nehmen. Dann wurde ich ruhig, fühlte mich getragen und konnte wieder handeln - kurz, ich lebte wirklich, sagte sie zum Schluss und verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln.
Quellenverzeichnis
Der gläserne Eiszapfen
Stark verändert nach Georg Birner, Die Christbaumkugel.
Die Fensterstunde
Stark verändert und gekürzt, www.k-l-j.de/kgeschichte_35.htm.
Die Platzverwechslung
Stark verändert. Genaue Quelle unbekannt.
Lawinengefahr im Pflegeheim
Stark verändert. Genaue Quelle unbekannt.
Der unbekannte Bruder
Stark verändert. Genaue Quelle unbekannt.
Heilendes Mitgefühl
Stark verändert und gekürzt aus: „Verwandelnde Liebe“ Seite 26, in Willi Hoffsümmer (Hg.), Kurzgeschichten 3. 244 Kurzgeschichten für Gottes-dienst, Schule und Gruppe, Ostfildern 2014, S. 26.
Der Weihnachtsengel
Stark verändert und gekürzt aus: „…und sie folgten dem Stern!“, Ge-schichten, Adventlyrik & Prosa aus 20 Jahren „SALZBURGER ADVENT“, Neue Texte und Stücktexte von 2007 bis 2010, E. W. Holzmann / Ge-schichte: „Der Weihnachtsengel mit den Seidenzuckerln“.
Passion am Hausberg
Stark verändert aus: „“Passion in den Bergen, veröffentlicht im kolorit 1983, damalige Beilage zum Aargauer Tagblatt.
Schmetterlinge im Winter
Stark verändert aus: „Vollmond über Weissbad“, 13 Geschichten über die Liebe, über Augenblicke, die alles verändern, von Nicolas Lindt, Zürcher Oberland Medien AG 2013.
Haberstich, Kurt: Wenn die Eisblumen blühen – Heiteres und Besinnliches zur Weihnachtszeit. Verlagsgemeinschaft Topos plus Kevelaer, Band 1118, eine Produktion der Verlagsanstalt Tyrolia 2018, ISBN 978-3-8367-1118-0.
Haberstich, Kurt: So still ist jetzt die Zeit – Geschichten zur Weihnachts-zeit, Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck 2002, ISBN 3-7022-2471-8.
Haberstich, Kurt: Weihnachten – Zeit der Besinnlichkeit; Brauchtum, Ge-schichten und Gedanken zur Advents- und Weihnachtszeit, Weltbild Verlag GmbH, Olten 2006, ISBN 3-03812-191-6.